© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/09 21. August 2009

Heimat – Teil 2
Was ist Heimweh?
von Frank Lisson

„Vor aller Geworfenheit ist der Mensch in die Wiege des Hauses gelegt.“ So schrieb Rainer Gebhardt in seinem Beitrag auf dem Forum (JF 26/09), mit dem er eine Artikelreihe zum Begriff der „Heimat“ eröffnete. Die Reihe wird heute fortgesetzt von Frank Lisson, der den Akzent von der Heimat auf das Heimweh verschiebt und das Aufkommen dieses Gefühls aus den Seinsbedingungen der Neuzeit erklärt. (JF)

 

Es gibt ein Gefühl, das den unbehausten Zustand des Menschen, das Unaufgehobensein in der Welt wie kaum ein anderes erfaßt: Heimweh. – Vielleicht entsteht „Heimat“ erst durch die Erfahrung der „Fremde“. Und „Heimweh“ erst durch die Bewußtwerdung des Verlustes von Orten, an denen man sich nicht „fremd“ fühlt. Um Heimat zu erfahren, bedarf es der Erfahrung von Abgrenzung und von räumlicher wie zeitlicher Geschlossenheit. Deshalb kann es in einer schrankenlosen, globalisierten Welt, in der die Grenzen von Raum und Zeit quasi aufgehoben sind und der „Ort“ eines Menschen gleichsam beliebig geworden ist, keine wirkliche Heimat mehr geben. Durch Ausweitung des Blicks, durch den Abbau von „Grenzen“ in Raum und Zeit verliert sich das Heimatgefühl. Und mit dem Gefühl von Heimat schwindet notwendigerweise auch das Bewußtsein für deren Verlust. Das Heimweh verläßt die Welt.

In keinem anderen Kulturkreis ist der Begriff des Heimwehs gehaltvoller konnotiert als im Abendland, und dort wiederum nirgendwo emotional stärker aufgeladen als im Deutschen. Die ewige Suche nach Heimat und die Frage, was das eigentlich genau sei, hat vielleicht keine Nation je mehr beschäftigt als diejenige, der es von jeher zu allen Seiten an klaren geographischen Grenzen fehlte.

Das späte 18. Jahrhundert mit seinen Ideen der Aufklärung, die dem alten, streng hierarchisch gegliederten Weltbild ein freiheitliches und säkularisiertes entgegenstellten, der soziale und politische Aufstieg des Bildungsbürgertums, die damit verbundene allgemeine revolutionäre Stimmung in Europa, ferner die sich anbahnende Industrialisierung – das alles wirkte zutiefst verunsichernd und hoffnungsfroh zugleich. Eine besonders treffende Beschreibung dieses Zustandes findet sich bei Joseph von Eichendorff in dem Aufsatz „Preußen und die Konstitutionen“: „Und das ist das schlimmste, wenngleich unvermeidliche Stadium solcher Übergangsperioden, wo das Volk nicht weiß, was es will, weil es weder für die Vergangenheit, die ihm genommen, noch für die Zukunft, die noch nicht fertig, ein Herz hat. Denn das Volk lebt weder von Brot noch von Begriffen allein, sondern recht in seinem innersten Wesen von Ideen. Es will etwas lieben oder zu hassen haben, es will vor allem eine Heimat haben im vollen Sinne, das ist seine eigentümliche Atmosphäre von einfachen Grundgedanken, Neigungen und Abneigungen, die alle seine Verhältnisse lebendig durchdringe.“

Die Idee der Heimat hing an der Idee eines Raumes, der sich konkret fassen ließ, weil er der Ort ebenjener „eigentümlichen Atmosphäre“ war. Man beachte daher die Entstehung und den Wandel des Raumgefühls im Abendland: Das Griechische und Lateinische kennt nicht einmal ein Wort für das, was wir heute mit „Raum“ bezeichnen. Auch das Problem von „Heimat“ im hier gemeinten Sinne stellte sich im Bewußtsein des antiken Menschen noch nicht. Für den Griechen gab es nur eine „Heimat“, die Polis. Dagegen steht das römische Ubi bene, ibi patria, das erst aus der Erfahrung (okkupierter) weiter Räume entstehen konnte. So dachten auch die griechischen Kolonisten, die „Heimat“ exportierten, indem sie behaupteten, wo wir sind, ist die Polis.

Die antike, vor allem die spätantike Welt war in weiten Teilen so mobil und „global“, wie es die heutige Zivilisation ist. Die Enge des eigenen Raumes, der Polis, des Verbandes, der Phratrie, bildete noch keinen Widerspruch zur Erfahrung des „Fremden“. In Städten wie Milet, Athen, Alexandria, Karthago oder Rom tummelten sich Menschen des gesamten antiken Erdkreises. Und auch die großen Wanderzüge der Alten Welt, vom Auszug Israels aus Ägypten über die Landnahmen der Griechen, Phönizier, Italiker bis hin zu den keltisch-germanischen Völkerwanderungen, waren kaum mit dem Gefühl des „Heimatverlustes“ verbunden. Für den antiken Menschen ergab sich „Heimat“ über das „Haus“ (oikos), sie beschränkte sich auf den engen Rahmen seines Wirkungskreises. Und die späteren Christen fanden „Heimat“ allein in Gott. Identifizierte sich der antike Mensch stets durch seine Herkunft (der Sohn von X, aus der Stadt Y), zählte für den Christen nicht mehr, wo er herkam, sondern nur noch das Bekenntnis, wohin er gehe: ob er „Heide“ blieb oder Erlösung in Gott suchte.

