© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/09 11. September 2009

„Los von Rom“
Südtirol: Im diesjährigen Andreas-Hofer-Jahr sorgen zweischneidige Wiedervereinigungs-Forderungen für kontroverse Diskussionen
Martin Schmidt

Tramin ist ein besonders sehenswerter, kulturträchtiger Ort im Bozner Unterland, nur wenige Kilometer von der deutsch-italienischen Sprachgrenze bei Salurn entfernt. An diesem lauen August­abend erscheinen die beleuchteten Gassen im Zentrum zauberhaft schön. Die Gemeinde hat zur Veranstaltungsreihe „Traminer Dorfleben“ geladen. Viele der hier überwiegend bundesdeutschen Touristen sowie zahlreiche Einheimische flanieren von der Andreas-Hofer-Straße über den Rathaus-Platz bis hin zur Dr.-Noldin-Straße, die an den in Salurn begrabenen Gründer der illegalen deutschsprachigen „Katakombenschulen“ der zwanziger Jahre erinnert. Die Bürgerkapelle spielt das Tiroler Heimatlied „Wohl ist die Welt so groß und weit“ und wenig später Haydns Melodie zum Deutschlandlied. Nicht wenige, gerade jüngere Leute tragen Tracht.

Die Atmosphäre ist charakteristisch für das Bild des Grenzlandes an Etsch und Eisack, wie es sich dem Besucher im Sommer 2009, kurz vor dem Höhepunkt des Andreas-Hofer-Jahres, bietet. Schon die in der ganzen Region zahllos geflaggten rot-weißen Fahnen mit dem Adler zeigen das ausgeprägte Selbstbewußtsein dieses im 20. Jahrhundert schwer geprüften Teils der Tiroler. Der Kontrast zu dem zwischen Rhein und Oder allgegenwärtigen Nationalmasochismus ist unübersehbar. Allen nach wie vor bestehenden Schwierigkeiten mit der italienischen Politik zum Trotz dürfte die deutsche Kultur hier weit weniger gefährdet sein als im bundesdeutschen Raum. Nachwuchsmangel ist den vielen traditionsgebundenen Vereinen – von den Musikkapellen, über Trachten- und Volkstanzgruppen bis zu den Schützenverbänden – fremd. Das Bekenntnis zur eigenen Kultur ist zumindest bei weiten Teilen der Landjugend selbstverständlich und „angesagt“.

Die schrittweise erkämpften Volksgruppenrechte infolge des 1972 in Kraft gesetzten Autonomie-Pakets sind nirgendwo akut gefährdet. Ein ethnisches Proporzsystem regelt die Gleichberechtigung der verschiedenen Gruppen und bewirkt ein friedliches Zusammen- bzw. Nebeneinanderherleben von Tirolern und Ladinern mit den Italienern. Die Verschärfung der einst sehr lax gehandhabten deutschen Sprachprüfungen, deren Ableistung eine Bedingung für den Zugang zum öffentlichen Dienst ist (so wie die entsprechenden Italienischprüfungen für deutschsprachige Bewerber), führten dazu, daß das Interesse von Italienern am Erwerb guter Deutschkenntnisse erheblich gewachsen ist.

Die Gemeindeverwaltungen haben das Recht, die Reihenfolge der Beschriftungen ihrer Ortsschilder selbst zu bestimmen. Von wenigen Ausnahmen wie Bozen (Bolzano), einigen italienisierten Randgemeinden der Hauptstadt oder dem schon früh von den italienischen Zuwanderern bevorzugten Salurn (Salorno) abgesehen, wird der deutsche Name stets zuerst aufgeführt. Ja, man diskutiert sogar offiziell darüber, die zwangsweise Einbeziehung der von dem Faschisten Ettore Tolomei erfundenen italienischen Kunstnamen fallenzulassen.

Das Zahlenverhältnis der Südtiroler gegenüber den nach dem Ersten Weltkrieg über Jahrzehnte hinweg massenhaft zugewanderten Italienern verschiebt sich stetig zugunsten der Einheimischen. Laut der letzten Erhebung zur Sprachgruppenzugehörigkeit, die im Rahmen der Volkszählung von 2001 durchgeführt wurde, erklärten sich von den seinerzeit rund 428.691 Einwohnern der Provinz Bozen 69,15 Prozent dem deutschen Bevölkerungsteil zugehörig, 26,47 Prozent fühlten sich dem italienischen verbunden, und 4,37 Prozent zählten sich zu den romanischen Ladinern. Anfang der sechziger Jahre hatte die Quote der Italiener noch bei über 34 Prozent gelegen (gegenüber 2,9 Prozent im Jahr 1910 und etwa 22,6 Prozent Ende 1944).

