© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/09 21. August 2009

Eine Serie von Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof / Teil 11
Die letzten Stunden vor dem Kriegsausbruch
Erst am 31. August um 19 Uhr scheiterten die allerletzten Vermittlungsversuche zwischen polnischen, deutschen und britischen Diplomaten

Am Mittag des 31. August 1939 kam noch einmal Bewegung in das verhängnisvolle Spiel. Um 12.40 Uhr ging eine Depesche per Funk vom polnischen Außenminister Józef Beck an Botschafter Józef Lipski in Berlin, wo sie von der deutschen Funkaufklärung mitgeschnitten und entschlüsselt wurde. Danach hatte diese Weisung einen Anhang, der lautete: „Lassen Sie sich unter keinen Umständen auf sachliche Diskussionen ein. Wenn die Reichsregierung mündliche oder schriftliche Vorschläge macht, müssen Sie erklären, daß Sie keinerlei Vollmacht haben, solche Vorschläge entgegenzunehmen oder zu diskutieren, und daß Sie ausschließlich obige Mitteilung Ihrer Regierung zu übermitteln und erst weitere Instruktionen einzuholen haben.“

Mit der Vorlage dieser mitgehörten Weisung bei Hitler, Göring und von Ribbentrop platzte die beinahe letzte Chance für den Frieden. Es war inzwischen 13 Uhr, noch 16 Stunden bis zum festgesetzten Beginn des Wehrmachtangriffs gegen Polen. Nach etwa zwei Stunden weiteren Überlegens schlug Birger Dahlerus Göring vor, er sollte nun selbst Verhandlungen mit der britischen Regierung aufnehmen. Beide Männer wußten, daß mit den Polen in dieser festgefahrenen Lage keine so schnelle Verständigung mehr möglich war, daß sie die Wehrmacht hätte stoppen können.

Göring fuhr zu Hitler, um sich neue Gespräche mit der britischen Regierung genehmigen zu lassen. Der war zwar mehr als skeptisch, doch er billigte sofortige Gespräche Görings mit Henderson und den Vorschlag, London für Polen mitverhandeln zu lassen. Hitler wußte, daß ihn das nun sichere Ausbleiben eines polnischen Verhandlungsführers sonst vor die Wahl stellen würde, Danzig und die deutsche Minderheit in Polen aufzugeben oder Polen in 14 Stunden anzugreifen. Der direkte Weg über London war damit auch seine letzte Chance für eine Verständigung mit Großbritannien. Hitler war offensichtlich auch jetzt noch – am Nachmittag vor Kriegsausbruch – bereit, den Polen-Feldzug abzublasen. Sonst hätte er Göring in dieser Stunde festgehalten.

Dahlerus eilte derweil in die britische Botschaft, um dort den Boden zu bereiten. Dahlerus zeigte Henderson den entschlüsselten Text der Weisung Becks an Lipski und machte damit deutlich, daß es in dieser hochbrisanten Lage nur noch die Möglichkeit gäbe, den Frieden zu erhalten, wenn Göring und Henderson zu einer Verständigung über ein Programm für deutsch-britische Verhandlungen kämen. Um 16.30 Uhr kam die Konferenz mit Henderson, Göring und Dahlerus zustande. Göring empfing Henderson besonders herzlich. Beide bemühten sich offensichtlich, eine günstige Atmosphäre für das anstehende Gespräch zu schaffen. Göring schlug dem britischen Botschafter vor, Verhandlungen zwischen Deutschland und Großbritannien einzuleiten, bei denen London auch für Warschau mitverhandeln sollte. Das Chiffretelegramm von Beck an Lipski als Beleg wies auf die Unmöglichkeit hin, eine gedeihliche Regelung mit Polen zu erwirken. Henderson erklärte sich daraufhin bereit, seiner Regierung den neuen deutschen Vorschlag zu übermitteln. Auch Henderson versuchte, ein Anliegen in der Besprechung anzubringen. Er bat Göring, die für den gleichen Abend angekündigte Veröffentlichung der 16 Punkte Hitlers über Rundfunk zu verhindern. Henderson befürchtete, daß damit die letzte schwache Hoffnung auf ein Zustandekommen deutsch-polnischer Gespräche zerstört würde. Das Gespräch endete kurz vor 19 Uhr, ohne daß Göring etwas Definitives erreicht hätte.