„Heimweh“ ist daher ein vor allem neuzeitliches Phänomen. Und es wuchs, je mehr sich der „Raum“ durch die Erschließung der Welt weitete und sich die postreligiösen Geborgenheitsstifter wie Nation, Standeszugehörigkeit oder geschlechtliche Rollenbilder aufzulösen begannen. Der aggressive Nationalismus Europas im 19. und 20. Jahrhundert war zum Teil Reaktion auf diese Erfahrung und zugleich Ausdruck der Angst, sich in den Weiten des geistig wie geographisch erschlossenen Raumes zu verlieren.

Erst seit dem späten 18. Jahrhundert steigen Menschen vermehrt auf Berge, die Weite des Raumes suchend und genießend. Das Wort „Ferne“ bekommt plötzlich einen wehmütigen Klang. Aus der Furcht vor der Fremde, dem nicht Heimischen, also Un-Heimlichen wird eine Sehnsucht, ein Versprechen, von dem jeder weiß, daß es unerfüllt bleiben muß. Die Faszination, „Grenzen“ zu überschreiten, „fortzugehen“, seinen „Horizont zu erweitern“ – all das, worin der Mensch zugleich eine „Erweiterung“ seiner selbst durch Erfahrung des Raumes erhofft –, ist größer als die Angst vor dem Verlust dessen, was im Abendland als „Heimat“ empfunden wurde. Aber sie schwingt immer mit. Und dadurch entsteht Heimweh und Melancholie: Der Raum entbindet den in die Ferne strebenden Menschen, indem er ihn „freigibt“ und in jeder Bedeutung des Wortes „ortlos“ werden läßt. Der seine Ortlosigkeit empfindende Mensch verlangt also nach neuen Gewißheiten und beginnt diese in den Dingen selbst zu suchen. Sein Wille nach Authentizität erwacht.

Die Nachkommen der Kriegsgeburten, also die Kinder der sogenannten „68er“, sind oft als die erste wirklich heimatlose Generation bezeichnet worden. Denn die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die in ihren Langzeitwirkungen gar nicht zu überschätzen sind, bilden vielleicht die bisher schärfste, weil folgenreichste Zäsur in der Geschichte des modernen Menschen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schuf sich der Mensch einen neuen „Schöpfer“ und „Herrn“: die ihn latent beherrschende Technik, die in die Automatisierung des Denkens und in die Digitalisierung des Lebens führte. Es waren zugleich die Jahrzehnte substantiellen Heimatverlustes: Mondlandung, Popmusikbewegung und Kulturindustrie haben nicht nur das Raumgefühl, sondern auch das Selbst-Verständnis des Menschen insgesamt in wenigen Jahrzehnten ganz wesentlich verändert. Der Blick aus dem Weltall auf die Erde, die Erfahrung einer „gemeinsamen“ oder „verbindenden Sprache“ über die Popmusik und die (elektronischen) Massenmedien (man denke an die Wirkung von Michael Jackson durch MTV), der tiefe Einschnitt in das Denken und Verhalten durch Computertechnik, die Sexualisierung sowie die Erfahrung der Konsumierbarkeit aller Dinge, deren Auswirkungen erst heute richtig bemerkbar werden, haben die mentalen Grundlagen des abendländischen Heimatgefühls fast gänzlich aufgehoben.

Deshalb ist früh der Versuch unternommen worden, die „wahre Heimat“ vom Geistigen und Visionären her zu erschließen und sie dann über bestimmte Objekte „real“ werden zu lassen. Die meisten Romantiker verlegten sie in das Land der Träume oder in das der Vorväter. Hatte man bereits mit Herder das Volk als identitätsstiftende Größe entdeckt, erkannte man bald auch die Bedeutung des Bodens, den es bewohnte: Hier bekam Heimat ihren konkreten Ort in der Landschaft. Das „Reich“ ersetzte das „Himmelreich“, der Kaiser wurde zum „weltlichen Gott“, und die alte Sehnsucht nach (sakraler) Erlösung mündete in der Sehnsucht nach einem nationalen „Führer“, der dem Volk den Weg aus der Seinskrise weise. Die Sehnsucht nach einem solchen Führer (von Barbarossa bis Hitler) war die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat, in die jener Heiland zurückführen sollte.

