© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/09 11. September 2009

Reise nach Florenz
Eine Erzählung von Uta Müller

Im Raum Kassel war der Herbst hereingebrochen mit Regen und Kälte. In Bebra, wo ich vierzig Minuten auf den Intercity warten mußte, war es nur kalt. In meinem dünnen Lodencape fror ich erbärmlich. Ich überlegte, ob ich die Zeit allein auf dem zugigen, leeren Bahnsteig oder im geschützten Wartesaal unter Menschen verbringen sollte, und entschloß mich für die Einsamkeit. „Bist du verrückt?“ hatte mein Mann gesagt, als ich mich ihm zur Abfahrt gestiefelt und gespornt vorführte: im selbstgestrickten Seidenpulli und mit Wollrock. „Willst du auf Polarexpedition? In Italien ist es jetzt noch warm.“

Jetzt bereute ich, nicht einen Wollpul­lover angezogen zu haben.

Ich zog die Kapuze zusammen, raffte das lange Mantelcape so dicht wie möglich um mich und setzte mich auf eine der leeren Bänke. Gottlob steckten meine Beine in Strümpfen aus Wolle. Aber dafür waren meine Füße kalt, zum einen vor Aufregung, zum anderen aufgrund einer Konzession an meinen Mann, indem ich statt der geschlossenen Schuhe nun Sandalen trug.

Dann nahm ich im zusehends schwindenden Tageslicht den Einladungsbrief aus der Tasche und las ihn zum x-ten Male.

„Der 4.10. als Ankunftstag ist mir sehr recht. Sie kommen doch mit der Bahn? Dann vermute ich, daß Sie am Freitag in München in den 23-Uhr-Zug steigen? Der kommt gegen halb zehn Uhr in Florenz an, und ich werde am Bahnhof sein.“

Hier hielt ich – auch zum x-ten Male – inne, um mich zu erfreuen an dem Versprechen, das wie eine Verheißung klang. Das sagte mir der, der gedichtet hatte:

„Klopft nicht an meine Tür,

ich öffne nicht mehr ...“

Aber dann kamen mir wieder diese Zeilen aus einem vorangegangenen Brief ins Gedächtnis:

„Meine Frau lädt Sie herzlich ein. Sie freut sich immer, wenn jemand mich liebt.“ („Es ist jedenfalls beruhigend zu wissen, daß er eine Frau hat“, war meines Mannes Kommentar.) Vielleicht war es ja nur seine Frau, von deren Existenz ich lange nichts gewußt hatte, die mir die Tür öffnete?

Es war seit Tagen immer dasselbe: die Freude, die Ungewißheit, und schnell las ich weiter, obwohl ich die Zeilen auswendig wußte: „Da der Bahnhof mehrere Ausgänge hat, erwarte ich Sie am Ende des Bahnsteigs. Und da ich Hörrohr und Krückstock bei Abstechern in die Stadt zuhause lasse und Sie mich daran also nicht erkennen können, werde ich meine Pfeife zum Erkennungszeichen machen!“

Nein, wer so schrieb, würde seine Tür nicht verschlossen halten. Mit jedemmal Lesen wuchs meine Zuversicht. (…)

Als Lesezeichen in dem kleinen Lyrikband benutzte ich ein postkartengroßes Foto, das eine Freundin mir über die Pressestelle des Verlags besorgt hatte. Ich zog es heraus und betrachtete es. Wie selig war ich darüber gewesen. Und freudestrahlend hatte ich es meiner Familie gezeigt.

„Mensch, ist das ein Affe“, sagte mein damals neunjähriger Ältester.

„Ich finde, er sieht wie ein Höhlenmensch aus“, sagte sein um drei Jahre jüngerer Bruder bedächtig.

„Da ist was dran“, pflichtete mein   

Mann mit einem amüsierten Seitenblick auf mich bei.

„Und den will die Mama besuchen?“ fragte die fast achtjährige Tochter ernstlich besorgt.

„Immerhin hat er eine Frau, und die klingt am Telefon sehr nett“, beschwichtigte sie der Vater.

„Außerdem“, schloß die Kleine, mit einem langen Blick sich tröstend an mich wendend, „uns braucht er ja nicht zu gefallen. Hauptsache, du findest ihn nett.“

Ich verstand: Tarzan hätte ihnen mehr zugesagt.

Der Mann auf dem Foto blickte mich unverwandt an mit seinen wachen Augen und dem ironischen Lächeln.(…)

 

(Mit über einer Stunde Verspätung erreicht der Zug schließlich Florenz.)

 

… Ich stellte meine Reisetasche ab und lehnte mich an einen Eisenträger.

Das war eine schöne Geschichte!

Da stand ich nun, mit dröhnendem Kopf, schwach auf den Beinen, in der allmählich sich aufheizenden Bahnhofshalle von Florenz, gewandet in Wollrock, langärmeligen Pulli, Lodencape-Mantel – ich wußte nicht, wohin damit, drum ließ ich ihn an –, Seidenschal um den Hals und dicken Wollkniestrümpfen, und kochte trotz seelischen Kälteschocks still vor mich hin. Schweiß sammelte sich allmählich auf Stirn und Nase. Unglaublich, wie viele Pfeifenmänner es hier gab. Überall tauchten sie auf, aber keiner war der richtige.

