© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/09 28. August 2009

Deutsch-polnischer Nervenkrieg
Grenzzwischenfälle im Sommer 1939: Der Rundfunksender Gleiwitz als Symbol der Eskalation der Kriegsschuldfrage
Stefan Scheil

Der polnische Grenzbeamte zeigte sich gegenüber einer ausreisenden Deutschen ehrlich besorgt. Sie solle doch nicht dort rüber gehen. Deutschland habe den Krieg bereits verloren. Als die Feldpolizei der deutschen Streitkräfte diese Informationen am 26. August 1939 zu ihren Akten nahm, konnten sie nicht einmal als etwas besonderes gelten.

Im deutsch-polnischen Grenzgebiet kursierten in der zweiten Hälfte dieses Sommermonats 1939 zahlreiche Informationen ähnlicher Art. Dazu gehörten Gerüchte über deutsche Aufmarschpläne und geplante polnische Aktionen gegen gewisse Rundfunksender, aber auch über polnische Plakatanschläge im Grenzgebiet, warum man diesen Krieg gegen Deutschland jetzt führen müsse und führen könne.

Zwischen Information und Desinformation

Mit der Ankündigung kommender Offensiven bis nach Berlin und neuen Grenzen an der Oder wurde die polnische Bevölkerung in Kriegsbereitschaft versetzt. Ein Informant aus dem polnischen Generalstab wollte gar in Erfahrung gebracht haben, daß man dort einen Überfall auf Deutschland ohne Kriegserklärung plane. Diese Information wurde am 24. August der grenznah stationierten deutschen Luftwaffe zugeleitet. Die künftigen Kriegsgegner machten beide in jeder Weise mobil, militärisch wie publizistisch. Information und Desinformation lagen nah beieinander. Es war ein Nervenkrieg vor dem Krieg, und in Warschau vertrat man Ende August die Ansicht, Deutschland habe ihn verloren.

In den Rechtfertigungsstrategien der kriegführenden Mächte des zwanzigsten Jahrhunderts spielte der bewaffnete Zwischenfall eine besondere Rolle. Obwohl Kriegsschuldfragen schon früher an Verantwortungszuweisungen für Rechtsbruch und Gewalt gebunden waren, erreichte dies jetzt unter den Bedingungen der anschaulichen Massenkommunikation eine neue Qualität.

Unter diesem Aspekt betrachtet, begann das oft als „kurz“ bezeichnete zwanzigste Jahrhundert nicht erst 1914 mit dem Attentat von Sarajewo, das den Ersten Weltkrieg auslöste, sondern 1898 im kubanischen, also damals noch spanischen Havanna, als dort das amerikanische Schlachtschiff Maine explodierte. Die Ursachen dafür konnten nie ganz geklärt werden, aber die Folgen waren drastisch. Der Explosion folgte der amerikanisch-spanische Krieg, der das Ende der spanischen Herrschaft über Kuba und Länder wie die Philippinen brachte.

Damit war ein Muster vorgegeben, das im zwanzigsten Jahrhundert besonders Schule machte. Immer wieder haben wirkliche oder vermeintliche Übergriffe zur Rechtfertigung von Kriegshandlungen gedient – ob ein deutsches U-Boot das Passagierschiff Lusitania versenkte, das tatsächlich seine Passagiere als menschliche Schutzschilde für Waffentransporte benutzte, oder ob der Tonking-Zwischenfall mit dem amerikanischen Zerstörer Maddox 1964 den Vietnamkrieg auslöste. Immer wurde im nachhinein lange gestritten, ob und wer denn nun eigentlich mit welchem Recht geschossen habe.

Im September dieses Jahres wird es siebzig Jahre her sein, daß der deutsche Staats-, Regierungs- und Parteichef Hitler vor die Weltöffentlichkeit trat und verkündete, seit einigen Stunden werde „zurückgeschossen“. Gemeint war der gerade begonnene deutsche Angriff auf Polen, der nicht nur eine Reaktion auf die seinen Ausführungen nach von Großbritannien provozierten polnischen Angriffsabsichten gewesen sei, sondern auch eine direkte Antwort auf angebliche polnische Schießereien an der Grenze und auf deutschem Staatsgebiet. Polen sei mit regulären Truppen auf deutsches Gebiet vorgestoßen, wie er betonte.

Schon Ende August fielen an der Grenze Schüsse

In den Monaten danach folgte zwischen den neuen Kriegsparteien in sogenannten Farbenbüchern ein publizistischer Schlagabtausch darüber, ob dies alles denn nun wahr sei. Dem französischen Gelbbuch, dem britischen Blaubuch und dem polnischen Weißbuch setzte die deutsche Regierung eine eigene Darstellung entgegen. Das Auswärtige Amt stellte für diesen Zweck fast fünfhundert Dokumente zusammen, darunter eine vierundvierzig Punkte umfassende Liste von Orten und Daten, an denen von Polen verschuldete Grenzvorfälle geschehen sein sollten.

