© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/09 04. September 2009

Nein, es geht nicht mehr
Polemik: Über den entsetzlichen Wahlkampf 2009 und die Kanzlerin
Eckhard Henscheid

Seit meines Wissens 1957 nehme ich an Wahlen teil, zumal an Bundestagswahlen, aktiv und passiv. Zuerst als nur halbwegs interessierter Jüngling, dann als Wähler; bald auch als Wahlhelfer in meiner Heimatstadt, als journalistischer Wahlbegleiter, am Wahlabend als Bierholer, später auch als Wahlanalysator und -kommentator – allein und vor diesem biographischen Hintergrund: Etwas derart Langweiliges, Überflüssiges, Erwartbares, Dünnpfiffiges, Doofes, zäh nur noch sich selbst Genügendes wie die nun baldige Bundestagswahl 2009 sowie ihr Wahlkampf ist mir bislang noch nicht zugemutet worden.

Entsetzlich. Fünf, vier, drei Wochen vor dieser Wahl liegt die stärkste Partei ca. 15 Prozentpunkte vor der zweitstärksten, die Kanzleramtsinhaberin bis zu 35 Punkte vor dem Gegenkandidaten – eine solche Kluft, eine solche Langeweile hat es seit 1949 noch nicht gegeben; eine solche inhaltliche Leere, in der man Ulla Schmidt noch für die Spanien-Dienstwagenaffäre als dem kontroversesten Thema dankbar zu sein hat; bar jeder Hoffnung für den schon jetzt blamierten sozialdemokratischen Amtsaspiranten, jenseits jedes Morgenrotschimmers für seine Partei und die angeschlossenen Fernsehkommentatoren, fern jeder Hoffnung auch – für mich.

Gut, auch frühere Wahlen waren nicht immer das Gelbe vom Ei gewesen, die meisten sind restlos und zu Recht vergessen. Aber Etliches hielt und hält sich doch im Gedächtnis. Am eingraviertesten die Wahl von 1969, bei der sich die sozialdemokratische Brandtsche Kanzlerschaft erst im letzten Moment lang nach Mitternacht herauskristallisierte – und sich letztlich dankte wem? Sie wissen es nicht, sind zu jung dafür? Der NPD! Nämlich deren 4,5 Prozent verschenkten, weil zuletzt der CDU/CSU fehlenden Stimmen!

Na, auch das Titanenmatch Schmidt/Strauß 1980 hatte es ja einigermaßen in sich – und sogar die Entscheidungen 2002 (Schröder vs. Stoiber) und 2005 (Schröder vs. Merkel) verliefen zwar inhaltlich komplett gehalt- und sang- und klanglos, aber doch bis zu allerletzt jeweils numerisch extrem „spannend“ (Bettina Schausten, ZDF, u.v.a.) – aber alljetzt, Spätsommer 2009, o Gott, o Gott, und bald ist 27. September, und wir – und –
Jetzt, 2009, ein sogenannter Wahlkampf und Wahlschlußspurt, der nicht einmal aus Routine mehr besteht, sondern, seitwärts Ulla Schmidt, nur noch aus Routineritualen, einem vorgetäuschten, insofern wahrhaft betrügerischen Fight rund um die wie nichts Gutes feststehende Wiederwahl der Kanzlerin Merkel, dieser seit ihrem Amtsantritt Ende 2005 maßlos führenden Kanzlerin, dieser – mich end- und gnadenlos quälenden Zumutung Merkel. Jetzt ist’s raus.

Neinnein, ich meine hier nicht mal so sehr die tagtägliche Zumutung ihres augenschmerzenden Hosenanzugs. Noch auch nicht einmal ihren DDR-altlastenmäßig gestählten Überlebensopportunismus durch dick und doof, der es da zum Beispiel schon lange vor ihrem Kanzlerschaftsstart „eiskalt“ (A. Hitler) vermochte, den Parteifreund Martin Hohmann ohne jede Angabe von Gründen, ja ohne die mindeste Kenntnisnahme seines eigentlich ziemlich tadelsfreien Satzes über Täter-/Opfervölker ungeniert über die Klinge springen zu lassen.

Nein, worauf ich hinauswill: Ich rede hier vor allem von der tagein tagaus schmerzenden, quälenden, peinigenden Zumutung, ja Gottesstrafe typischer und übertypischer Merkelscher Sätze seit ca. 2000 und dann vor allem seit 2005: Sätze, die, ganz gleich, ob sie nun mehr ihrer eigenen Sprachhirnhemisphäre oder der ihrer (ebenfalls hosenanzugsgewappelten) Bürochefin Frau Baumann entkreucht sind, zum Aufheulen sind, zum Davonlaufen, zur Landesflucht animieren.

