© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/09 28. August 2009

Mehr Licht ins frühe Dunkel
Die ersten Europäer
Wolf Tietze

Seit dem Ende der letzten großen Eiszeit in Europa vor gut 10.000 Jahren hat eine launisch wechselhafte Klimaerwärmung den Menschen hier – unseren Vorfahren – gänzlich neue Lebenschancen eröffnet. Nach den Spielregeln der Evolution haben sie fortgesetzt schnelle Anpassungen verlangt. Über diese vielfältigen Prozesse haben sich zahlreiche Einzelkenntnisse angesammelt. Zusammenfassende Darstellungen dagegen sind mühsam und selten. Aus dem 20. Jahrhundert liegen uns nur zwei größere und nicht unumstrittene Werke vor: von Gustav Kossinna (1912, 8. Auflage 1941) sowie die drei Bände von Hans Reinerth (1986).

Jetzt bietet Helmut Schröcke eine umfassende Aktualisierung bis etwa zum Jahre 1000 nach Christus an. Wichtig hierbei sind in der Chronolistik die Fortführung der Dendrochronologie und die Korrektur der Datierungen aufgrund des C14-Verfahrens. Demgemäß sind die Anfänge der Bandkeramik von 3200 auf 5800, der Schnurkeramik von 1900 auf 2800 und der Bronzezeit von 1800 auf 2300 vor Christus vorzuverlegen. Offenbar entwickelte sich schon vor dem Aufkommen der Bandkeramik die „Depigmentierung“: die Entwicklung der hellen Haut- und Haarfarbe und der Blauäugigkeit, wie sie die Menschheit nirgendwo sonst erlebt hat.

Außergewöhnlich früh (etwa 6000 vor Christus) entsteht hier auch der Ackerbau, bald schon einschließlich Fruchtwechsel und Düngung. Besiedelt waren insbesondere die Lößgebiete von der Seine bis zum Djnepr mit Hektarerträgen bis zu 900 Kilo im vierten vorchristlichen Jahrtausend. In 700 gleichzeitig bewohnten in Siedlungen zwischen Thüringen und der mittleren Elbe lebten etwa 25.000 Menschen, die am Beginn der Bronzezeit nicht nur das Rad erfunden, sondern auch zwei und vierrädrige Wagen in Gebrauch hatten und den astronomischen Kalender beherrschten – mehrere Jahrhunderte vor solchen Fortschritten im Nahen Osten.

Zu den weiteren Neuerkenntnissen ist zu zählen, daß die Völkerwanderungen der Spätantike bzw. des Frühmittelalters nicht leere Räume zurückließen, es also immer eine autochthone Stammbevölkerung gegeben hat, was zudem vermuten läßt, daß die Slawen Nachkommen ostgermanischer Stämme sein könnten und sich ihre sprachliche Trennung daraus erklärt, von wo ihre erste christlichen Missionierung erfolgt ist. Schröckes Werk ist eine Fundgrube von faszinierenden weiteren neuen Erkenntnissen über die Anfänge unserer Geschichte.

Helmut Schröcke: Die Vorgeschichte des deutschen Volkes. Indogermanen – Germanen – „Slawen“. Grabert Verlag, Tübingen 2009, gebunden, 813 Seiten, Abbildungen, 34,80 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen