© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/09 11. September 2009

Konservatismus
Was im Angesicht des Ewigen besteht
von Harald Seubert

Es entspricht einer vielfach geäußerten Auffassung, daß Konservatismus, anders als politisch linke Ideologien, nicht primär von Theorien geleitet sei. „Man lebt es eher“, wird betont. Das ist berechtigt und aller Ehren wert, eine solche Maxime schließt allerdings eher an französische oder englische Lebensformen an. Klar sein muß man sich indessen darüber, daß deutscher Konservatismus nicht mehr selbstverständlich sein kann. Er muß auch selbst darum wissen, wenn er Verwechslungen und Desavouierungen entgehen soll.

Bedenklich ist die semantische Verschleifung im Begriff des Konservativen im allgemeinen und medialen Diskurs: „konservativ“ wird entweder mit „beharrend“ im Sinne einer Festschreibung bestehender Zustände gleichgesetzt – oder, wenn man das „fehlende konservative Profil“ der Unionsparteien anmahnt, mit einer bestimmten Form des Wirtschafts- und Marktliberalismus, für den etwa Friedrich Merz steht.

Bei allem Anpassungssog politischer Korrektheit im öffentlichen Diskurs zeichnet sich immer vernehmlicher ein Unmut mit den offensichtlicher werdenden Krisensymptomen des gegenwärtigen Zeitalters ab: auch in Kreisen, die in keiner Weise zu einer konservativen Kernklientel gezählt werden können. Diese Tendenzen werden durch die Wirtschafts- und Finanzkrise wohl weiter beschleunigt werden – vor allem in Verbindung mit der Erkenntnis, daß das sozialdemokratische zusammen mit dem sozialistischen Jahrhundert unrettbar der Vergangenheit angehört. Die Publikationen von altgewordenen Linken oder saturierten Wirtschaftsliberalen, die nun Gründe entdecken, „konservativ“ zu sein, sind zwar zumeist intellektuell bescheiden und lassen erkennen, daß ihre Verfasser keinen Begriff des Konservativen haben. Dennoch ist das Symptom nicht zu ignorieren. Nicht anders als eine zunehmende Abkehr überzeugter Christen beider Konfessionen von einer Familien- und Gender Mainstreaming-Politik der Großen Koalition, in der sie sich ebensowenig wiederfinden können wie in einer stromlinienförmigen öffentlichen Debatte, die nach einem Wort von Robert Spaemann an die Stelle des Wahrheitsanspruchs tritt.

In Variierung eines Wortes von Thomas Mann ist der Konservative eher als Repräsentant denn als Märtyrer geboren. Er muß sich jedoch, zumal in Deutschland, heute eingestehen, daß die Institutionen mehrheitlich in linksliberaler Hand sind. Dem gilt es Rechnung zu tragen, indem man die Mitte wieder besetzt, die Begriffe zurechtrückt. Konservativ zu sein, ist nicht ein aussterbendes Phantom, nicht eine – kleiner werdende – Richtung einer Volkspartei, sondern, in Verbindung mit den besten Momenten des Liberalismus, die Substanz, ohne die es eine bürgerliche Mehrheit nicht geben kann.

In dem Briefwechsel Marion Gräfin Dönhoffs mit dem Schweizer Historiker Carl Jacob Burckhardt, der jüngst von Ulrich Schlie publiziert wurde („Mehr, als ich Dir jemals werde erzählen können“), bittet die Zeit-Herausgeberin ihr Gegenüber um einen Artikel zur Begriffsbestimmung des Konservativen. Burckhardt, den man doch ohne weiteres zur „konservativen Familie“ zählen würde, lehnt ab – zu offen sei die Frage, was denn der Konservative bewahren wolle. Dies ist in der Tat die entscheidende Frage. Sie führt auf konservative Quellen, die weit über den bedrückenden Rahmen der Zeit des „Weltbürgerkriegs der Ideologien“ hinausführen. Bewahren zu können, setzt Kritik voraus. Maßstäbe setzen kann für konservatives Denken nur, was europäische und deutsche Identität bleibend ausmacht, das, was nach einem Wort des alten Aristoteles „Besitz für immer“ ist (griechisch „ktema eis aei“).

Wo finden wir dieses Paradigma? Es ist nicht die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, soviel darin zu entdecken sein mag. Es ist die klassische deutsche Philosophie und Dichtung bis zu Heidegger und Nietzsche, es ist – auch – die Staatsidee Preußens, es sind die großen europäischen Kultur- und politischen Leistungen, unter Einschluß der deutsch-jüdischen Symbiose, und es ist zuerst und zuletzt das Christentum, das, nach einem Wort von Rémi Brague, der in unserer Zeit diesen Zusammenhang eindrucksvoll erforscht, die Frage nach der „Legitimität des Menschen“ zu beantworten vermag, auf die die säkulare Welt keine Antwort weiß. Die Quellen des „ältesten Alten“ scheinen heute von größter Aktualität zu sein.