Der Wunsch Botschafter Hendersons, die 16 Punkte Hitlers so lange wie möglich vor der Welt geheimzuhalten, zielte wohl mehr auf die Kriegsbereitschaft der Bürger Frankreichs, Großbritanniens und der USA. Die Beschränkung der deutschen Forderungen und der Vorschlag, die betroffenen Bewohner des Korridors selbst über ihre Zugehörigkeit zu Polen oder Deutschland abstimmen zu lassen, könnte – so war wohl die Befürchtung der Londoner Regierung – vielen Franzosen, Briten und Amerikanern nicht mehr genügen, um deshalb für die Polen in den Krieg zu ziehen. So schrieb dann auch ein französischer Historiker nach dem Krieg über den 16-Punkte-Vorschlag: „Hätten des französische und das britische Volk am 30. August von diesen Vorschlägen Kenntnis gehabt, so hätten Paris und London kaum den Krieg an Deutschland erklären können, ohne einen Sturm der Entrüstung hervorzurufen, der den Frieden durchgesetzt hätte.“

Inzwischen, gegen 16 Uhr, suchte Botschafter Lipski um ein Gespräch bei Außenminister Joachim von Ribbentrop nach. Dieser wußte seit ein paar Stunden, daß Lipski weder verhandeln noch die deutschen Verschläge entgegennehmen durfte. Lipski verlas um 18.30 Uhr die polnische Erklärung, die von Ribbentrop bereits aus dem entschlüsselten Telegramm aus Warschau kannte. Der Minister fragte daraufhin, ob der Botschafter verhandeln dürfe. Der verneinte. Das Gespräch berührte noch den deutsch-britischen Meinungsaustausch der letzten Tage und Hitlers Erwartung, bis zum Abend des 30. August einen polnischen Verhandlungsbevollmächtigten in Berlin zu sehen. Dann fragte von Ribbentrop Botschafter Lipski ein zweites Mal, ob er verhandeln dürfe. Als der erneut verneinte, war das Gespräch beendet. Beide wußten, daß das den Krieg bedeutete.

So waren um 19 Uhr die beiden letzten Versuche gescheitert bzw. im Sand verlaufen, die deutsch-polnischen Probleme ohne Krieg zu lösen: Gescheitert war das Bemühen, mit Polen Gespräche über Hitlers 16-Punkte-Vorschlag zu beginnen, und im Sand verlaufen der Versuch, mit Großbritannien statt mit Polen zu verhandeln. Um 21 Uhr gab der deutsche Rundfunk Hitlers 16-Punkte-Vorschlag öffentlich bekannt. Zwischen 21 und 22 Uhr überreichte Staatssekretär von Weizsäcker die schriftlichen Ausfertigungen des Hitler-Vorschlags nacheinander an die Botschafter Großbritanniens, Frankreichs, Japans und an die Geschäftsträger der USA und der Sowjetunion. Der Daily Telegraph in London berichtete noch in seiner Abendausgabe über die Vermittlungstätigkeit der Londoner Regierung zwischen Warschau und Berlin und dabei unter anderem, daß die polnische Regierung nach Eingang des Verhandlungsangebots aus Deutschland die Generalmobilmachung für ihre Streitkräfte angeordnet hatte, statt das Angebot zu honorieren. Diese Abendausgabe wurde schnell beschlagnahmt. Der Nachdruck, der kurz darauf als Spätausgabe erschien, ließ die Generalmobilmachung in Polen unerwähnt. Nichts sollte in dieser schweren Krise bei britischen Lesern Zweifel entstehen lassen.

Fortsetzung in der nächsten JF

Foto : Der ehemalige deutsche Botschafter in Warschau, Hans-Adolf von Moltke (l.), demonstriert ausländischen Pressevertretern polnisches Archivmaterial, das die Kriegsschuld Polens belegen soll, September 1939: Verhängnisvolles Spiel

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