Die Romantiker verstanden es, aus dem Gefühl der Heimatlosigkeit eine kreative Melancholie zu schöpfen. Ihre Dichtungen tragen oft Züge einer programmatischen Lust am entwurzelten Schweben im Unendlichen. Novalis fragt: „Wohin führt der Weg? – Immer nach Hause.“ Dieses Zuhause ist jedoch ein Ort, von dem niemand weiß, wo genau er liegt, da es sich dabei stets um etwas Ideelles handelte: Religion, Nationalismus, Sozialismus, Demokratie.

Ab 1900, mit Aufkommen der „Moderne“, wächst als Reaktion darauf die Suche nach einem Heiland, der das Volk endlich auch seelisch vereine und dessen metaphysische wie räumliche Heimat schütze. Man ersehnt einen Visionär, der das „Deutsche“ als das Heimatliche festigt, da es im Zuge nihilistischer Strömungen dem allgemeinen Bewußtsein verlorenzugehen droht. „Lehrer“ des Volkes sind gefragt, die zum „Ursprünglichen“ und „Echten“ zurückführen, heißen sie nun Paul de Lagarde oder Julius Langbehn. Bücher wie „Rembrandt als Erzieher“, „Luther“, „Nietzsche“ oder „Bismarck als Erzieher“ finden reißenden Absatz.

Das Bedürfnis nach Heimat ist zugleich das Bedürfnis nach Identität. Und beides, die Rettung von Heimat und Identität, wird von einem kommenden großen Reformer erwartet, der wiederherstellen soll, was eigentlich nie wirklich erreicht worden war. 1924 ruft sogar der jüdische Germanist Friedrich Gundolf nach einem neuen Cäsar, räumte aber ein: „Wie der künftige Herr oder Heiland aussieht, weiß man erst, wenn er waltet.“ Später bringen die Nationalsozialisten dieses unbedingte Verlangen nach „Heimat durch Einheit“ auf die Formel: „Hitler ist Deutschland und Deutschland ist Hitler.“ Oder: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer.“

Zweifellos erhielt das deutsche Denken seine wesentlichen Impulse aus dem Denken unter den Bedingungen einer solchen Heimatlosigkeit. Und diese Bedingungen sind es, die berücksichtigen muß, wer den Urschmerz deutscher Philosophie verstehen will. Die Sorge um das Heimische bildete das Zentrum, von wo aus „rechtes“ wie „linkes“ Denken im 19. und 20. Jahrhundert nach verschiedenen Wegen der Heilung suchten und von wo aus im Ergebnis so unterschiedliche Denker wie Martin Heidegger und Ernst Bloch, die beiden großen Dichterphilosophen des Heimwehs, ihren gemeinsamen Anfang nahmen.

Bei Ernst Bloch taucht der von Novalis bereits vorweggenommene Gedanke der irrealen, also bloß gesuchten Heimat mit aller Wucht und Schwere wieder auf. Heimat sei ein Erinnern an etwas, das noch nicht ist, aber dennoch gewußt wird, ein sich Zurückfinden, „aber eben in eine Heimat, in der man noch niemals war und die dennoch Heimat ist“. Insofern muß Rainer Gebhardts Behauptung (JF 26/09), Blochs Diktum sei nicht plausibel, widersprochen werden. Wenn Gebhardt sagt, das Gegenteil sei der Fall: „Heimat ist der Ort, an dem wir zuerst waren“, dann argumentiert er entwicklungspsychologisch, aber nicht philosophisch und legt die Vermutung nahe, Bloch gar nicht verstanden zu haben. Denn der philosophische, das heißt idealistische Heimatbegriff unterscheidet sich allerdings ganz wesentlich vom konkreten, materiellen.

Heidegger verstand beide Ebenen in sich zu vereinen: Er rang um eine metaphysische Heimat, die er am ehesten im Denken der Griechen zu finden meinte, und blieb zugleich bodenständig und herkunftsorientiert. Dennoch verlor auch er die von Bloch angesprochene Problematik nicht aus den Augen.

Für Heidegger stellte sich über den Begriff und das Wesen der Heimat die vielleicht elementarste Frage des (modernen) Menschen überhaupt: „Denn es bedarf der Besinnung, ob und wie im Zeitalter der technisierten gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann.“ – Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal, Heimweh zum abstrakten Gefühl, sobald dem Menschen das Bewußtsein dafür abhanden kommt. Ist der Prozeß jedoch vollzogen, schwindet damit auch das Bedürfnis nach „Heimat“ im abendländischen Sinne – und das Heimweh wird gegenstandslos.

 

Frank Lisson: Jahrgang 1970, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie und arbeitet als freier Autor. Zuletzt veröffentlichte er „Homo absolutus. Nach den Kulturen“ (Edition Antaios, Schnellroda 2008).

Foto: Caspar David Friedrich, „Neubrandenburg im Morgennebel“ (Öl auf Leinwand, um 1816/17): Früh ist der Versuch unternommen worden, die „wahre Heimat“ vom Geistigen und Visionären her zu erschließen und sie über bestimmte Objekte real werden zu lassen. Die meisten Romantiker verlegten sie in das Land der Träume oder in das der Vorväter.

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