© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/09 04. September 2009

„Was fällt, das soll man auch noch treten“
Toter Gott und moderne Gesellschaft: Ein Sammelband beantwortet die Frage nach Säkularisierung oder Rückkehr der Religion ziemlich eindeutig
Wolfgang Saur

Günther Rohrmoser bemerkte, daß in der Moderne die Gesellschaft Gott usurpiere und dessen Absolutheitsstatus beanspruche. Hier liegt der eigentliche Grund der Säkularisierung, ersetzt diese doch metaphysische Existenzfragen durch gesellschaftliche Organisations- und Emanzipationsprojekte. So wird „Gesellschaft“ als systemische und politische Matrix zum Letzthorizont, gegen den es keine Berufung gibt.

Selbst dissidentische Alternativen werden „dekonstruiert“ und vergesellschaftet – vor allem seit dem Zerfall der sozialistischen Utopie, ihrer Kollektivideen und zivilisationskritischen Einsprüche. Das ermöglicht das Zusammengehen von Liberalen und Linken, die Angleichung ihrer Destruktivkräfte. Die Linke deutet nun das systemische Grundprinzip funktioneller Differen-zierung (vormals als Fragmentierung, Entfremdung attackiert) individualistisch zu „Autonomie“ und Pluralismus um. Multikulturelle Entgrenzung und soziales „Crossing over“ (exoterisch) sowie die Destruktion aller überpersönlichen Ideen und „Wesenheiten“ durch die Wissenschaft (esoterisch) münden schließlich, so Robert Spaemann, in eine „radikale Antiutopie, die dem Gedanken der Transzendenz des Menschen in jeder Weise absagt“. Dies entspricht dem Wunschbild einer linksliberalen Gesellschaft, aus „der alle kognitiven, ethischen und religiösen Absolutheitsansprüche verschwunden sind“.

Das zu reflektieren, ist nicht zuletzt Aufgabe der Soziologie, begleitet sie doch die Industriegesellschaft seit ihren Anfängen – je kritisch oder affirmativ, pessimistisch oder zukunftsgläubig. Jedenfalls verstand sie sich meist modernitätsanalytisch. Das gilt auch für aktuelle Konzepte wie „Erlebnis-“ und „Multioptionsgesellschaft“ oder „Beschleunigung“. Besonderes Augenmerk liegt derzeit auf der Beziehung Religion–Kirche–Gesellschaft. Zu diesem Thema hielt die FU Berlin 2007 eine Ringvorlesung ab, die nun im Druck erschienen ist. Der Band zeigt alle Vorzüge und Schwächen einer zeitgeistigen, dabei intellektuell hochgerüsteten Sozialwissenschaft.

Bezeichnend, daß diese Kulturkritik von Religionsverlust und Entfremdung abgelassen hat und widerspruchlos in der aktuellen Situation aufgeht. Immerhin führt deren brutale Analyse weiter als eine obsolete „Abendland“-Rhetorik. Vier Abteilungen „Universalität und Territorialität“ (I), „Kultur-“‚ (II) und „Religionssoziologie heute“ (III) und „Kultur und Religion“ (IV), umkreisen das Rahmenthema lose. Einige Texte wenden sich der Exegese von Klassikern (Weber, Durkheim, Bourdieu) oder der Disziplingeschichte zu, so Richard Faber in seinem selbstgefälligen Rückblick auf das eigene Werk und Clemens Albrecht zur Nachkriegsgeschichte von Anthropologie und Cultural Studies.
Hier interessiert die prominente Tübinger Schule und ihr Projekt einer „Unterwanderung der Kultur“ als „er-stes Gebot“, nämlich „eine dezidierte Ideologiekritik der alten Volkskunde, einer Art geistiger Entnazifizierung der (…) Volkskultur“ und deren „Überführung in einen linken, sozial engagierten Diskurszusammenhang über ‘soziale Ungleichheit’“ (H. Bausinger). Doch bleiben zuletzt die 68er selbst auf der Strecke, indem die Medienkids sie jetzt überholen: Per Unterhaltungsindustrie und Massenmedien sozialisiert, werden für sie nicht bloß die Hochkultur, sondern auch deren Schleifung – Homer und Adorno – zugleich passé, wie der Referent bitter anmerkt.

Ertragreich ist der Band in den Themenfeldern Globalisierung und Säkularismus. Jene werde forciert durch Wissenschaft und Technik, Kommunikation und Ökonomie wie den Menschenrechtsdiskurs. Die Säkularisierung sei kaum noch umkehrbar: unter den Bedingungen funktioneller Differenzierung, diskursiver Verflüssigung und pluralisierten Gültigkeits- und Argumentationsdrucks. Wolle hier die Kirche als öffentliche Instanz mitgestalten, könne sie das nur zu den gängigen Spielregeln. So riskiere sie ihre Selbstauflösung. Schärfe sie umgekehrt religiösen Eigensinn und Profil, schrumpfe sie sektengleich. Gesetzt selbst den utopischen Fall einer Frömmigkeit aller, „bliebe die Gesellschaft säkular, solange die zweistufige Differenzierung in Wert-Geltungssphären einerseits, Funktionssystem und formale Organisationen andererseits alle anderen Differenzen (Klassen, Ethnien, Zentrum/Peripherie) bestimmt“ (H. Brunkhorst). Eine Gesellschaft, die Per-spektiven permanent steigert, Wissen ausweitet, alles Erreichte überholbar, mithin reflexiv macht und relativiert, läßt wahre Gewißheit als Unbedingtes nicht mehr zu. Damit aber werden „religiöse Sinnformen, deren Sinn es ist, Kontingenz zu bewältigen, selber kontingent“ (D. Pollack).

Die absolute Einheit entfällt und reißt auch die „kleinen Transzendenzen“ mit sich, so traditionelles Kultur- und Nationsverständnis. „Was fällt, das soll man auch noch treten“ – meint die postmoderne Linke und fordert eine „Nomadologie“ als „radikale Kritik und Abweisung des territorialen Denkstils“ (H. Berking), einen Exorzismus jedweder Homogenität. Seßhaftigkeit und Nomadentum treten nun als „feindliche Organisationsformen“ auf: Die Bedeutungsfigur von Staat–Kultur–Identität soll radikal „dezentriert“, die „maskulinen und imperialen politischen und akademischen Kulturen des Westens“ abgeschafft werden durch Globalisierung. Der Nationalgedanke und ein bo-denloser Multikulturalismus werden so zu antagonistischen „Methoden“ in Leben und Denken.

Richard Faber, Frithjof Hager (Hrsg.): Rückkehr der Religion oder säkulare Kultur? Kultur- und Religionssoziologie heute. Könighausen & Neumann, Würzburg 2009, 278 Seiten, broschiert, 39,80 Euro

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