© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/09 04. September 2009

Vertrag von Lissabon
Wer hat die Letztentscheidung?
von Karl Doehring

Dem Abschluß des Vertrages von Lissabon stehen Normen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nicht entgegen, so daß er nach dem 8. September ratifiziert werden kann. Allerdings müssen noch Fragen der Beteiligung von Bundestag und Bundesrat geklärt werden, was gegenwärtig mit den geänderten Begleitgesetzen geschieht. So entschied es das Bundesverfassungsgericht.

Diese Einschränkung betrifft jedoch nur das deutsche Verfassungsrecht, das sein Demokratieprinzip zu beachten gebietet. Man könnte meinen, daß nun, wenn entsprechende innerstaatliche Regelungen getroffen sind, das Verhältnis von Europarecht zu nationalem deutschen Recht endgültig geklärt sei. Doch das ist durchaus nicht der Fall, sondern eher ist das Gegenteil festzustellen.

Das Bundesverfassungsgericht führt anläßlich dieser zunächst rein innerstaatlich relevanten Frage nämlich aus, daß dann, wenn die europäischen Organe nach seiner Auffassung ihre Kompetenzen durch Rechtsakte überschritten, die Anwendung solcher „ausbrechender Rechtsakte“ in Deutschland nicht stattfinden könne. Diese Feststellung findet sich schon in einer früheren Entscheidung, wird hier aber nun nochmals strikt betont und eingehend begründet, obwohl bisher noch kein konkreter Anlaß bestand, der Gültigkeit „ausbrechender“ Normen ihre Rechtswirkung abzusprechen. So geht es also um eine Drohung, die im Rahmen der zu entscheidenden Rechtsfrage nicht notwendig gewesen wäre, die aber Aufschluß gibt über die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des grundsätzlichen Verhältnisses von Europarecht zu nationalem Recht.

Die Begründung für diese Sichtweise ist die folgende: Der souveräne Staat Deutschland habe bestimmte Hoheitsrechte nur im Rahmen „begrenzter Ermächtigungen“ an die Europäische Union übertragen. Durch diese Übertragung sei die Souveränität Deutschlands so lange nicht beeinträchtigt, als ihr selbst die Kompetenz erhalten bleibe, darüber zu entscheiden, ob die an „Europa“ übertragenen Kompetenzen dort eingehalten seien. Die Europäische Union beruhe auf einem völkerrechtlichen Vertrag und sei so eine von den souveränen Mitgliedsstaaten „abgeleitete“ Rechtsordnung, die eine Kompetenz der europäischen Organe, über die Grenzen ihrer eigenen Kompetenz zu entscheiden (sogenannte Kompetenz-Kompetenz), nicht umfasse. Auch der nicht bestrittene Vorrang des Europarechts gegenüber nationalem Recht umfasse nur die übertragenen, begrenzten Ermächtigungen, nicht aber diese übersteigenden und also „ausbrechenden“ Rechtsakte. Diese Auffassung des Bundesverfassungsgerichts beruht offensichtlich auf einer von ihm vorgenommenen Auslegung des Europarechts, die zwar, wie zu zeigen ist, nicht zwingend ist, aber schlüssige Argumente aufweist.

Auch der vom Bundesverfassungsgericht nicht bestrittene Vorrang des Europarechts gegenüber nationalem Recht umfasse nur die übertragenen, begrenzten Ermächtigungen, nicht aber diese übersteigenden und also „ausbrechenden“ Rechtsakte.

Die Gegner dieser Auffassung, das heißt die Protagonisten einer „immer engeren Zusammenarbeit“ der europäischen Staaten im Sinne auch des Wortlauts der Präambel des Unionsvertrags, meinen dagegen, daß es sich zwar um einen völkerrechtlichen Vertrag handele, daß aber die Übertragung der Hoheitsrechte auf die Europäische Union gleichzeitig bedeute, daß damit auch die Kompetenzen zur endgültigen Auslegung des Vertrags – und das heißt die Frage, ob die Grenzen der Ermächtigungen eingehalten werden – dem gerade hierfür eingerichteten Europäischen Gerichtshof übertragen seien.