Die Menschen, die an mir vorüberkamen, sahen mich an, als trauten sie ihren Augen nicht. Ein paar Jugendliche lachten unverhohlen. Ich kam mir unbeschreiblich dämlich vor und leistete im stillen meinem Mann mit seinem wohlmeinenden Rat Abbitte. Ein übers andere Mal wischte ich mir übers Gesicht. Schließlich knöpfte ich den Mantel auf. Die Schultertasche, die von Minute zu Minute schwerer wurde, wagte ich nicht abzulegen.

„Paß auf deine Sachen auf“, hatte mein Mann mir eingeschärft, und mittlerweile war ich bereit, ihm alles zu glauben, „die Italiener klauen wie die Raben.“

Deshalb hatte ich die Reisetasche zwischen meine Beine geklemmt, was das Stehen nicht gerade bequemer machte. Der Neuseeländer, dessen Bekanntschaft ich seit München gemacht hatte, kam mit gezücktem Reiseführer und gebeugt unter der Last seines Mammutrucksacks an mir vorüber.

„I say! Take it easy!“ rief er mir zu und verschwand in Richtung Ausgang.

Ich hatte das Gefühl, als sei ich nun erst wirklich hilflos alleingelassen. Was sollte ich tun? Ich konnte doch nicht ewig hier stehenbleiben. Vielleicht hatte er mich durch den Lautsprecher ausrufen lassen, aber die Stimme war so undeutlich, daß ich selbst reines Deutsch nicht verstanden hätte, geschweige denn Italienisch.

Mittlerweile war es elf Uhr. Ich stellte das Pfeifenmänner-Aufspüren ein. Ich mußte der Wahrheit ins Auge sehen: Er war längst nicht mehr da, hatte das Warten aufgegeben. Gottlob hatte er mir seine Telefonnummer  geschrieben, für alle Fälle. Sie stand in seinem letzten Brief.

Eben war ich im Begriff, die Schultertasche zu öffnen, als mich ein Bild durchzuckte: der Schreibtisch meines Mannes mit jenem Brief.

Es traf mich wie ein Blitzschlag: Das war es, was ich vergessen hatte – die Telefonnummer für alle Fälle, die ich mir noch hatte notieren wollen. Den Brief hatte ich zu Hause gelassen für meinen Mann, für alle Fälle!

 

Es dauerte eine Weile, bis ich mich von diesem Schock erholt hatte.

Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich das als schlechtes Omen betrachten und stehenden Fußes heimfahren. Aber ich bin nicht abergläubisch. Da half nur eines, wie mein Vater immer sagte: Ohren anlegen und durch!

Ich blickte mich nach einer Telefonmöglichkeit um. Ganz hinten rechts sah ich etwas so Ähnliches wie Telefonzellen, aber ich hatte kein Kleingeld. Immerhin, linkerhand ganz in der Nähe war eine Apotheke.

Apotheker sind studierte Leute, die können sicher Deutsch, Englisch oder Französisch, und da sie mit den Leiden der Menschen, wenn auch nur mittelbar, zu tun haben, werden sie sicher ein wenig Verständnis für meine Lage aufbringen. (…) Meine Bemühungen, einen Geldschein zu wechseln, waren nicht von Erfolg gekrönt.

Am Boden zerstört kehrte ich wieder zurück zu meinem Eisenträger und postierte mich wie gehabt. Ich fühlte mich schon fast heimisch dort. Aber natürlich konnte ich nicht ewig da bleiben und Wurzeln schlagen. Etwas mußte geschehen. Mir war zum Heulen zumute, doch versuchte ich verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn ich es recht bedachte, gab es nur zwei Möglichkeiten: Rückzug oder Ausharren. Beides war mir gleich unlieb.

Fuhr ich heim, würde ich ihn nie mehr sehen können, das war klar. Eine zweite Chance würde es nicht geben. – Wer aber garantierte mir, daß er noch einmal zurückkam und nach mir suchte, wenn ich blieb? Mein Mann würde glauben, ich sei gut angekommen, und mein Gastgeber würde glauben, ich sei gar nicht erst abgereist. Und keiner würde mich vermissen!

Wie viele Nonnen man hier in Italien sehen konnte, wie viele Kuttenträger. Sie    

kamen einzeln und in Gruppen – mein Mann hätte gesagt: Da muß irgendwo ein Nest sein –, unterhielten sich oder gingen mit frommem Gesicht an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu bedenken, ohne meiner Not ansichtig zu werden, und dabei liefen mir die Tränen nur so aus den Augen. Ich gewahrte es erst, als sie am Kinn kitzelten, und begann, mich über mich selbst zu ärgern.

Menschenskind, reiß dich zusammen, Suppenhuhn!

Es mußte doch noch einen Ausweg geben. Es gibt immer einen Ausweg, man muß ihn nur sehen!

Ich sah ihn. Er stand direkt vor meiner Nase, hatte die ganze Zeit da gestanden. Zweimal war ich an ihm vorbeigelaufen, beidesmal hatte ich ihn nicht beachtet, vermutlich, weil er aus Glas war. Es war das Wachhäuschen der Bahnhofspolizei, und was mir die Augen öffnete, war das liebliche Schrillen des Telefons.

