© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/09 14. August 2009

Eine Serie von Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof / Teil 10
Hektische Betriebsamkeit
Während die deutschen und polnischen Armeen bereits mobilisiert aufmarschierten, glühten noch einmal die diplomatischen Drähte

Am Mittwoch, dem 30. August, erarbeitete eine Gruppe von Diplomaten und Juristen nach Hitlers Weisungen und Görings Vorschlägen dieses neue Verhandlungsangebot an Polen. Hitler hatte in diesem letzten Angebot vor Kriegsbeginn alle früheren Wünsche aus der Zeit der Weimarer Republik weit zurückgefahren. Er hatte Ost-Oberschlesien und die Provinz Posen endgültig abgeschrieben. Hitler wollte die Briten offensichtlich mit einem moderaten Vorschlag dazu bringen, daß sie die Polen guten Gewissens zu einem Entgegenkommen drängen würden. Dennoch, der neue Vorschlag verlangte mehr als der von Polen ausgeschlagene deutsche März-Vorschlag. Die Auflistung der deutschen Wünsche und Angebote umfaßte 16 Punkte. Dazu gehörten unter anderem:

- Danzig kehrt heim ins Reich.

- Im nördlichen „Korridor“ soll eine Volksabstimmung entscheiden, ob das Gebiet polnisch oder deutsch wird.

- Die Hafenstadt Gdingen bleibt unabhängig vom Abstimmungsergebnis polnisch.

- Je nach Abstimmungsergebnis im Korridor erhält entweder Deutschland exterritoriale Verkehrswege nach Ostpreußen oder Polen exterritoriale Verkehrswege nach Gdingen.

- Die in Danzig für Polen gewünschten Sonderrechte werden ausgehandelt und Deutschland gleiche Rechte in Gdingen zugestanden.

- Die Beschwerden der deutschen Minderheit in Polen und die der polnischen Minderheit in Deutschland werden von einer internationalen Kommission untersucht. Beide Nationen zahlen Entschädigungen an betroffene Geschädigte nach Maßgabe der Kommission.

- Im Falle einer Vereinbarung nach diesen Vorschlägen demobilisieren Polen und Deutschland sofort ihre Streitkräfte.

Nach allen Zugeständnissen wollte Chamberlain Hitler nun „zähmen“

Der neue Vorschlag war so ausgelegt, daß er sowohl die unglückliche, in Versailles verfügte Abtrennung Ostpreußens vom Deutschen Reich beenden würde als auch den freien Zugang Polens zur Ostsee sicherstellte. Außerdem wahrte er das Selbstbestimmungsrecht der polnischen, kaschubischen und deutschen Bevölkerungsanteile.

Um die Mittagszeit des 30. August, während in Berlin noch am Vorschlagstext gefeilt wurde, informierte die deutsche Reichsregierung die britische in groben Zügen über den Inhalt des neuen deutschen Kompromißangebots. Man bemühte sich von Berlin aus, die Briten als Vermittler anzustoßen, die Polen mit Hilfe dieser Vorschläge zum Verhandeln zu bewegen. Doch der 30. August verging, ohne daß ein polnischer Unterhändler in Berlin erschien. Anstelle eines polnischen Beauftragten traf um 17:30 Uhr die Nachricht ein, daß seit morgens in ganz Polen die Generalmobilmachung öffentlich bekanntgegeben wurde. Als bis zum Abend immer noch kein Unterhändler eingetroffen, geschweige denn angekündigt war, verschob Hitler den auf den 31. August festgelegten Angriffsbeginn ein drittes Mal um 24 Stunden. Hitler räumte sich damit selbst noch einmal eine Chance ein, ohne Blutvergießen zum Erfolg zu kommen.

In Warschau war indessen nur Hitlers Ultimatum mit der Forderung nach Entsendung eines Unterhändlers angekommen. Die britische Regierung hatte die Ankündigungen zum Inhalt des deutschen Vorschlags nicht nach Warschau übermittelt. Die polnische Regierung war derweilen nach wie vor der Überzeugung, daß Hitler bluffte. Man hielt seine letzte Drohung, am 26. August in Polen einzumarschieren, nachträglich für ein mißglücktes Einschüchterungsmanöver, dem nun ein zweites folgen würde. Gerüchte über einen bevorstehenden Aufstand der Wehrmachtsgenerale und die Gewißheit der britischen und französischen Waffenhilfe bestärkten die polnische Regierung in ihrem Glauben. Die Polen schickten niemanden nach Berlin. Auch aus Paris und Washington kam an diesem Tage kein Impuls an Polen, das Risiko des Kriegsausbruchs zu mindern. Man beschwor sich gegenseitig, hart zu bleiben.