Die Rechtsordnung der Europäischen Union sei durch den Abschluß des Vertrags, der ihr nun auch Rechtspersönlichkeit erteile, nicht mehr „abgeleitet“, sondern konstitutiv begründet, wie das etwa bei einer Staatsgründung der Fall sei. Zwar sei kein Staat begründet, aber doch ein Rechtsgebilde, das im begrenzten Sinne wie ein Teilstaat – im Rahmen der übertragenen Hoheitsrechte – wirke. So gesehen müsse auch die Europäische Union über die Grenzen ihrer neuen Hoheitsmacht selbst entscheiden. Das könne nicht jedem einzelnen Mitgliedsstaat überlassen sein, wolle man nicht die supranationale Hoheitsgewalt wieder aufheben.

Bei dieser Kontroverse über die Zuständigkeit zur Letztentscheidung (Kompetenz-Kompetenz) ist man erinnert an die Gründung des Deutschen Reichs 1871, als zunächst auch umstritten war, ob es sich um einen Bundesstaat oder um einen Staatenbund handele. Schließlich siegte die Bundesstaatstheorie. Heute wird vielfach behauptet, die Begriffe Bundesstaat und Staatenbund seien nicht mehr zeitgemäß. Das aber ist eine Verkennung der Sache, um die es dabei geht. Für die völkerrechtliche Betrachtung der Staatenverbindungen bleibt immer noch entscheidend, wer die außenpolitische Souveränität im Hinblick auf Ansprüche und Haftungen innehat. Der Bundesstaat ist der Inhaber der Souveränität, der Staatenbund nicht. Dieser Unterschied ist also nicht terminologisch, sondern sachbezogen.

Rechtliche Unklarheiten entstehen aber immer, wenn diese Unterscheidung nicht klar getroffen ist. Das ist im Hinblick auf die Entstehung der Europäischen Union der Fall, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Kritiker deutlich machen. Ist nun die Europäische Union ein Staatenbund, auf den nur abgeleitete Hoheitsrechte übertragen wurden, sind die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts über seine Kompetenz zur Letztentscheidung bei Fragen der sogenannten „ausbrechenden“ Entscheidungen der europäischen Organe schlüssig. Kommt man zum Ergebnis, daß die Übertragung von Hoheitsrechten die Entstehung eines zunächst partiellen europäischen Bundesstaates bewirkt habe, ist Kritik an dieser Entscheidung ebenfalls schlüssig, denn hiernach sind die Hoheitsrechte eben nicht „abgeleitet“, sondern ab initio, von Anfang an, abgegeben, und über ihre Erstreckung entscheidet nur der – neue – Inhaber. So zeigt sich, daß es jeweils um die Prämisse geht. Diese ist grundsätzlich verschieden und daher der eigentlich Streitgegenstand.

Läßt sich nun diese Kontroverse unter Rückgriff auf den Vertrag, beziehungsweise seinen Wortlaut, eindeutig lösen? Das ist nicht der Fall. Der Vertragstext schweigt zur Frage der Kompetenz-Kompetenz. Nur im Hinblick auf Streitigkeiten über die Auslegung und also Erstreckung des Subsidiaritätsprinzips ist endgültig gesagt, daß der Europäische Gerichtshof die bindende Entscheidung treffe. Aber das Prinzip der Subsidiarität ist unbestritten Vertragsinhalt und bedeutet, daß Materien, die regional geregelt werden können, nicht von einer Zentralgewalt geregelt werden sollen. Davon ist aber eine Streitigkeit darüber zu unterscheiden, ob durch Usurpation von Sachfragen durch die Europäische Union der Grundsatz der „begrenzten Ermächtigungen“ verletzt ist.

Kann nun dann, wenn der Text des Vertrags nichts ergibt, mit der Methode der teleologischen Auslegung des Vertrages, das heißt mit Rückgriff auf Ziel und Zweck des Vertrags, Klarheit geschaffen werden? Auch das ist nicht der Fall. Die Vertreter der Auffassung, daß die Organe der Europäischen Union und letztlich der Europäische Gerichtshof die Letztentscheidungsmacht innehaben müßten, könnten argumentieren, daß der Vertrag einen immer engeren Zusammenschluß Europas zum Ziel habe, der in letzter Konsequenz natürlich zur Bildung eines Bundesstaats führen würde. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist aber – vorläufig – die Bildung eines Bundesstaats nicht das Ziel des Vertrags.

Darüber hinaus weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, daß bei Anwendung nicht originären deutschen Rechts auch der ordre public als Abwehr inakzeptablen Rechts eingreifen könnte, wobei allerdings verkannt wird, daß auch die deutsche Staatsgewalt an der Ausgestaltung der europäischen Rechtsordnung mitwirkt und auch im Europäischen Gerichtshof vertreten ist. Richtig ist nur – wenn man bei der Prämisse des Bundesverfassungsgerichts bleibt –, daß diese Befugnis zur Letztentscheidung (Kompetenz-Kompetenz) eben gerade nicht übertragen wurde.