 

Drei Carabinieri waren in dem Glaskasten versammelt, zweifellos um verlorene Schafe wie mich auf den rechten Weg zu bringen. Einer stand am Telefon, einer saß und schrieb, und der dritte schaute gelangweilt in die Runde. Ich entschied, daß er Arbeit bekommen sollte, schnappte abermals meine Reisetasche mit dem zerknüllten Kissen und schritt, nachdem ich meinen Mantel der Ordnung halber zugeknöpft hatte, um einen besseren Eindruck zu machen und der Hitze trotzend, auf den bezeichneten Ordnungshüter zu mit soviel Würde, wie ich in meinem Auflösungsprozeß nur zusammenraffen konnte. Ich war wild entschlossen, ihn erst aus den Krallen zu lassen, wenn mir Hilfe geworden wäre.

Nur, an diesen italienischen „Freund und Helfer“ war so einfach gar nicht heranzukommen. (…)

Ich begann zu zweifeln, ob dies hier wirklich die richtige Adresse war, um Hilfe zu suchen, und bekam eine solche Wut, daß mir alles egal wurde. Hier war ein Telefon, da lag auch ein Buch, das wie ein Telefonbuch aussah, und zum Letzten entschlossen trat ich durch die Glastür.

Der Beamte am Telefon legte gerade den Hörer auf. Er sah weniger geistesabwesend aus als sein Kollege, schien auch jünger und weniger hoheitsbewußt – vermutlich ein niederer Dienstgrad –, und so wechselte ich das Pferd und setzte mit deutlich artikuliertem Englisch auf seine Hilfsbereitschaft.

Er sah mich freundlich an und fragte:

„Tedesca?“ – Ich bejahte.

„Da Monaco?“ – Abermals bejahte ich.

„Un momento.“

Er nahm das dicke Buch und legte es vor mich. Ich hätte vor Erleichterung heulen mögen und blätterte mit zitternden Fingern darin herum, aber die Namen schwammen mir vor den Augen. Er bemerkte es und nahm mir das Verzeichnis aus der Hand, zog einen Block mit Bleistift hervor und sagte:

„Nome?“ – Ich nannte ihn.

„A Firenze?“

„No. Bagno a Ripoli.“

„Indirizzo?“

Ich verstand nicht, was er meinte und sagte: „Non comprendo“ in der Hoffnung, daß er verstand, was ich meinte.

„Address, your friend’s address!“ sagte er.

„I don’t know“, antwortete ich.

„Fernao?“ fragte er.

„No, Fernau“, entgegnete ich.

Er schob mir den Block hin und ich schrieb den Namen auf, in Blockbuchstaben, weil meine Hand so zitterte.

Nun begann er zu suchen. Ich wartete, verschlang sein Mienenspiel, als ginge es um Leben und Tod.

Schließlich klärten sich seine Züge auf und verfinsterten sich sogleich wieder.

„No Joachim Fernau“, sagte er bedauernd, „only Gabriella Fernau.“

Vielleicht war das seine Frau. Vielleicht wollte er nicht mit seinem eigenen Namen im Telefonbuch stehen, um sich vor Leseranrufen zu schützen?

„Show me the number“, bat ich, denn ich würde sie wiedererkennen, wenn sie es war.

 

Er sah es meinem Gesicht an, ich brauchte gar nichts zu sagen, gab mir den Hörer in die Hand und wählte für mich. Ein seltsamer Summton, es knackte in der Leitung, und eine helle junge Stimme sagte:

„Pronto?“

„Frau Fernau?“ fragte ich und kämpfte mit den Tränen.

„Ja, Uta“, rief sie, „wo stecken Sie denn? Mein Mann sucht Sie seit Stunden!“

Ich schilderte kurz, wo ich war und warum.

„Das ist ja unglaublich“, kam es melodiös durch die Leitung. „Wir dachten schon, Sie kämen nicht mehr. Aber nun passen Sie mal auf. Mein Mann ist gerade auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause. Wenn er kommt, schicke ich ihn gleich wieder los. Wo, sagten Sie, stehen Sie?“

In der Leitung knackte es unentwegt, ihre Stimme war nicht immer deutlich zu verstehen, zumal draußen der Lautsprecher seine Ansagen mit Getöse von sich gab.

Ich erklärte es ihr.

„Wie bitte? Ich kann Sie nicht hören.“

Ich wiederholte mich.

„Sind Sie noch dran? Es ist nichts zu verstehen, aber mein Mann ist ganz in Weiß, und in der Hand hat er seine Pfeife. Am besten, Sie bleiben ...“

Der Rest ging unter. Dann war die Leitung unterbrochen. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Es kam mir vor, als sei die Bahnhofshalle voller Sonne. Der Polizist hatte mich beobachtet und lächelte. Ich wollte ihm den Zehntausend-Lire-Schein geben, den ich in der Apotheke in die Manteltasche gesteckt hatte, aber er winkte ab und wünschte mir einen guten Tag. Ich hätte ihn küssen mögen!

Alle Pein war ausgestanden, alle Müdigkeit wie weggeblasen. Selbst die Hitze war plötzlich erträglich, und es machte mir nichts aus, daß alle Welt in superleichten Sommersachen herumlief und nur ich den Klerus an Zugeknöpftheit noch übertraf. Alles ist eben relativ.