Ja, und von mir wird also jetzt trotzdem im Ernst verlangt, mich doch noch für einen Wahlkampf zu befeuern, bei dem lang schon feststeht, daß an seinem Ende vier (aber mindestens!) weitere Jahre lang mich Sätze und Satzbildungsversuche durchs Leben begleiten und geleiten wie die hier im Moment in meinem Kopf und strafregisterlichen Notizbuch angesammelten:

-„Die Perspektive beruht darauf, daß wir ein europäisches Unternehmen schaffen“ (Mai 2009)

- „Es geht darum, daß von seiten des Papstes sehr eindeutig festgestellt wird, daß es natürlich einen positiven Umgang mit dem Judentum insgesamt geben muß“ (Februar 2008)

- „Bayern steht da, wo der Bund hinwill“ (Juli 2008)

- „In der Mitte sind wir und nur wir. Wir sind die Mitte. Wo wir sind, ist die Mitte“ (Parteitag 2007)

Die Platitüdität solcher Sätze in Serie reicht einer ganz neuartigen „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) die schweißige Hand seitlich der schwitzfleckenfeuchten Hosenanzugsjacke. Der bestürzende Dummsinn, die behämmerte und zugleich behämmernde, die uns am Ende richtig zuschüttende Impertinenz, die der einstmals mitteldeutsche Seelenknödel im Hosenanzug täglich, ja wer weiß (und wäre nicht gerne nah dabei) stündlich produziert und ausschüttet: Er überragt inzwischen längst die oftmals ja sogar kunstvolle Nichtigkeit der Rede ihres Lehrmeisters Helmut Kohl oder aber auch die Komik eines komischen Selbstläufers, dessen Banausität bis hin zur Debilität aber ja ohnehin mehr eine sich selbst fortzeugende Legende war.

„Equal goes it los“ hat natürlich Heinrich Lübke nie gesagt, sondern ein von solchen probaten Witzen mühvoll vegetierender Spiegel-Redakteur zu seiner Selbstexkulpation erfunden – dagegen stammt sehr wohl und unwohl und unverkennbar aus der mundweitoffenen Quelle Merkel/Baumann, daß

- „Eckpunkte in die richtige Richtung weisen“ (Oktober 2006)-

 „Münteferings Verhalten mit der Würde einer Volkspartei unvereinbar ist“ (September 2008) sowie:

- „Die Weltsicherheitskonferenz bedeutet eine fundamentale Weichenstellung.“

Ob sie selber glaubt, was sie da bedrückend genug uns vorfaselt? Ob sie nie etwas von einem Metaphernkollaps (Katachrese) gewittert, verspürt, gehört hat, der es dem Sprechenden nun mal verbietet, eine Weiche ins Fundament zu fahren – zumal als gelernte angebliche Naturwissenschaftlerin! Ob sie niemals zu ahnen vermocht hat, welch einen entsetzlichen Phrasenjargonauflauf, was für einen Stiefel an Zerebralflatulenzen sie da Tag für Tag beinahe ohne Ausnahme und approximativ Satz für Satz zusammenseiert, weit übers Berufsübliche und -obligate hinaus in den schieren Nonsens hinein?!

Je länger sie schon als Kanzlerin amtiert, desto souveräner, ja pudelwohler fühlt sie sich offenbar dabei. Sobald sie den Mund aufmacht, kann man Wetten darauf abschließen, daß eine Gedankenlosigkeit, eine Phrase, ein Quatsch dabei rauskommt

– oder noch weniger, gar nichts:

- „Wir sollten das Auto nicht zum Buhmann der Nation machen“ (Juni 2009)

- „Karl Lehmann ist einer der bedeutendsten Theologen der Gegenwart“ (Mai 2005) – obwohl nun ausgerechnet der gar kein Theologe, sondern, wenn überhaupt was, ein episkopaler Praktiker ist

- „Nicht jede Auseinandersetzung bedeutet eine Kontroverse“ (2008)

- „Ich will Deutschland dienen“ (Wahlkampf 2005)

- „Ich will Deutschland nach vorne bringen“ (ebd.)-

 „Ich will, daß Deutschland die Nase vorn hat“ (ebd.)

