© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/09 18. September 2009

„Detailwissen war faktisch nicht vorhanden“
Studie über den historischen Kenntnisstand in der Oberstufe: Der Zweite Weltkrieg als Leerstelle „schulischen Geschichtslernens“
Oliver Busch

Augenblicklich, zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs am 1. September 1939, haben die Deutschen wieder einmal ein mediales Flächenbombardement zu überstehen. Wie immer, wenn sich aus dem Zweiten Weltkrieg erinnerungspolitisches Kapital schlagen läßt. 

Spätestens seit der berüchtigten Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1985 steht „das gewaltigste Ereignis der Weltgeschichte“ (Josef Joffe im Tagesspiegel vom 31. August) im Zentrum öffentlicher Gedenkrituale und bildet die Basis des singulären Massenexperiments, das kollektive Bewußtsein unserer postmodernen Gesellschaft mit allen Mitteln als Kontrastprogramm zu sechs Jahren Historie zu kreieren.

Katastrophale Ergebnisse beim historischen Sachwissen

Trotz solch gewaltigen Aufwandes entspricht das Resultat aber nicht den hochgespannten politisch-pädagogischen Erwartungen. Obwohl nämlich seit 1995, dem 50. Jahrestag des Kriegsendes, das „Gedenken“ an „Intensität“ zunahm, das „flache Land“, die Städte und Regionen erreichte, Reemtsmas Anti-Wehrmacht-Schau seit 1997 nochmals einen Schub bewirkte und auch den Geschichtsunterricht zu neuen Vermittlungsanstrengungen befeuerte, muß der Darmstädter Archivar und Geschichtsdidaktiker Thomas Lange doch „katastrophale Ergebnisse“ beim „Sachwissen“ von Schülern über den Zweiten Weltkrieg einräumen (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 6/09).

Lange hat 2005, als gerade wieder einmal (60 Jahre Kriegsende!) „nahezu täglich“ Einschlägiges „übers Fernsehen transportiert wurde“, in Darmstadt 128 Oberstufenschüler zwischen 17 und 19 Jahren nach Daten, Wissen, Einstellungen zu „WK Zwo“ befragt, die er jetzt veröffentlicht. Nur die Hälfte von ihnen gab korrekt Anfangs- und Endjahr des Krieges an. Kümmerliche elf Prozent wußten, daß 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion begann. Die chronologisch halbwegs korrekte Wiedergabe des Kriegsablaufs, den Überblick über die Kontrahenten und ihre Kriegsziele, scheint überhaupt niemand geleistet zu haben. Nur die wenigsten Schüler waren sich über die Machtausdehnung des Deutschen Reiches im klaren. „Weiteres Detailwissen über Generäle oder Militärbefehlshaber war faktisch nicht vorhanden.“ Rommels Name war 14 Prozent bekannt, der Eisenhowers 3,9 Prozent. Stauffenberg nannten zehn Prozent, weil er ihnen aus einem anderen Kontext geläufig war. Daß von Churchill und Roosevelt weniger als fünf Prozent der Befragten gehört hatten, sollte Lange indes nicht verwundern, da diese radikalen Bellizisten in der bundesdeutschen medialen und akademischen Aufbereitung des Weltkrieges traditionell eher als „Helfer der Menschheit“ denn als Warlords figurieren.

Nur in einer Hinsicht scheint die Herkulesarbeit am „Geschichtsbewußtsein“ wenigstens etwas zu fruchten. „Erfreulich“ findet Lange, daß immerhin ein Drittel seiner Probanden die am meisten ideologisierte Deutungsvariante, derzufolge der Zweite Weltkrieg gleichzusetzen sei mit „Rassenkrieg, Völkermord, Holocaust“, verinnerlicht habe. Die deutschen Opfer kämen dabei natürlich kaum noch vor: „Nur einzelne Nennungen gab es bei ‘Tötung von Zivilisten’, ‘Bombenkrieg’“. Ungeachtet dessen akzeptierten 67 Prozent die Identität von Weltkrieg und Völkermord eben nicht, und im Rahmen eines Geschichtsprojekts deutscher und polnischer Schüler muß Lange gar registrieren, wie deutsche Jugendliche ihre Vorfahren nicht als „Alleinschuldige“ am Kriegsausbruch sehen wollen.

„Beschämend wenig“ sei den Befragten auch zu den „unmittelbaren Folgen“ des Krieges eingefallen. „Teilung“ und „Besatzung“ verbanden nur ein Zehntel mit der Zeit nach dem 8. Mai 1945. Fast ein Drittel nannte das bis heute nachwirkende „schlechte Image“ der Deutschen im Ausland und das „Schuldgefühl“. Alarmierend findet Lange, daß bei 15 Prozent sich damit ein „diffuses Benachteiligungsbewußtsein“ verbinde, das sich, mit Blick auf die Profiteure des deutschen „Schuldkults“ (Heinz Nawratil), auch in „Ressentiments bis zum Antisemitismus“ äußere. Wie sich überhaupt das auch außerhalb der Schule weit verbreitete Wissen um den Völkermord an den Juden verbinde mit „schon verschwörungstheoretischen Vorurteilen“ über den anhaltenden jüdischen „Einfluß auf weltweite Ereignisse“.

Vielleicht macht sich nur eine Übersättigung bemerkbar

Wie es jenseits von der kraß reduktionistischen Gleichsetzung „Weltkrieg bedeutet Rassenkrieg“ zu dem insgesamt niederschmetternd dürftigen Kenntnisstand unter Absolventen höherer Schulen kommen konnte, vermag Lange nicht zu beantworten. „Schulisches Geschichtslernen“ sei in der Bundesrepublik durch „Übermoralisierung auf einer abstrakt-allgemeinen Ebene“ geprägt. Die Kehrseite davon könnte, so lasse sich vermuten, „distanzierte Gleichgültigkeit in konkreten Fällen“ sein. Vielleicht macht sich in Langes zwar nicht repräsentativen, aber gewiß auch außerhalb Darmstadts zu ermittelnden Zahlen einfach nur eine gewisse Übersättigung bemerkbar. Wie dem auch sei: Sand steckt im Getriebe des erinnerungspolitisch induzierten Ideologietransfers von einer Generation zur nächsten. Den Steuerzahler könnte das teuer zu stehen kommen.

Foto: Geschichtsunterricht 2009: „Übermoralisierung auf einer abstrakt-allgemeinen Ebene“

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