Ein letztes Mal ging ich zurück zu meinem Eisenträger. Er war mir richtig ans Herz gewachsen. Jetzt konnte mir nichts mehr passieren, komme, was wolle.

„Einfältig und wunderlich ist alles Glück

und unsichtbar hängt es immer am Leid.“

So hatte er gesagt. Und ich hatte ihm entgegengesetzt:

„In jedem Leid, so tief es auch sei,

schlummert ein Keim künftigen Glücks.

Wehre nicht – warte, wachse und          werde.“

Daran mußte ich denken. Er hatte wohl recht, aber ich hatte auch nicht unrecht.

Ich begann, um mir die Zeit zu vertreiben, über diese beiden Worte mir privatissime eine Rede zu halten, und merkte kaum, wie die Zeit verging. Ich spürte nur, wie meine Aufgeregtheit abnahm, wie meine Zuversicht wuchs und es mir gelang, die beunruhigenden Spekulationen über das, was kommen würde, einzudämmen und mich „leer“ zu halten. Dennoch bewahrte ich eine schwebende Aufmerksamkeit, die auf Weiß und Pfeife geeicht war.

 

Um 13 Uhr 10 riß mich eine Beobachtung aus meinen Gedanken. Mir schräg gegenüber war ein Wartesaal 1. Klasse mit Sitzgelegenheiten. Ich hatte ihn schon früher entdeckt, mich jedoch nicht von meinem Platz gewagt.

Durch das Gewühl der Passanten sah ich – nicht genau, denn die Halle war ziemlich breit – eine weiß gekleidete Gestalt langsam an den Wartenden wie suchend vorübergehen. Das war er, ich wußte es, obwohl meine Augen ihn noch nicht erkannt hatten. Es gab keinen Zweifel. Ich nahm mein Gepäck auf und durchquerte zögernd die Halle mit wild klopfendem Herzen.

Er hatte mir den Rücken zugewendet, war jedoch schon am Wendepunkt, so daß ich wartend stehenblieb. Das gab meinen Augen Zeit, ihn in mich aufzunehmen.

Er trug einen weißen Blouson und schwarze Schuhe. Sein Gang war seltsam leicht, als treffe die normale Erdanziehung für seine schlanke Gestalt nicht zu, als fürchte sein Fuß zu zertreten. Er ging leicht vorgebeugt, hielt demonstrativ die Pfeife in der Hand, blieb prüfend immer wieder stehen und schaute die Wartenden an, schüttelte ein übers andere Mal den Kopf und kam    

langsam in meine Richtung.

Jetzt sah ich seinen Kopf von vorn, den ergrauten Bürstenschnitt über der hohen Stirn, die starken, leicht hochgezogenen Brauen und die markante Nase, den weißen Kinnbart mit den grauen Strähnen.

Die Augen waren prüfend zusammengezogen und der Mund geschürzt, so daß die ausgeprägte Unterlippe – sinnlich, sagte mein Mann – vorwurfsvoll vorsprang.

Er war kaum ein paar Schritte weit gekommen, als er plötzlich stehenblieb und aufschaute, als hätte ich ihn gerufen. Er blickte mich an, stutzte, und während er auf mich zukam, entspannten sich seine Züge zu einem gewissen Amüsement.

Ich war dagestanden wie festgewachsen und hatte nur den Kopf leicht auf die Seite neigen können. Mit dem Anflug seines Lächelns kam plötzlich Leben in mich, ich ließ meine Tasche fallen und lief auf ihn zu.

Er öffnete die Arme, die Pfeife in der Hand, und nahm mich auf.

Dann schob er mich auf Armeslänge von sich und sagte: „Uta, da sind Sie ja endlich. Wir hatten uns schon Sorge gemacht. – Dieser Fallschirmspringermantel steht Ihnen gar nicht übel. Ist mal was anderes bei der Wärme.“

Ich mußte lachen, und er schaute mich lächelnd an. Meine Augen schwammen, und ich brachte keinen Ton heraus. Ich wußte: Wir mochten uns. Mein Herz hatte mich nicht getrogen.

Etwas wie Rührung lag auf seinen Zügen, als er ungeduldig sagte:

„Also, nun kommen Sie mal. Wir können ja nicht ewig hier stehenbleiben. Außerdem müssen wir Ihre Tasche holen, ehe ein anderer Gefallen daran findet. Sie ahnen nicht, wie hier in Florenz gestohlen wird.“

Ich hatte mich wieder gefaßt.

„Das sagt mein Mann auch.“

„Ach, das sagt Ihr Mann auch? Kennt er Florenz? Oder hat sich das bis nach Kassel rumgesprochen?“

Ich lachte.