Reduziert auf den flexible man, auf Produzent und Konsument, verkommt das Menschliche selbst. In der Medienwelt begegnet es auf der Schwundstufe des Bedürfniswesens und „Verbrauchers“. „Paideia“ – Bildung nicht nur im funktionalen Sinn – droht sich aufzulösen ebenso wie der Sinn für Verantwortung und Rechenschaftsfähigkeit. Entwicklungen der globalen Welt, wie die Forderung nach Open Access in den Wissenschaften, nach einheitlichen Standards, die im Namen von Transparenz und Konkurrenz erhoben werden, drohen den Bestand jahrhundertealter Überlieferungen zu vernichten (man vergleiche Volker Gerhardts klugen Artikel in der FAZ vom 10. Juni 2009).

Die Verbindung von Überwachung und weltumspannendem Netz bedroht das Grundrecht von Privatheit. Der sinnentleerte Ökonomismus, in Verbindung mit einem aufgeblähten Sozialsystem, droht die Idee des freien Bürgers zu unterwandern, ohne die Demokratie, diese anspruchsvollste und fragilste „Ordnung der Freiheit“, nicht auskommt.

Ein neuer im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts etablierter aggressiver Atheismus à la Richard Dawkins tritt programmatisch für die Exekution der Reste humaner Kultur ein: Der Mensch ist nicht mehr verantwortliches Subjekt, sondern Agent seiner Gene.

Damit sind nur einige eklatante Signaturen der Gegenwart genannt, denen man aus einem wohlverstandenen Konservatismus begegnen kann. Was es sehr deutlich zu zeigen gilt: Er ist nicht Sache einer Partei, er ist heute von essentiellem Interesse für den Bestand der offenen Gesellschaft selbst.

Diese Tiefendimensionen treten auch in den außen- und innenpolitischen Konfliktlagen konkret zutage. Die Globalisierung bringt eine „flache Welt“ (Thomas Friedman) hervor, die zugleich voller Verwerfungen und Konfliktlinien ist. Social engineering und ein realitätsblindes Gutmenschentum sind ihnen nicht gewachsen. Es erweist sich als verhängnisvoller Irrtum, daß wir im „Postnationalen Zeitalter“ lebten und kollektive Sicherheit durch Institutionen allein bestimmbar wäre.

Nach innen werden Grenzen der Integration sichtbar. Ralf Dahrendorf, in seinen letzten Jahren profilierter liberaler Kritiker des faktischen globalen Größenwahns, sprach deshalb schon vor Jahren von der „Glokalisierung“, die sich in der Globalisierung verbirgt. Es gibt Konstellationen des 21. Jahrhunderts wie die Realität von Arbeit ohne Kapital ebenso wie Kapital ohne Arbeit, auf welche die politischen Parteien, deren Leitunterscheidungen auf das 19. Jahrhundert zurückgehen, keine Antwort haben. Linkspartei und Sozialdemokratie konservieren ihre Überkommenheit – und sie werden, wie Umfragen zeigen, nicht als glaubwürdig empfunden.

Deshalb erfordern Konservatismus und Liberalismus einander heute wechselseitig: durchaus im Sinne von Irving Kristols bekanntem Bonmot, der Konservative sei ein Liberaler, der mit der Realität in Verbindung gekommen sei. Der Liberalismus ist für sich allein nicht imstande, sich selbst zu erhalten. Im Augenblick, in dem ihm ein wirkliches Gegengewicht fehlt, löst er sich auf. Konservatismus kann hinter die moderne, offene, rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaft nicht zurück. Seine Kritik an ihren Pathomorphien steht im Dienst der „Ordnung der Freiheit“. Er soll, wie Sokrates in Athen, der Stachel im Fleisch der Polis sein, ohne den sie verfault.

Konservatives Denken bedeutet auch, einem maßlosen Relativismus, dessen Diktatur Papst Benedikt XVI. zu Recht immer wieder kritisiert und der sich nach wie vor in Wissenschaft und öffentlicher Meinung Bahn bricht, sich entgegenzusetzen, ohne aus der freiheitlichen Moderne fliehen zu wollen. Der Konservative weiß aber auch um Rang- und Niveauunterschiede. Er hält fest, daß die Wahrnehmung von Größe – das Vorbild, das mich übertrifft – unerläßlich ist, wenn der Mensch sich bilden will. Ein amorpher Egalitarismus wird niemandem gerecht.

Wenn man auf der Spur dieser höchst bewegten Zeit nach den Spezifika eines neuen Konservatismus fragt, so heißt das keinesfalls, daß das Konservative neu zu erfinden wäre. Dies liefe seiner Idee zuwider. Tradierte Leitlinien bleiben gültig: der skeptisch sympathetische Blick auf den Menschen in seiner Fehlbarkeit und die Absage an alle Erfindung eines „Neuen Menschen“; das Wissen um die Grenzen der Planbarkeit und die Unhintergehbarkeit der Geschichte; und darüber hinaus der Gedanke eines starken und gerade deshalb auf seinen Kernbereich begrenzten Staates, der nicht selbst Spiel der divergierenden und in Konflikt tretenden Kräfte der Gesellschaft ist, sondern Schiedsrichter zwischen ihnen.