„Wo man hinschaut, wird den Augen schlecht“ (Erich Kästner, „Selbstmord im Familienbad“); wo Merkel den Mund aufmacht, immer den Ohren und den ohnehin genügend strangulierten Sprachnerven. Erinnert sei hier daran, daß der Vorgänger Kohl zum Beispiel 1990 der DDR „ein Stück weit entgegenkommen“ will – die Nachfolgerin Merkel aber (zitiert nach Axel Hacke, 2008) der Reihe nach „ein Stück stolz“ ist, „mit einem Stück Stolz auf die deutsche Wirtschaft“ sieht, „als Europäer mit einem Stück Stolz erfüllt ist“ – und es aber auch schon am 11. September 2001 ein paar Stunden nach dem WTC-Crash im Fernsehen fertig und den Unsterblichkeitshammer über sich gebracht hat, „ein Stück weit fassungslos“ nach New York oder über die Welt oder wohin auch immer zu starren; ehe sie dann aber doch nach Momenten der stückweiten Rat-, ja Fassungslosigkeit als CDU-Chefin damals schon zumeist im prallen Hosenanzug einfach sturheil weitermacht; ohne von der Phrasenkriminalpolizei der Höllenstrafe überantwortet zu werden – und auch für das folgende Artefakt, gegackert vor drei Jahren an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem, ging der Brotbrocken im Hosenanzug leider ungewatscht aus dem Wortinferno:

„Ich bin tief beeindruckt und auch im Namen Deutschlands mit tiefer Scham erfüllt. Diese Beziehungen werden immer besondere Beziehungen in Erinnerung an die einzigartigen Vorgänge bleiben.“

Das Leben ist ein Traum der Hölle (Shakespeare). Ein Entsetzen. Das schiere Grauen. Die Beziehungen werden immer in Erinnerung an Vorgänge bleiben. Genau. Der unendlichen Platitüde gesellt sich die zutiefst unmoralische Vulgarität bei. Und diese Lästigkeit, diese Wortpein, dieses Sprechmonster ohnegleichen soll nunmehr gegen Steinmeiers und Münteferings kraftlosen Willen weitere vier Jahre nerven, soll weitere acht, zwölf, wer weiß sechzehn (über Kohl hinaus) Jahre im Amt verweilen und unser Leben mit endlosem Schmerz und Schmadder übertünchen?! Dieser monate-, jahre-, ja vielleicht schon jahrzehntelang auf uns eindreschende und uns knechtende gedanken- und verantwortungs- und letztlich „gottlose“ (J. Ratzinger) Seich und Schmarren und Sondermüll soll nun mich ergo an eine Wahlurne locken, dieser also ohnehin unverhinderbare Wortdreck aus dem immer wuchtiger sich wölbenden Dings äh: Hosenanzug heraus und …

Uff. Allein, die Sache ist ja noch – komplizierter, unlösbarer. Denn wer wälzt sich zum Beispiel gleich nach Beendigung dieses leidenschaftlichen Artikels wieder im sommerlichen Schwimmbad? Nicht im drallen Hosenanzug – sondern, aber holla, in leichter, fast anmutiger Badehose! Mit entspanntem Blick auf noch graziösere Damentrikots!

Und wem aber verdankt er all sein Glück? Doch keiner – hm – anderen als Jener im (zum vorletzten Male) knödeligen Hosenanzug. Mit diesem zudem (eine besondere TV-Augenpein!) allzeit um 6,5 Zentimeter zu hoch geknöpften obersten Knopf am Hosenanzugsoberteil, das sich aber eben dadurch gleich noch enervierender spannt!

Ahaaber einer – eine! – muß den ganzen Quatsch ja für uns machen. Für uns, ihre hier haltlos vor sich hin schimpfenden Neider und Nutznießer, diese negativistisch im Freibade lungernden Faulpelze. Also, warum dann eigentlich nicht ein Lebewesen namens Merkel in allzeit unverdrossenster Quatschigkeit und entsetzlichster Power durch dumm und dummdreist und …

Ich habe es getragen schon vier Jahr’. Und wird’s halt, damit hier auch schon wieder meinen Wahlkampf beschließend, bei meinem Barte noch weitertragen ca. zwanzig. Mit Ergebung und mit Demut, ja mit letzten Endes Lust. Hussa!

 

Eckhard Henscheid, Jahrgang 1941, ist einer der bekanntesten Schriftsteller („Trilogie des laufenden Schwachsinns“, „Maria Schnee“) und Satiriker Deutschlands. Er gehörte zu den Mitbegründern der „Neuen Frankfurter Schule“, publizierte im Satiremagazin „Titanic“, in der „FAZ“ und in „Konkret“. Die Gesamtausgabe seines Werkes ist in zehn Bänden bei Zweitausendeins erschienen.

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