„Nein, allen Ernstes. Er war wohl schon in Italien?“

„Ja, als Abiturient.“

„Und wo, darf ich fragen?“

„In Rom.“

„In Rom. Na, dann weiß er ja Bescheid. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer, und die Kerle werden immer dreister.“

Er nahm meine Reisetasche auf. Ich wollte sie ihm abnehmen, dachte daran, daß er im Brief von sich als „alt und müde“ gesprochen hatte. Da sagte er:

„Nun lassen Sie mir mal die Tasche. So alt und müde bin ich nun auch wieder nicht. – Und nun mal raus mit der Sprache: Wo steckten Sie denn?“

„Im Zug.“

„Nein“, sagte er entrüstet, „ich war doch am Bahnsteig, und der Zug aus München kam pünktlich um neun Uhr zwanzig. Sie waren nicht dabei.“

„Dann muß das der Schlafwagenzug gewesen sein, den sie in München zusammengestellt hatten. Den haben sie offenbar vorausgeschickt. Anders kann ich mir’s nicht erklären. Der Rom-Expreß kam erst um halb elf hier an, mit über einer Stunde Verspätung. Wurde das denn nicht durchgegeben?“

„Kein Wort! Bodenlos. Aber das sind italienische Zustände. Und mich haben sie suchen lassen. Um halb elf muß ich sogar noch hier gewesen sein. Ich bin alle Bahnsteige auf- und abgegangen und fragte mich: Wo steckt denn diese Kuh?“

Ich blieb stehen und schnappte nach Luft.

„Wieso?“ fragte er gespielt unschuldig, aber natürlich saß ihm der Schalk hinter den Ohren. „Stört Sie die Kuh?“

„Na ja“, sagte ich gedehnt.

„Aber eine Kuh ist doch was Nettes. Sagt Ihr Mann das nicht manchmal zu Ihnen?“

Ich war verlegen und wußte nicht, wie ich antworten sollte.

„Was sagt er denn nun“, drängte er.

„Allerhöchstens dumme Gans.“

„Dumme Gans?“ wiederholte er empört. „Na, hören Sie. Man kann zu seiner Frau doch nicht dumme Gans sagen, das ist ja unerhört! Das habe ich zu meiner Frau nie gesagt! Eine Kuh ist doch etwas ganz Besonderes. Nicht umsonst nannten die Griechen Athene die Kuhäugige.“

Ich mußte lachen.

„Da lacht sie, diese Kuh, und das steht ihr nicht schlecht.“

Dann ließ er mir Zeit, mich auszulachen, und fuhr ganz ernst fort:

„Aber der Vergleich mit der Kuh kommt nicht von ungefähr. Zu Kühen habe ich ein ganz besonderes Verhältnis. Das hängt mit meinem ersten Beruf zusammen.“

„Mit Ihrem ersten Beruf? Was war das denn?“

„Das interessiert jetzt nicht. Fragen Sie meine Frau, sie kann es Ihnen erzählen. Mir ist das zu langweilig, das kenne ich nämlich alles schon, müssen Sie wissen. Erzählen Sie mir lieber, wie die Fahrt war.“

Ich wußte nicht, ob er im Ernst sprach oder nicht, und lachte verlegen.

„Da lacht sie schon wieder. Sagen Sie, lachen Sie immer soviel?“

„Normalerweise nicht.“

„Das beruhigt mich. Aber ich meinte es ernst. Wie war das Wetter?“

„Schlecht. Regen und Kälte. Auch in München.“

„Ach! Und hier ist es schon seit Wochen herrlich. Man kann noch täglich schwimmen. Und in München ist es kalt? Wie kalt?“

„Höchstens zehn Grad.“

„Zehn Grad“, schmeckte er genüßlich nach, „das ist ja schauderhaft. Sehen Sie, es war doch eine gute Idee von Ihnen, uns zu besuchen.“              

„Aber Sie haben mich eingeladen, sonst wäre ich nicht hier“, widersprach ich.

„Ich?“ fragte er scheinheilig. „Ausgeschlossen! Das müßte ich wissen – nein, das muß meine Frau gewesen sein. Das sieht ihr ähnlich. Ich mag überhaupt keinen Besuch. Besuch stört nur.“

Er prüfte mich mit schalkhaftem Blick.

„Sie sehen aus, als glaubten Sie mir kein Wort. Fragen Sie meine Frau, sie wird es Ihnen bestätigen. Aber natürlich bin ich kein Unmensch. Da Sie nun einmal da sind, steigen Sie getrost ein. Ich werde es überleben.“

 

Wir waren hinter einem weißen Fiat 500 Baujahr Methusalem angekommen, auf dessen Heck ein Schild prangte: Long vehicle.

Er packte meine Sachen in den Fond, und wir zitterten los. Er fädelte sich geschickt in den hektischen Verkehr ein und konzentrierte sich eine Weile auf die Straße.

Da ich mich unbeobachtet wähnte, betrachtete ich ihn unverhohlen. Er war ein alter Mann, das stimmte schon, aber doch wiederum kein alter Mann. Und er war in meinen Augen ein schöner Mann. Seine Gesichtszüge hatten trotz ihrer Ausgeprägtheit nichts Scharfes, Kantiges. Sein Mienenspiel war lebhaft, abwechslungsreich, und mir war, als liege eine tiefe, durchscheinende Zärtlichkeit in ihm, die sich auf seinem Gesicht zeigte wie in seinen Bewegungen und die auch in seiner Stimme mitschwang.

Unvermittelt wandte er sich mir ganz zu und sagte weich: „So, Uta, sind Sie nun glücklich?“

„Ja. Sehr.“ Zu mehr war ich nicht imstande.

