© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/09 21. August 2009

Der Flug der Schamanen ins Jenseits
Sehnsucht nach der Einheit von Mensch und Natur: Mit Dietrich Evers hat die Archäologie einen passionierten Interpreten verloren
Karlheinz Weissmann

Wie erst jetzt bekannt wurde, verstarb bereits am 28. April der Graphiker und Archäologe Dietrich Evers. Graphiker war der am 13. Juni 1913 in Hildesheim geborene von Ausbildung und Beruf, Archäologe aus Passion. Was den ersten Beruf angeht, so hat Evers ihn vor allem als Buchgestalter und Zeichner ausgefüllt, aber auch zahlreiche Entwürfe für Fenster und Plastiken angefertigt; was den zweiten betrifft, so gab es vor allem zwei Felder, auf denen er sich nicht nur als Autodidakt und Amateur betätigte, sondern den Respekt vieler „zünftiger“ Vertreter fand: Experimentalarchäologie und Felsbildkunst.

Evers kam seine praktische Ausbildung zugute, die ihm erlaubte, Überreste oder schwer verständliche Darstellungen als Vorlage für Rekonstruktionen zu verwenden – ein in der Archäologie zwar umstrittenes Verfahren, das nichtsdestoweniger zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann. Vielfach war es der unverstellte Blick dessen, der am Rand der Disziplin steht, der Evers zu entscheidenden Einsichten verholfen hat. Das gilt etwa für sein Spezialgebiet: die Geschichte der Verwendung des Wurfholzes, dessen Gattung im australischen Bumerang als „lebendes Fossil“ überdauert hat. Evers gab sich dabei aber nicht mit technischen Erwägungen zufrieden, sondern wandte seine Aufmerksamkeit auch an die symbolischen Zuschreibungen dieser Waffe und entwickelte Verbindungen zu altägyptischen Hoheitszeichen wie zum Hammer Thors („Bumerangs rings um die Welt“, Langenweißbach 2004).

Daß der in der Religionsgeschichte als Variante der Axt des Himmelsgottes interpretiert wird, war Evers selbstverständlich bekannt, wenngleich er die Meinung vertrat, daß auch eine Beziehung zu jenen gewinkelten Instrumenten bestehen könnte, mit denen die Schamanen ihren Flug in das Jenseits antraten. Für die eine wie die andere Motivkette fand Evers Belege in jenen Überresten, die ihm besonders gut vertraut waren: den steinzeitlichen und bronzezeitlichen Felsbildern Skandinaviens und des Alpengebiets. Seine Interpretationen dieser Darstellungen waren oft überraschend und vielfach heterodox, aber ein gewisses Maß an Spekulation spielt für die Deutung solcher Relikte aus schriftloser Zeit naturgemäß eine Rolle. Evers hat zu dem Thema nicht nur zahlreiche Aufsätze verfaßt, sondern auch an Ausstellungskatalogen maßgeblich mitgewirkt und eine Monographie geschrieben, die seine Interpretationen zusammenfaßte („Felsbilder. Botschaften der Vorzeit“, Leipzig und Jena 1991).

Seine Kennerschaft war in jedem Fall unbestreitbar. Evers hat in langen Wanderungen, die ihn teilweise in sehr abgelegene Gebiete führten, die Originalfundplätze aufgesucht und die Frottage-Technik, bei der die Felsbilder auf präpariertes Papier „abgerieben“ werden, bis zur Perfektion entwickelt und in Jahrzehnten mehr als zwölftausend solcher wirklichkeitsgetreuen Wiedergaben angefertigt. Bedauerlicherweise fand sich keine deutsche Institution, die diese Dokumente an sich nehmen wollte, so daß der Bestand von Evers an das Museum für bronzezeitliche Felsbilder in Tanumshede (Schweden) gegeben wurde.

Was die biographischen Details im Leben von Dietrich Evers angeht, gibt es kaum genauere Auskünfte. Der hoch angesehene und vielfach ausgezeichnete Bürger der Kleinstadt Rottal bei Wiesbaden war aber eben mehr als ein tüchtiger Mann mit exzentrischer Liebhaberei. Hinter seiner Leidenschaft für die Frühzeit stand auch die – typisch deutsche – Sehnsucht nach der verlorenen Einheit von Mensch und Natur, eine an Ludwig Klages erinnernde Zivilisationskritik und eine Art jugendbewegter Begeisterung für das Ursprüngliche, dessen Primitivität doch eine Geistigkeit enthält, die wiederzuentdecken sich lohnt.

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