In den letzten Jahren ist die Bevölkerungszahl der Provinz auf eine halbe Million Menschen gestiegen, was in erster Linie auf die deutlich erhöhte Zuwanderung außereuropäischer Migranten in den am stärksten industrialisierten Raum Bozen zurückzuführen ist. Die Geburtenrate der Südtiroler, die in der Nachkriegszeit noch sehr lange über dem Erhaltungswert lag, war 2001 auf durchschnittlich 1,53 Kinder je Frau gefallen (der Schnitt der Republik Italien lag damals bei 1,23, jener der Bundesrepublik Deutschland bei 1,38).

Nach Angaben des Bozner Landesinstituts für Statistik (Astat) erscheint der Alterungsprozeß heute auch zwischen Brenner und Salurner Klause unaufhaltsam, wobei die Zahlen dort jedoch weniger dramatisch sind als im übrigen italienischen Staatsgebiet. Am 23. Juni gab das Astat bekannt, daß die Bereitschaft, Kinder zu bekommen, im letzten Jahr wieder leicht zugenommen habe, dies aber vor allem auf Frauen mit ausländischer Staatsbürgerschaft zurückzuführen sei. Wie aus einer 2008 veröffentlichten Bevölkerungsprognose hervorgeht, wird die Südtiroler Wohnbevölkerung auf 521.960 Menschen im Jahr 2020 ansteigen (plus 7,4 Prozent). Hinsichtlich der Ausländer errechnen die Statistiker für den gleichen Zeitraum einen Anstieg von 28.260 Ende 2006 in den Melderegistern eingetragenen Personen auf rund 74.700 (14,3 statt 5,8 Prozent).

Manche Beobachter sehen vor diesem Hintergrund für Südtirol bereits ein neuartiges Überfremdungsproblem heraufziehen. In der Gegenwart ist davon aber noch sehr wenig zu spüren; auch muß man bedenken, daß unter den „ausländischen“ Bewohnern die nicht wenigen österreichischen und bundesdeutschen Staatsbürger einbezogen sind. Und während die albanischen, bosniakischen, türkischen, arabischen oder afrikanischen Zuwanderer – sofern sie überhaupt integrationswillig sind – im stärker industrialisierten Bozner Raum sprachlich zwar dem italienischen Element zugute kommen, ist überall sonst viel eher von einer Orientierung an der kulturprägenden deutschen Volksgruppe auszugehen. Anschauungsunterricht in puncto Südtiroler Ausstrahlungskraft erhielt der Verfasser in einem Kleidungsgeschäft in Glurns im Vinschgau. Eine freundliche junge Verkäuferin mit stark tirolerisch gefärbter Sprache erwies sich erst nach längerer Unterhaltung als Kosovo-Albanerin, die gerade einmal fünf Jahre im Land ist, aber bereits voll integriert wirkt und sich weitgehend in einem deutschen Umfeld bewegt.

Einstweilen beherrschen ohnehin ganz andere Diskussionen die Öffentlichkeit. Denn im Vorfeld des großen Festumzuges zum Andreas-Hofer-Jahr in Innsbruck am 20. September ist erneut das Thema einer Wiedervereinigung Tirols in den Vordergrund gerückt. Italiens Außenminister Franco Frattini drohte bereits mit Konsequenzen, falls die Schützen bei dem Umzug „Los von Rom“-Transparente mitführen sollten. Sven Knoll von der Partei Süd-Tiroler Freiheit konterte am 13. August in der Neuen Südtiroler Tageszeitung: „Dieser Argwohn ist politisch verständlich, denn die Kreise, die sich eine Abspaltung Südtirols von Italien wünschen, sind in den vergangenen Jahren immer stärker geworden. Es ist dies derselbe Prozeß, wie wir ihn 1989 in den Ostblockländern erlebt haben, oder wie wir ihn in der DDR gehabt haben. (...) Wenn man nicht so tut, wie Rom es gern möchte, dann wird man bedroht. Das kann doch keine Zukunftsperspektive sein.“ (siehe auch JF-Seite 17)