„Ist das wahr?“

„Ja, das ist wahr. Sind Sie es nicht?“

Er lächelte seltsam, ehe er antwortete: „Wenn ich diese Fähigkeit besäße, wäre ich es vielleicht.“

Die Antwort tat mir weh, weil ich spürte, daß er diesmal die Wahrheit sagte.

Ich schaute ihn mit brennenden Augen an. Er hatte sich wieder dem Verkehr zugewandt, aber er schien meinen Blick zu spüren: „Warum schauen Sie mich denn unentwegt an? Bin ich Ihnen etwa nicht schön genug?“

Ob er vermutet hatte, daß ich lache? Ich lachte nicht.

„Doch, Sie sind ein schöner Mann.“

Er lächelte nachsichtig.

„Ach nein, Uta, das bin ich nicht. Vielleicht war ich früher mal ganz ansehnlich, jedenfalls gab man mir das zu verstehen. Von Frauen. Heute bin ich es nicht mehr. Schön bin ich nicht. Leider.“

„Doch, das sind Sie wohl. Für mich sind Sie ein schöner Mann.“

„Wirklich, Uta? Und deshalb starren Sie mich so an?“

Es war mir einfach unmöglich etwas anderes zu sagen als die Wahrheit.

„Das ist nicht der eigentliche Grund“, sagte ich deshalb ausweichend.

„Nicht der eigentliche Grund?“ fragte er belustigt. „Da machen Sie mich aber neugierig.“

Es war nicht leicht zu formulieren und auszusprechen, was ich fühlte und dachte.

„Jetzt habe ich Sie so lange mit dem Herzen gesehen“, sagte ich schließlich, „und da haben meine Augen einfach Nachholbedarf. Verstehen Sie das?“

„Ich gebe mir die größte Mühe“, sagte er trocken, ohne den Kopf zu wenden.

„Darf ich das, oder sind Sie mir jetzt bös?“

Er beobachtete weiter den dichten Verkehr, während er antwortete: „Liebes Kind, wie könnte ich Ihnen böse sein! Im Gegenteil, es rührt mich. Sehen Sie sich also satt, solange es Ihnen beliebt. – Was ist denn das in drei Teufels Namen!“ Er bremste scharf. „Hat denn dieser Idiot keine Augen im Kopf?“ Er hupte mehrfach und griff sich  an den Kopf. Es war nicht ganz ersichtlich, wen er gemeint haben könnte, denn die Autos kamen von allen Seiten auf die sternförmige Kreuzung losgeschossen und schienen sich wenig um die Verkehrsregeln zu kümmern, und selbst wir hatten ein beachtliches Tempo drauf.

Ich mußte wieder lachen.

„Sie kommen mir vor wie Hans-Jürg. Der schimpft auch immer so im Straßenverkehr.“

„So, tut er das? Das spricht für ihn. Sie müssen wissen, liebes Kind, das schönste am Autofahren ist das Schimpfen und das Hupen. – Wer um Himmels willen ist Hans-Jürg?“

„Mein Mann ist das.“

„Ach, Sie haben einen Mann? Ist er nett?“  alberte er. „Da fällt mir ein, er ist es nicht, denn er nennt Sie eine alberne Gans.“

„Eine dumme Gans“, verbesserte ich ihn.

„Albern oder dumm, das ist doch dasselbe, oder etwa nicht?“

„Nein“, lachte ich, „Sie sind jetzt gerade albern, aber dumm sind Sie nicht.“

Er lachte zufrieden.

„Nicht schlecht für den Anfang, aber etwas vorlaut. Was sind Sie von Beruf? Ach ja, ich weiß, Sie verderben Kinder, nicht?“

Er machte ein schelmisches Gesicht und riß die Augen auf. „Oder umgekehrt? – Schauen Sie, das dort ist der Arno. Ich fahre Sie dran vorbei, damit Sie einen Eindruck bekommen. Schön, nicht?“

Wir fuhren noch an einigen Sehenswürdigkeiten vorbei, und er erzählte mir dies und das und freute sich auf seine verborgene Weise, wenn ich lachte. Und ich hütete mich, ihm zu zeigen, daß sein Bemühen, mir Florenz zu zeigen, unterging neben der Sehenswürdigkeit, die er selbst für mich darstellte. Ich war hingerissen von ihm.

„So, nun haben Sie genug gesehen. Meine Frau erwartet Sie schon.“

Der Gedanke an seine Frau beunruhigte mich einigermaßen. War sie so nett wie er? Oder würde es schwer werden mit ihr? Zu gern hätte ich schon etwas über sie erfahren. Deshalb faßte ich mir ein Herz und fragte: „Ist Ihre Frau noch jung?“

„Jung? Wie meinen Sie das? Ein Säugling ist sie nicht.“

„Ihre Stimme klang so hell und jung.“

„Das ist Ihnen also aufgefallen, ja? Nun, jung ist, wie Sie wissen, ein relativer Begriff. Sagen wir also, sie ist nicht mehr ganz so jung, aber jung genug.“ Er schmunzelte.

Ich war nicht viel klüger als zuvor. Ich versuchte es noch einmal, diesmal ganz direkt.

„Ist sie nett?“

„Nett“, echote er amüsiert, wie mir schien, „was verstehen Sie unter nett?“  

„Na ja: lieb, freundlich, eben nett.“

„Aha“, sagte er und ließ mich zappeln. „Das weiß ich nicht. Am besten fragen Sie sie selbst. Sie wird es Ihnen sagen können.“

„Aber Sie sind doch mit ihr verheiratet!“

„Stimmt. Und?“ Er amüsierte sich königlich.

„Dann müssen Sie es doch wissen!“

„So, muß ich das? – Glauben Sie mir, Uta, ich muß nicht.“

Er wollte nicht darüber sprechen, und ich schwieg betreten. Da sagte er plötzlich in mein Schweigen hinein, als habe er meine Gedanken aufgenommen:

„Sie brauchen sich nicht zu bangen, Uta, glauben Sie mir. Nicht vor meiner Frau. Sie freut sich auf Sie. – Und nun sehen Sie mal, dort hinten, auf einem der Hügel, wohnen wir. Schön, nicht?“

Die hellen Hügel lagen in gleißender Sonne. Der Sommer war heiß gewesen und hatte sie ausgedörrt und gebleicht, aber nach dem Ferragosto war ein wenig Regen gefallen, wie ich aus seinen Briefen wußte, und das Grün strotzte wieder. Die Landschaft erinnerte mich an die Heimat meiner Kindheit, die hessische Bergstraße, nur daß dies hier viel ausgeprägter, mächtiger, großzügiger war.

„Ja“, sagte ich, „wunderschön!“

„Na, sehen Sie. Freuen Sie sich wieder? Ich möchte, daß Sie sich freuen!“

Es klang fast wie ein Befehl, aber ich spürte, daß er es wirklich wünschte.

Er sauste mit mir auf eine Verkehrsampel zu, die gerade auf Rot sprang, und bog, dessenungeachtet, in die Seitenstraße ein, die in die Berge führte.

Ich sah erschrocken zu ihm auf. Er schmunzelte.

„Macht man das in Kassel nicht so? Die Verkehrsampeln sind nur für die Polizei, und selbst die richtet sich nicht immer danach.“

Ich lachte. Das war einer seiner Späße, die dennoch wohl ein Quentchen Wahrheit enthielten.

Er schaute mich einen Moment nachdenklich an, schaltete die Geschwindigkeit herunter, hupte ein paarmal kräftig und sagte weich:

„Wissen Sie, liebes Kind, ich glaube, es war wirklich gar keine schlechte Idee von Ihnen, uns zu besuchen.“

Und dann fügte er streng hinzu: „Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.“

„Welche Frage?“ Ich war verblüfft.

„Na, ob Sie sich wieder freuen, was denn sonst!“

Ich fühlte, wie mein Herz ihm zuflog, und sagte, wobei ich ganz rot wurde vor Freude und Verlegenheit:

„Ja, ich glaube, ich freue mich wieder.“

„Sie glaubt, sie freut sich wieder, immerhin“, referierte er trocken, „das ist doch schon etwas.“

Während wir uns auf schmaler Straße den Berg hinauf quälten und der Cinquecento schwer unter Atemnot litt, hupte sein Fahrer ununterbrochen, wie mir schien, als wolle er uns schon von weitem ankündigen.

Er lachte herzlich über meine Vermutung.

„Nein“, rief er gespielt empört, „wofür halten Sie mich denn! Ich bin doch kein Barbar. Dieses abscheuliche Gehupe ist hier Pflicht. Es wäre überflüssig, wenn alle vernünftig führen. Aber erklären Sie das mal einem Italiener. Der hielte Sie für verrückt.“

Er hupte noch einmal lange und kräftig und rangierte den kleinen Wagen quer über die Fahrbahn in die Parkbucht vor einer in den Felsen eingelassenen Garage.

Dann öffnete er den Wagenschlag und sagte: „So, Uta, und nun kommen Sie, wir sind da.“

 

Hinter der schmalen Gartentür sprang eine „toskanische Landmischung“, wie mein Mann sagen würde, winselnd und jiffend am Gitter hoch: eine schlanke, halbhohe Hündin mit einem weißen Lätzchen im seidig glänzenden blauschwarzen Fell.

„Ja, Maxi, da bist du ja!“

Der Türsummer ging, und er öffnete das Tor, ließ den Hund frei, der an ihm in die Höhe sprang und ihm mit der schmalen Schnauze in den Bart fahren wollte, was er lächelnd abwehrte.

„Ja, das ist eine Freude, Maxi! Du hast uns wohl schon von weitem gehört? Nun Platz, Platz, Maxi!“

Der Hund gehorchte, mühsam sein Temperament zügelnd, stellte das eine Ohr auf, legte den Kopf schief und sah seinen Herrn aufmerksam und leicht mit dem Schwanz wedelnd aus goldbraunen glänzenden Augen an.

„Siehst du, Maxi, und das ist die Uta. Nun sag der Uta mal guten Tag.“

Ich hielt meine Hand hin, und Maxi gab mir brav die Pfote.

„So, nun ist es genug!“ entschied der Herr, als ich das Tier entzückt streichelte und es begann, auch an mir hochzuhüpfen, und der Hund schoß die steile Steintreppe zum Haus hinauf. Wir folgten, ich immer noch in Lodenmantel und Strickstrümpfen, der Herr des Hauses mit dem Gepäck beladen – diese Ritterlichkeit hatte er sich nicht nehmen lassen.