Hegel sprach vom „sittlichen Staat“, der mehr sein müsse als der Not- und Verstandesstaat der Neuzeit, wie ihn Thomas Hobbes begründete. Doch der Konservative mißtraut allen Weltstaatsplänen, den großen Utopien. Friede bleibt ihm ein fragiles, in Gleichgewichtsverhältnissen zu stiftendes Verhältnis. Wie indes Hegels Idee des „sittlichen Staates“ in der veränderten Welt zur Geltung zu bringen ist, das ist die große Frage.

Der Konservative weiß, daß Patriotismus und Universalismus einander erfordern und sich keineswegs ausschließen. Kant hat diesen Zusammenhang gültig ausgesprochen: „In der Anhänglichkeit für sein Land Neigung (zu) haben, das Wohl der ganzen Welt zu befördern.“

Konservatives Denken heute bedeutet auch Einsicht in die Begrenztheit der Ressourcen und des Menschen. Es hat also in seiner modernen Ausprägung auch eine ökologische Komponente. Freiheit wird in diesem Sinne niemals nur negative Freiheit sein. Sie verweist zugleich positiv auf Sittlichkeit und Verpflichtung.

Zwei Paradigmen für konservatives Denken im 21. Jahrhundert, die vorbildlich erscheinen, sollen knapp angeführt werden: Zum einen ist es der „Modernitätstraditionalismus“ (Odo Marquard) der Ritter-Schule in ihren unterschiedlichen Formen. Sie bejaht die liberale Ordnung, weiß aber um ihre Bedingtheit und um die Kompensationsbedürftigkeit der Moderne, die sich sonst, im Augenblick ihrer vollständigen Realisierung, selbst zerstören muß. Konservatives Denken muß also die tiefe Verwerfung erkennen, die mit der Französischen Revolution zutage trat, dieser großartigen Manifestation der Freiheit, aus der zugleich, wie Klaus Hornung eindrücklich gezeigt hat, der Blutstrom der Totalitarismen hervorging. Jene „Dialektik der Aufklärung“, in deren jüngsten Filiationen wir noch heute stehen, muß der Konservative kennen. Konservatismus ist von seinen Ursprüngen bei Edmund Burke und Alexis de Tocqueville her von diesem tektonischen Beben bedingt. Daraus ergibt sich eine Paradoxie: Die Bedingung dafür, daß der Konservatismus überhaupt thematisch wird, besteht darin, daß nicht mehr selbstverständlich ist, wofür er steht.

Der jüdische Emigrant Leo Strauss und seine Schule haben in den USA in der Nachkriegszeit konservatives Denken – unabhängig von allem Odium des Einflusses dieser Neocons auf die operative Politik – in der Erziehung einer ganzen Generation neuer Eliten und Multiplikatoren realisiert, die wieder in die Lage kommen sollten, die „großen alten Bücher“ unserer westlichen Tradition zu lesen. Historistische Beliebigkeit und die formale Leere der Mainstream-Philosophie geißelte Strauss seinerzeit gleichermaßen. Allan Blooms großartiges Buch „The Closing of the American Mind“ ist die späte Confessio dieser Anstrengung. Er beschrieb damit eine Lage, die in der heutigen deutschen Bologna-Universität ebenso Realität ist.

Welches Politikum und welche Aktualität ein solches Programm bedeutet, muß man erkennen, wenn man erfassen will, welches indirekte Potential in einem veränderten, dem Mainstream entgehenden Denken liegt.

Der Wirksamkeit nach außen wird dabei aber eine Selbstverständigung, eine Ahnung höheren und tieferen Lebens entsprechen. Sie war einmal, diesseits aller Politisierung, mit dem Wort vom „geheimen Deutschland“ gemeint, das Stefan George und seinen Kreis bewegte und das Manfred Riedel eindrucksvoll als Grundlegung von Stauffenbergs Widerstandshandlung gedeutet hat.

 

Prof. Dr. Harald Seubert, Jahrgang 1967, studierte Theologie, Philosophie, Literaturwissenschaften und Geschichte; langjährige Lehrtätigkeiten an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Halle-Wittenberg. Seit 2006 ist er Ordinarius für Kulturphilosophie und Ideengeschichte des deutschen Sprachraums an der Universität Posen. Seit 1993 zahlreiche Gastdozenturen und Gastprofessuren in Süd- und Osteuropa.

Foto: Kölner Dom in der Abenddämmerung mit Reiterstandbild Kaiser Wilhelms II.: Ahnung höheren und tieferen Lebens

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