Tatsächlich sind auf der politischen Ebene die klaren Selbstbestimmungsbefürworter der Freiheitlichen um Pius Leitner sowie der Süd-Tiroler Freiheit um Eva Klotz (JF-Interview 9/09) und Sven Knoll deutlich stärker geworden. Sie vertreten mittlerweile rund ein Drittel der deutschen Südtiroler und erfreuen sich insbesondere unter jungen Wählern breiter Unterstützung, während die einst beherrschende Südtiroler Volkspartei (SVP) zunehmend auf italienische Wähler angewiesen ist, um ihre absolute Mehrheit an Sitzen im Regionalparlament – knapp – behaupten zu können (JF 45/08).

Die Stimmung in der Bevölkerung verschiebt sich zweifellos zugunsten der Wiedervereinigungsidee. Dennoch sind die jüngsten Debatten und die am 20. September zu erwartenden Unruhen auch für grundsätzliche Befürworter des Tiroler Einheitsgedankens höchst problematisch. Denn noch besagen aktuelle Umfragen keine klare Mehrheit für einen Zusammenschluß mit Österreich, und in Nord- und Osttirol ist sogar eine wachsende Gegnerschaft gegen entsprechende Grenzveränderungen zu verzeichnen.

Hinzu kommt, daß sich der Drang nach kurzfristigen nationalpolitischen Veränderungen unter den wirtschaftlich fast durchweg gut gestellten Südtirolern in engen Grenzen hält und viele daher dem Gedanken einer dauerhaften – minderheitenrechtlich abgesicherten – Existenz im italienischen Staat anhängen. Würde dennoch ein baldiges Referendum durchgesetzt werden und dieses eine Mehrheit gegen die Trennung von Italien erbringen, wäre die Signalwirkung verheerend. Der Traum der Tiroler Einheit wäre dann für sehr lange Zeit oder gar für immer ausgeträumt, während die Zeit doch eigentlich für diese Vision läuft. Denn sowohl die massiv erstarkenden Unabhängigkeitsbestrebungen etwa in Schottland, Flandern oder Katalonien als auch die fortgesetzte Erosion der Zentralgewalt Roms in Norditalien sowie der Bedeutungsgewinn ethno-kulturell formierter Regionen in der Europäischen Union weisen in Richtung einer mittelfristig leichter durchsetzbaren Abspaltung.

Hinzu kommt die aus Tiroler Sicht erfreuliche regionale Umorientierung bisher zu anderen Provinzen gehörender ladinischer Grenzgemeinden. So beschlossen im Oktober 2007 die Bürger von Petsch-Hayden (Cortina d’Ampezzo­/ladinisch: Anpëz) und dessen Nachbargemeinden Col und Buchenstein in einer Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit den Anschluß an Südtirol.

Dieses Votum ist gesetzlich bindend, wird jedoch in seiner Umsetzung von Rom bewußt verschleppt, denn man weiß, daß andere ladinische Gemeinden nur darauf warten, sich ebenfalls für die Provinz Bozen entscheiden zu können. Kulturgeschichtliche Gemeinsamkeiten locken dabei ebenso wie die vorbildliche ländliche Strukturpolitik Südtirols sowie die Perspektive einer noch wirkungsvolleren Vertretung ladinischer Minderheiteninteressen. Auch in dieser Beziehung gibt es also wenig Anlaß für die deutschen Südtiroler, eine möglicherweise überstürzte Wiedervereinigungspolitik mit Österreich zu betreiben.

Das Gesamt-Tiroler Festwochenende zum Hofer-Gedenkjahr 2009 findet vom 18. bis 20. September in Innsbruck statt. Der Landesfestumzug mit etwa 26.000 Teilnehmern aus über tausend Traditionsvereinen beginnt am Sonntag, den 20. September um 11 Uhr in der Innsbrucker Innenstadt. Mehr unter www.1809-2009.eu

Foto: Touriseum im Schloß Trauttmansdorff/Meran: Kein Nachwuchsmangel bei den traditionsgebundenen Vereinen und Schützenverbänden

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