„Gabsl, wir sind da“, rief er völlig unnötig, denn unsere Ankunft konnte niemandem im Umkreis von zwei Kilometern verborgen geblieben sein. Dennoch spürte ich die tiefe Bedeutung, die in diesen Worten lag. …

 

Uta Müller studierte in Gießen Kunst, Musik und Französisch und unterrichtet an einer nordhessischen Gesamtschule. 1983 begann sie, berührt von Fernaus Lyrik „Mein dummes Herz“, eine Korrespondenz mit ihm. Ihre erste Begegnung hat sie in der Erzählung „Reise nach Florenz“ festgehalten, die im kommenden Frühjahr in ihrem Erzählbändchen „Mosaik 2 – der Liebe auf der Spur“ (Fünf Erzählungen) im Pamela-Helmer-Verlag erscheinen wird. Bereits dort erschienen sind:

„Teilchen im Mosaik“ (Fünf Erzählungen), 2006 und  „SelbstVERsuche“ (Lyrik mit Aquarellen von Hans Müller, 2008) . Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um einen von der Autorin selbst gekürzten Auszug aus der Erzählung „Reise nach Florenz“.

Drehen wir nun die Uhr noch einmal zurück. Wie war das, kurz nach dem Kriege?
Der Versailler Vertrag war nicht zu erfüllen gewesen. Wer nichts mehr hat, kann nichts mehr geben. Man hatte mehr verlangt, als Deutschland besaß.

Hier muß ich nun einem weitverbreiteten Irrtum vorbeugen, dem Irrtum, zu glauben, daß die Alliierten Deutschlands Leistungsfähigkeit im Trubel der Ereignisse überschätzt hatten.

0 nein! Da waren erstklassige Fachleute am Werk, die sich schon sehr lange mit der Frage von Deutschlands Zahlungsfähigkeit beschäftigt hatten. Sie kannten sich in unseren Taschen genau aus. Sie hätten binnen Minuten die Summen aufsagen können, die erfüllbar gewesen wären. Sie nannten aber andere, sie nannten unerfüllbare. Warum?

Sie nannten nicht die Summe, die Deutschland zahlen konnte, sondern die, die sie brauchten! Denn sie hatten alle während des Krieges riesige Schulden bei Onkel Sam gemacht!

(aus: „Deutschland, Deutschland über alles …“)

Für die Amerikaner zerfällt die Welt heute in zwei Teile. Da gibt es die schlechten Völker, die erzogen werden müssen, und es gibt die anderen, die »so gut sein wollen wie wir«, um es wörtlich zu zitieren.

Wir Deutsche haben es geschafft, wir sitzen im »guten« Zug; vor uns die D-Zug-Lokomotive USA, mit der es Volldampf voraus in den Fortschritt geht. Von allen europäischen Waggons ist unserer der vorderste. Wir sind Amerikas liebstes Kind, da darf uns nichts irremachen. Was wir sind und wie wir sind, das danken wir ihm. Wir inhalieren seinen Atem zu jeder Stunde und wo wir gehen und stehen, ja, wir leben geradezu wie von der Mund-zu- Mund-Atmung. Seit dreißig Jahren wachen wir mit Amerika auf und gehen mit Amerika zu Bett. Es liegt mit der Zeitung auf unserem Frühstücks­tisch und ist das letzte Bild, das vom Fernsehschirm strahlt. Es war zuerst unser Bezwinger, dann unser Richter und Henker, dann unser Umerzieher, unser Sittenpapst, unser Evangelist.

(aus: „Halleluja. Die Geschichte der USA“)

Die Geschichte erzählt Dinge, die niemand gern hört. Wer sich in Geschichte versenkt, muß die Gegenwart und das Persönliche vergessen. Oder er soll es lassen. Die Geschichte kennt nicht Gut und Böse, sie spricht nie davon, wir sind es, die das tun. Die Geschichte wagt es nicht. Sie hat zuviel gesehen.

So berichtet zwar die Geschichte, daß am 24. August 1572 in Paris die »Bartholomäusnacht« stattfand, sie fragt, was sie wollte und was sie nützte, und lehrt: nichts. Aber sie spricht nicht von den niederträchtigen Herzen jener, die diese Schreckensnacht befahlen, sie lehnt es als zwecklos ab, von den Seufzern zu reden, dem Schrecken, der irrsinnigen Angst der Kinder, dem Jammer der Liebenden, dem Hohn auf Gott.

Tränen als Gewichte nimmt die Geschichte wieder von der Waagschale herunter. Spätestens in einigen Generationen. Geschichte wägt anderes. Wer die Tränen für die Geschichte seiner eigenen Gegenwart dennoch darauflegt, erhält ein falsches Gewicht.

(aus: „Deutschland, Deutschland über alles …“)

Fotos: Pinien-Allee (Öl auf Malkarton, um 1969): Seit Anfang der 1960er Jahre hatten die Fernaus einen Zweitwohnsitz in der Nähe von Florenz, Großer Baum vor Florenz (Öl auf Malkarton, um 1972): Kontemplativer Ruheplatz, Obstgarten (Öl auf Malkarton, um 1970): Mahnung gegen die Zerstörung der Natur durch die Zivilisation  

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