© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/09 14. August 2009

Berufsständische Ordnung
Modell einer gerechten Gesellschaft
von Rafael Hüntelmann

Wir stehen am Beginn der größten Wirtschaftskrise seit 1929. Schwankungen im Verlauf der Wirtschaft gehören zur Marktwirtschaft wie zum normalen Leben. Massive Wirtschaftskrisen fallen jedoch aus dem Rahmen und sind kein notwendiger Bestandteil einer Marktwirtschaft. Die Ursache dieser Krise ist die liberal-kapitalistische Ordnung der Marktwirtschaft, deren Maxime ein totaler Individualismus und das Recht des Stärkeren ist. Den Schaden der aktuellen Wirtschaftskrise tragen wie immer die einfachen Arbeiter und Angestellten und besonders die kleinen und mittelständischen Unternehmer. Die „Alternative“ zur Marktwirtschaft, der Sozialismus, ist spätestens vor zwanzig Jahren gescheitert, zumindest glaubte man dies. Zur Lösung der Krise werden heute jedoch wieder sozialistische Rezepte hervorgeholt, die schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt sind, weil sie nur über eine exorbitante Neuverschuldung finanzierbar sind.

Allerdings gibt es seit fast einhundert Jahren eine wirkliche Alternative zum liberalen Kapitalismus und planwirtschaftlichen Sozialismus, einen echten „dritten Weg“ auf der Grundlage der Marktwirtschaft. Da diese Alternative allerdings aus der katholischen Soziallehre kommt, wurde sie nur wenig beachtet.

 Diese alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beruht auf einem Grundprinzip der katholischen Soziallehre, dessen Anwendung und Einhaltung unabdingbar notwendig ist für eine gerechte und freie Gesellschaft.  Die Rede ist vom Prinzip der Subsidiarität. Papst Pius XI., auf den die Formulierung dieses Prinzips zurückgeht, nennt es den „obersten sozialphilosophischen Grundsatz“. Es ist also nicht irgendein Prinzip der Soziallehre, es ist das oberste Prinzip. Ohne Beachtung dieses Prinzips kann es keine gerechte Gesellschaft geben.

In der wohl wichtigsten Enzyklika zur katholischen Soziallehre, „Quadragesimo anno“ von 1931, schreibt Papst Pius XI.: „Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ („Quadragesimo anno“, Nr. 79).

Schon in dieser Formulierung nimmt der Papst Bezug auf die Gerechtigkeit, indem er den Verstoß gegen die Subsidiarität als Verstoß gegen die Gerechtigkeit bezeichnet. Eine Gesellschaft, die gegen dieses Prinzip verstößt, kann keine gerechte Gesellschaft sein.

Ein kurzer Blick auf die moderne liberale deutsche und europäische Gesellschaft genügt, um deutlich zu machen, daß dieses Prinzip, insbesondere innerhalb der Europäischen Union, nicht nur unbeachtet bleibt, sondern sogar bekämpft wird. Dazu ein Beispiel aus dem Jahre 2007: „Ihr Plädoyer, die Macht dort zu belassen, wo sie möglichst bürgernah ausgeübt werden kann, wogegen ich nicht bin, ist in Wirklichkeit gegen die europäischen Institutionen gerichtet“, sagte der ehemalige Maoist und jetzige EU-Kommissionspräsident José Barroso an Bundeskanzlerin Merkel gewendet.  Wenn also jemand darauf besteht, daß alles das, was von einer niedrigeren Ebene erledigt werden kann, nicht von einer höheren abgenommen werden darf, dann ist dies „europafeindlich“.

Leider hat die katholische Kirche die berufsständische Ordnung seit den sechziger Jahren vergessen. Seither findet sich dazu nichts mehr in den Veröffentlichungen zur Soziallehre. Im aktuellen Sozialkatechismus gibt es dazu nicht einen einzigen Satz.

Das Subsidiaritätsprinzip steht unmittelbar vor dem Absatz 81 der Enzyklika, in dem das Modell der berufsständischen Ordnung vorgestellt wird. Die berufsständische Ordnung ist ein Modell für eine strikt subsidiäre und gerechte Gesellschaft: eine Gesellschaft, in der das Prinzip der Subsidiarität in allen Bereichen der Gesellschaft und Kultur verwirklicht ist, wo der Staat auf seine ureigensten Aufgaben beschränkt wird. Die Beachtung des Prinzips ist ein sicherer Schutz gegen alle übertriebenen Machtansprüche des Staates und damit gegen jede Art des Totalitarismus. Schon deshalb ist es falsch, wenn die Linken den österreichischen Staat unter Engelbert Dollfuß als faschistische Diktatur bezeichnen.

Dollfuß hatte am 1. Mai 1934, ausdrücklich mit Bezugnahme auf die Enzyklika Pius’ XI., die neue berufsständische Verfassung eingeführt. Bereits wenige Monate später, am 25. Juli 1934, wurde er bei einem Putschversuch der Nationalsozialisten in Wien ermordet. Sein Nachfolger, Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, konnte dann noch bis zum Einmarsch Hitlers im März 1938 die berufsständische Gliederung der Gesellschaft in vier Bereichen durchsetzen.

Leider hat die katholische Kirche die berufsständische Ordnung seit den sechziger Jahren offensichtlich vergessen. Seither findet sich dazu nichts mehr in den Veröffentlichungen zur Soziallehre. Im 2006 auf deutsch erschienenen Sozialkatechismus gibt es dazu nicht einen einzigen Satz. Schon in den späten fünfziger Jahren hatte man sich in Deutschland unter dem Eindruck des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, das den meisten Menschen zugute kam, für das Modell der „sozialen Marktwirtschaft“ begeistern lassen, in der Hoffnung, daß auch auf diesem Weg eine gerechte Gesellschaft möglich werden könnte.

Doch ist und bleibt die soziale Marktwirtschaft das Modell einer liberalen Gesellschaftsordnung, welche die so-genannten „Härten des Kapitalismus“ durch soziale Fürsorge von seiten des Staates auszugleichen versucht. Dies kann aber kein Modell einer gerechten Gesellschaft sein, weil es nur so lange funktioniert, wie ausreichend staatliche Mittel zur Verfügung stehen, durch die man soziale Projekte und Maßnahmen finanzieren kann. Zudem übernimmt der Staat in der sozialen Marktwirtschaft Aufgaben, die über seinen Kompetenzbereich hinausgehen, und verstößt damit gegen die geforderte Subsidiarität. Zudem verführt der Sozialstaat zu Unselbständigkeit, Mißbrauch und Anspruchsdenken.

Unter „berufsständischer Ordnung“ versteht man eine Gliederung der gesamten Gesellschaft nach Berufsständen. Sie bildet gewissermaßen das gesellschaftliche Gegenstück zum föderalistisch bestimmten politischen Aufbau des Staates. Ein Berufsstand im Sinne der berufsständischen Ordnung ist eine Leistungsgemeinschaft von Personen, die dem gleichen Beruf angehören. „Beruf“ im Sinne der berufsständischen Ordnung ist nicht in erster Linie das, was man gewöhnlich auf die Frage „Was ist Ihr Beruf?“ antwortet, nämlich Elektriker, Feinmechaniker, Sachbearbeiter oder Betriebswirt, sondern meint den Wirtschafts- und Kulturbereich, innerhalb dessen jemand seine Tätigkeit ausübt. Die genannten vier Berufe könnten also zum gleichen Berufsstand gehören, beispielsweise dem Berufsstand Maschinenbau. In den meisten Fällen umfaßt ein Berufsstand eine Mehrzahl von Berufen (im engeren Sinne). Zu den Berufsständen gehören nicht nur wirtschaftliche Berufe, sondern auch kulturelle und soziale, wie Künstler, Universitätsprofessoren, Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte.

Im Unterschied zu Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften oder anderen Berufsverbänden umfaßt ein Berufsstand, beziehungsweise eine Berufsgemeinschaft, alle Personen innerhalb einer Branche, also sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer. Die Berufsgemeinschaft ist also keine Interessenvertretung einer bestimmten Gruppe. Die katholische Soziallehre geht davon aus, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in erster Linie gemeinsame Interessen haben, die auf die gemeinsam zu erbringende Leistung für das Gemeinwohl gerichtet sind. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, daß es auch weiterhin unterschiedliche Interessen gibt, und deshalb werden Gewerkschaften zur Vertretung von Arbeitnehmerinteressen erforderlich sein. Diese werden sich jedoch in der berufsständischen Ordnung besonders auf die Weiterbildung der Mitglieder in den Vertretungen der berufsständischen Kammern konzentrieren.

Die Berufsgemeinschaft ist als öffentlich-rechtliche Organisation aufgebaut und für alle zu ihrem Bereich gehörenden Aufgaben allein verantwortlich. Im allgemeinen werden diese Verbände als Kammern organisiert sein, deren Aufbau ebenfalls subsidiär ist, also angefangen bei städtischen oder regionalen Berufskammern bis hin zu Bundeskammern. Die Selbstverwaltung der Berufsgemeinschaften geschieht durch Ausschüsse, die paritätisch mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt sind. Zu deren Aufgaben gehören zum Beispiel Gewerbeanmeldung, Gewerbeaufsicht, Wettbewerbskontrolle – alles Aufgaben, die jetzt vom Staat übernommen werden – bis hin zur Arbeitslosen-, Gesundheits- und Rentenvorsorge. Selbstverständlich gehört auch die Aus- und Weiterbildung zu den Aufgaben der Berufsgemeinschaften, einschließlich des Unterhalts und Betriebs der Fachhochschulen.

Freilich lassen sich die Modelle der berufsständischen Ordnung, wie sie noch in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, nicht einfach auf die moderne postindustrielle und globalisierte Wirtschaft übertragen. Hier ist eine Weiterentwicklung erforderlich. Das Civitas-Institut hat 2008 die Grundzüge zu einer modernen berufsständischen Ordnung auf der Grundlage vor allem von Arbeiten des wohl bekanntesten Vertreters dieser Gesellschaftsordnung, Johannes Messner (1891–1984), vorgelegt. Diese Weiterentwicklung greift das Modell der berufsständischen Ordnung erneut auf und entwickelt es weiter zur „sozialen Demokratie“, deren Grundlage die „wirtschaftliche Selbstverwaltung“ ist. („Soziale Demokratie und wirtschaftliche Selbstverwaltung. Für eine christliche Gesellschaftsordnung“, Civitas Sonderheft 2, 2008).

Im Unterschied zu Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften oder anderen Berufsverbänden umfaßt ein Berufsstand, beziehungsweise eine Berufsgemeinschaft, alle Personen innerhalb einer

Wie die soziale Demokratie ganz konkret umgesetzt werden kann, hängt von den jeweiligen wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten eines Landes ab und kann nicht allgemeinverbindlich festgelegt werden. Die bestehenden Strukturen und Institutionen eines Landes müssen berücksichtigt und in den Aufbau der berufsständischen Ordnung einbezogen werden. So sind die in Deutschland bereits bestehenden Kammern, wie Anwalts- und Ärztekammern, Industrie- und Handelskammern, die Innungen und Verbände weiter auszubauen. Im Unterschied zu ihrem derzeitigen Status werden diese Organisationen in der berufsständischen Ordnung in selbständige, öffentlich-rechtliche Körperschaften mit dem Recht auf eigene Gesetzgebung für die jeweiligen Branchen weiter ausgebaut.

Gleichwohl bleibt auch in einer berufsständischen Ordnung das Primat der Politik beziehungsweise des Staates bestehen. Der Staat übt die Kontrolle über die berufsständischen Verbände aus und gibt den Rahmen für ihre Tätigkeit vor. Dies ist schon deshalb erforderlich, weil die Aufgabe des Staates die Sorge für das Gesamtgemeinwohl ist. Die berufsständischen Verbände ihrerseits stellen Vertreter zur Verfügung, die dem Staat bei der Gesetzgebung beratend zur Seite stehen. Dies kann auch durch eine eigene Kammer geschehen, die beispielsweise in Deutschland zusätzlich zu Bundestag und Bundesrat eingerichtet wird und in die die berufsständischen Verbände ihre Vertreter entsenden.

Selbstverwaltung und Beratung der Politik durch berufsständische Vertreter verhindert den in der liberalen Marktwirtschaft herrschenden Lobbyismus, bei dem stets die mächtigsten Konzerne und Verbände ihre Interessen durchsetzen. Durch die berufsständische Ordnung wird der Staat wieder frei für seine ihm wesentlich zukommenden Aufgaben. In den Bereichen Wirtschafts- und Kulturpolitik gibt der Staat die allgemeinen Rahmengesetze vor, überläßt es aber den Berufsständen, diese weiter inhaltlich zu füllen, aber auch durch Gesetze zu erweitern, die für den jeweiligen Bereich verpflichtend sind.

Das Modell der berufsständischen Ordnung ist keineswegs auf die nationalen Grenzen einer Volkswirtschaft begrenzt, sondern kann auf den europäischen Wirtschaftsraum und auch dar-über hinaus erweitert werden. Darauf hatte schon Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno“ hingewiesen. Zu den Aufgaben europäischer Kammern könnte beispielsweise das europäische Wettbewerbsrecht gehören, aber auch Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Zoll- und Handelsvereinbarungen, die heute auf staatlicher Ebene ausgehandelt werden.

Insofern widerspricht die berufsständische Ordnung keineswegs den Bestrebungen nach europäischer und internationaler wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit. Allerdings unterscheidet sich eine solche übernationale Kooperation radikal von der heutigen liberalistischen Europäischen Union, der OECD oder der Uno. Dieser Unterschied liegt vor allem im strikt subsidiären Aufbau der berufsständischen Ordnung, was besagt, daß die übernationalen Verbände streng darauf zu achten haben, ausschließlich die Bereiche zu behandeln, die über die Möglichkeiten und Fähigkeiten der regionalen und nationalen Berufsstände hinausgehen.

 

Dr. Rafael Hüntelmann studierte Philosophie, Pädagogik und katholische Theologie. Seit 2007 ist er Geschäftsführer des Civitas-Instituts, das sich dem Studium, der Weiterentwicklung und der Verbreitung der traditionellen katholischen Soziallehre und des Naturrechts widmet.

Foto: Berufe verschiedener Branchen: Die berufsständische Ordnung ist ein Modell für eine strikt subsidiäre und gerechte Gesellschaft: eine Gesellschaft, in der das Prinzip der Subsidiarität in allen Bereichen der Gesellschaft und Kultur verwirklicht ist, wo der Staat auf seine ureigensten Aufgaben beschränkt wird. Die Beachtung des Prinzips ist ein sicherer Schutz gegen alle übertriebenen Machtansprüche des Staates und damit gegen jede Art des Totalitarismus.

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