Weltberühmt wurde nach 1945 der angebliche polnische Überfall auf den Rundfunksender Gleiwitz, von dem ein Zeuge während des Nürnberger Prozesses aussagte, er sei von einem SS-Kommando inszeniert gewesen. In der nationalsozialistischen Rechtfertigungsliteratur spielte er während des Krieges praktisch keine Rolle. Auch das Auswärtige Amt hatte nicht behauptet, dort seien reguläre polnische Truppen aufgetreten.

Die 1945 entfachte Aufregung über diesen Überfall reduzierte das kollektive Gedächtnis deshalb in erstaunlichem Ausmaß auf diesen Punkt. Es wurde verdrängt, daß die Staaten im Sommer 1939 eine umfangreiche und komplizierte Krise wechselseitiger Kriegsdrohungen und Mobilisierungen durchlebten.

An der deutsch-polnischen Grenze wurde Ende August tatsächlich täglich geschossen – von beiden Seiten. Zahlreiche im Bundesarchiv erhaltene Dokumente belegen dies, die damals nicht für politische Zwecke erstellt oder veröffentlicht wurden. Ein deutscher Armeebefehl gab das Feuer bereits am 21. August frei, für den Fall polnischer Grenzverletzungen „in offensichtlich kriegerischer Absicht“.

Ein anderer Befehl wies zugleich darauf hin, daß aus polnischen Grenzverletzungen durch reguläre Truppen oder irreguläre Verbände keine ausgedehnten Kampfhandlungen entstehen dürften. Es ging für beide Seiten darum, die Verantwortung für einen heißen Krieg möglichst offensichtlich auf den Gegner abzuladen. Dagegen lehnte Militärchef Edward Śmigły-Rydz den von polnischen Generälen vorgeschlagenen Angriff auf den deutschen Truppenbestand in Schlesien ab – wegen der ungünstigen außenpolitischen Folgen.

Gleiwitz als Gegenstand
militärischer Spekulation

Auch Gleiwitz selbst wurde bereits vor dem Kriegsausbruch zum Gegenstand militärischer Spekulationen. Die spätere symbolische Bedeutung des Ortes kündigte sich kurz vor und nach dem 1. September 1939 bereits an. So sei die Stadt nach Ansicht des polnischen Militärs im Kriegsfall von den Deutschen nicht zu halten, meldete ein Verbindungsmann aus Polen am 27. August. Die polnische Schule im Nachbarort Hindenburg sei von polnischen Bewaffneten mit Maschinengewehren besetzt, die nicht aus dem Gebäude vertrieben werden könnten und in den Ort hineinschießen würden, stellte ein Bericht des Hauptzollamts Gleiwitz mit Datum vom 1. September fest. Auch habe reguläres polnisches Militär dort einen Übergriff deutscher Freikorps auf polnisches Gebiet erfolgreich zurückgeschlagen.

Die polnische „Besetzung von Gleiwitz“ werde auf der polnischen Seite der Grenze lebhaft begrüßt, diese Nachricht brachte ein Verbindungsmann aus Myslowitz. Man erwarte in der Bevölkerung dort mehr in dieser Hinsicht. Ähnliches besagten die Nachrichten aus der polnischen Armee. Deren Offiziere unterrichteten die Einheiten mündlich über das „Vorrücken der polnischen Armee nach Berlin“, hieß es am 6. September. Den Mannschaften werde mitgeteilt, daß die polnischen Truppen bereits Danzig, halb Ostpreußen und Gleiwitz besetzt hätten. Auf den Einwand der Soldaten, daß sie sich dauernd zurückziehen müßten, werde ihnen von den Offizieren erklärt, hier hätten die Deutschen eben die schwächste Stelle der polnischen Front gefunden. So ergänzten sich bereitwillig gelieferte mit gerne geglaubten Desinformationen zu einem Gesamtbild, an dem wenigstens eines richtig war: Wie der polnische Grenzbeamte gesagt hatte, hatte Deutschland den Krieg bereits verloren, wenn nicht den militärischen Krieg gegen Polen, so doch den Nervenkrieg und den kommenden
Weltkrieg.

 

Dr. Stefan Scheil, Historiker, ist Autor der Studie „Fünf plus Zwei – die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“, Duncker & Humblot, Berlin 2009, broschiert, 533 Seiten, 34,80 Euro. Informationen unter www.symposion.org

Foto: Antennenturm des Senders Gleiwitz (2007): In der nationalsozialistischen Kriegsrechtfertigung spielte der fingierte Überfall keine Rolle, Polnisches Propaganda-Plakat (1939): „Na Berlin – Nach Berlin“

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