Chamberlain in London hatte Polen nicht den geringsten Wink gegeben, in bezug auf Danzig und den Korridor die eigene Position zu überdenken. Nachdem Hitler seit drei Jahren mit Drohungen dem Ausland gegenüber durchsetzte, was er für richtig hielt, wollte Chamberlain ihn nun „zähmen“. Am 31. August, dem letzten Tag vor Kriegsausbruch, nahm die verhängnisvolle Dramatik noch einmal zu. Der britische Botschafter in Berlin, Nevile Henderson, erschien bei Außenminister von Ribbentrop und erklärte, seine Regierung sei nicht in der Lage, der polnischen zu empfehlen, auf das deutsche Verhandlungsverfahren einzugehen. Er riet, Deutschland sollte den normalen diplomatischen Weg einschlagen und die Vorschläge dem polnischen Botschafter direkt übergeben. Das war nach den fast sechs Monate währenden erfolglosen Verhandlungen zwischen Warschau und Berlin seit Oktober 1938 und der gerade eine Woche alten britischen Rückversicherung für Polen kaum ein seriöser Vorschlag mehr. Von Ribbentrop begann dem Botschafter den deutschen 16-Punkte-Vorschlag vorzulesen, weigerte sich aber, ihn auszuhändigen, mit der Begründung, der Vorschlag sei nun hinfällig, da kein polnischer Verhandlungspartner erschienen sei.

Der polnische Botschafter Lipski ging auf keine Verhandlung ein

Henderson ließ jedoch nichts unversucht. Er eilte in die polnische Vertretung und forderte den polnischen Botschafter Józef Lipski auf, sich unverzüglich bei von Ribbentrop zu melden, um den deutschen Vorschlag entgegenzunehmen. Lipski sträubte sich und versprach zunächst nur, mit seiner Regierung zu telefonieren. Inzwischen war Hitler die verpatzte Notenübergabe zwischen Henderson und Ribbentrop bekanntgeworden. Hitler, der schwedische Vermittler Dahlerus und Göring versuchten nun noch einmal, zu retten, was zu retten war. Der Text des 16-Punkte-Vorschlags wurde Henderson schnellstens übermittelt. Ein britischer Botschaftsangehöriger eilte, diesmal mit dem 16-Punkte-Vorschlag in der Hand, in die polnische Botschaft, um ihn an Lipski zu übergeben. Doch der erklärte nur: „Ich habe keinerlei Anlaß, mich für Noten oder Angebote von deutscher Seite zu interessieren. Ich kenne die Lage in Deutschland. (...) Ich bin überzeugt, daß hier im Falle eines Krieges Unruhen ausbrechen werden und daß die polnischen Truppen gegen Berlin marschieren werden.“

Nun, es war inzwischen 12 Uhr mittags, erschien auch Dahlerus bei Lipski und übergab ihm den deutschen 16-Punkte-Vorschlag. Dahlerus rief anschließend postwendend von der britischen Botschaft in Berlin das Außenministerium in London an, und beschwerte sich darüber, daß Polen offensichtlich ganz bewußt jede Verhandlungsmöglichkeit zerstörte. Lipski habe ihm gesagt, die deutschen Vorschläge seien nicht einmal erwägenswert. Am Ende des Gesprächs betonte der Schwede, daß er selbst den deutschen 16-Punkte-Vorschlag für außerordentlich großzügig halte.

Wenige Minuten nach dem Dahlerus-Anruf mit der Beschwerde über Lipskis Verhalten folgten zwei Weisungen aus London. Henderson in Berlin erhielt um etwa 13 Uhr per Telefon den Auftrag, die Reichsregierung davon zu informieren, daß die polnische Regierung nun ihren Botschafter ins Außenministerium schicken werde. Und Howard Kennard, der britische Botschafter in Warschau, wurde angewiesen, er möge der polnischen Regierung unverzüglich den Rat erteilen, ihren Botschafter in Berlin zur Reichsregierung zu entsenden. Lipski sollte sich dort bereit erklären, neue deutsche Vorschläge entgegen zu nehmen und nach Warschau zu übermitteln. Warschau könnte dann ebenfalls Vorschläge vorlegen. Auch dieses Telegramm enthielt noch keinen Hinweis auf Hitlers Forderung, einen zur Aufnahme von Gesprächen bevollmächtigten polnischen Gesandten zu schicken. Es wirkte so, als versuchten Chamberlain und Halifax Hitler in diesem Punkt so lange hinzuhalten, bis er schwach würde oder von sich aus mit dem Krieg begänne.

Fortsetzung in der nächsten JF

Fotos: Józef Lipski, polnischer Botschafter in Berlin: Gegen Berlin marschieren, Nevile Henderson, britischer Botschafter in Berlin: Ließ nichts unversucht

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