Aufschlußreich könnte ein Vergleich mit der Zuständigkeit anderer internationaler Gerichte sein. Haben sich Staaten der Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs unterworfen und dabei den Vorbehalt erklärt, daß sie diese Zuständigkeit nicht in Fragen der inneren Angelegenheiten des Staates anerkennen, entscheidet das Gericht selbst, ob eine solche innere Angelegenheit vorliegt. Ungeklärt ist nur die Frage, ob das Gericht auch dann entscheiden kann, wenn der Vorbehalt bedeutet, daß auch hierüber nur der Staat selbst entscheidet. Auch hier ist also ein allgemeiner Rechtsgrundsatz nicht erkennbar. Ein Vorbehalt gegenüber der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs besteht nicht, sondern es geht um die Frage, ob denn nun die unbegrenzte Zuständigkeit zur Letztentscheidung dem Europäischen Gerichtshof übertragen ist.

Der Bundesstaat ist der Inhaber der Souveränität, der Staatenbund nicht. Dieser Unterschied ist also nicht terminologisch, sondern sachbezogen. Rechtliche Unklarheiten entstehen aber immer, wenn diesen Unterscheidung nicht klar getroffen ist.

Würde bei einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von diesem ein Grundrecht für verletzt erklärt, das in der Konvention gar nicht genannt ist, könnte eine solche Entscheidung keine Bindungswirkung erzeugen. Ginge es aber um die Erstreckung der Anwendbarkeit einer ausdrücklich genannten Grundrechtsvorschrift, wäre die Zuständigkeit des Straßburger Gerichtshofes gegeben.

Es käme also nicht, will man eine vergleichende Sicht akzeptieren, darauf an, ob der Europäische Gerichtshof eine offensichtlich nicht zu den begrenzten Ermächtigungen zählende Sachfrage entscheiden würde, sondern ob auch ein „ausbrechender“ Akt vorliegt, wenn eine begrenzte Ermächtigung überdehnt wird. Eine Vergleichbarkeit für das Europarecht ist hierbei also wohl nicht zu gewinnen, denn die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben, anders als diejenigen des Europäischen Gerichtshofs, keine unmittelbare Wirkung im nationalen Recht, sondern verpflichten nur den Mitgliedsstaat als Vertragspartner. Bei diesen internationalen Gerichten kann es also nicht um die Frage gehen, ob die Anwendung nicht nationalen Rechts abgelehnt wird, sondern ob einer völkerrechtlichen Verpflichtung nicht nachgekommen wird.

Abschließend zu diesen Überlegungen kann man zu der Feststellung gelangen, daß der Vertrag von Lissabon unglücklich, weil unklar, abgefaßt ist, denn er läßt offen, wer im hier dargestellten Zusammenhang die endgültige Entscheidung zu treffen hat. Leicht ist der Vorwurf zu erheben, die an der Ausarbeitung des Vertrags beteiligten Juristen hätten versagt. Das aber wäre ein vorschneller Vorwurf, denn versagt hat der politische Wille der Vertragspartner, Klarheit zu schaffen und die Zuständigkeitsfrage eindeutig regeln zu wollen. Der Jurist kann beratend nur den Parteiwillen zum Ausdruck bringen, aber den – offenbar nicht vorhandenen – Parteiwillen nicht ersetzen. Das Dilemma, in das diese ungelöste Frage geführt hat und noch führen wird, war vorauszusehen und ist auch vorausgesagt worden.

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind bis heute unentschlossen, was sie denn im Ergebnis anstreben wollen: einen Bundesstaat oder einen Staatenbund. Solange diese Frage nicht geklärt ist, bleibt die Europäische Union ein in gewisser Weise nebelhafter Staatenverbund. Solange sich, wie derzeit, bundesstaatliche und staatenbündische Vorstellungen ungeklärt vermischen, ist die Konfliktsituation unausweichlich.

 

Prof. Dr. iur. Dres. h. c. Karl Doehring war von 1968 bis zu seiner Emeritierung Inhaber eines Lehrstuhls für Staats- und Völkerrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg sowie Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das freie Abgeordnetenmandat („Nur ihrem Gewissen unterworfen“, JF 4/09). Minderheit begrüßt: Außenpolitisch nur kurzzeitig geächtet

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