© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/09 14. August 2009

Unzeitgemäße Lektionen
Von den alten Griechen lernen: Ohne Rückbesinnung auf die Vergangenheit läßt sich keine Zukunft erschaffen
Alain de Benoist

Mit den Reflexionen und Meditationen, zu denen die griechische Antike Philosophen, Denker, Dichter und Künstler bis heute inspiriert, ließen sich ganze Bibliotheken füllen. Die großen Epochen des Wandels sind stets mit einer Wiederaneignung der antiken, insbesondere der griechischen Quellen einhergegangen – die Postmoderne mit ihrem Mißtrauen gegenüber festen Koordinaten und „großen Erzählungen“ bildet keine Ausnahme.

Die Griechen ließen sich nicht zurückholen, befand Friedrich Nietzsche. Man könne nicht einmal von ihnen lernen, fügte er hinzu, so fremd seien sie uns geworden. Gerade aus dieser Fremdheit aber läßt sich eine bedenkenswerte „unzeitgemäße Lektion“ lernen.

Den Griechen verdanken wir die Erfindung der Philosophie. Das Griechische, dem die Übersetzung in römisches Gedankengut allzu selten gerecht wird – sie gibt die Bedeutung, nicht aber den ursprünglichen Erfahrungsgehalt eines Worts wieder: aletheia wird zu veritas, physis zu natura, das Nachdenken über das Sein zur Bestandsaufnahme der Seienden –, ist ureigentlich eine philosophische Sprache. Die Philosophie, ihrerseits zuvorderst eine Art zu leben, stellt Fragen im Widerspruch zur Religion, denn sie gibt sich nicht mit den Antworten zufrieden, die der Glauben oder die Überlieferung auf die großen Daseinsfragen geben.

Die Griechen erfinden die Philosophie zur selben Zeit wie die Phänomenologie. Ihre Methode, Phänomene (phainomena) zu beweisen, erfordert deren Betrachtung im Lichte des Seins, indem man sie nämlich zur Erscheinung bringt, ohne sich selber als Subjekt ihrer Darstellung zu inszenieren, so daß das Seiende sich in seiner Phänomenalität offenbart und dadurch vollkommen in der aletheia, dem „Unverborgenen“, enthalten wird. So scharf, so sicher ist der griechische Blick.

Dem messianischen, linearen, auf „Heil“ und Fortschritt gerichteten Geschichtsverständnis setzt die griechische Antike einen zyklischen Zeitbegriff entgegen. Aus dieser Wahrnehmung gehen wiederum Weisheit, tragisches Lebensgefühl und jene Grundhaltung hervor, die Nietzsche amor fati, Liebe zum Schicksal nannte. Nichts ist dem griechischen Denken fremder als das volontaristische Geschichtsbild, die Vorstellung von der Existenz eines Willens, dem nichts vorausgeht, der sich aus dem Nichts heraus äußert und die Zukunft ohne Berücksichtigung der Vergangenheit erschaffen will: Selbst der Demiurg gestaltet Form aus einem Chaos, das niemals gleichbedeutend mit dem Nichts ist.

Das antike Griechenland begründet überdies die Freiheit, nicht als Gegenstand des Denkens oder „freien Willen“, sondern als Eigenschaft des Handelns. Die griechische Freiheit ist von ihrem Grundsatz her politisch, verweist sie doch auf den Begriff des bios politikos. Ab dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung organisierten die Athener sich als politische Gemeinschaft. Mit der Demokratie erfindet Griechenland eine Form des politischen Zusammenlebens, die dem Herrscher sein Gottesgnadentum abspricht und die Macht zu einem gemeinsamen Gut macht.

Wenn Agamemnon in Homers „Iliad“ Achilles beleidigt, veranschaulicht er die isegoria, das gleiche Recht auf Redefreiheit. Damit wird politische Reflexion und politische Philosophie möglich. Seit ihrer Entstehung versteht sich die polis als eine philosophische Regierungsform, wie Cornelius Castoriadis (im Gegensatz zu Leo Strauss) richtig gesehen hat. Indem sie an öffentlichen Beratungen teilnehmen, entscheiden die Bürger nicht nur über die Angelegenheiten des Gemeinwesens, sondern über die Stellung und Bedeutung des Gesetzes (nomos) selber.

Der demos ist gelebte Philosophie – eine so konservative wie revolutionäre Philosophie. Die Architektur legt Zeugnis davon ab. Im Zentrum des griechischen Stadtstaats sticht der öffentliche Versammlungsplatz vor allen anderen Gebäuden und Räumen ins Auge: Denn er ist der Ort, an dem die Staatsbürgerschaft ausgeübt wird. Selbst die Tragödie, die ab dem Ende des 6. Jahrhunderts entsteht, handelt von der Idee politischer und staatsbürgerlicher Teilhabe, indem sie das Volk dazu auffordert, seine Mythen einer Betrachtung aus der neuen Sicht des Bürgers zu unterziehen.

Das antike Griechenland steht für den gerechten Anteil und das rechte Maß der Dinge (moira). Es bedeutet eine Absage an die hybris: an titanische, prometheische Maßlosigkeit, die Verwüstung der Erde durch Raubwirtschaft und die Dämonie des „Immer mehr“, sowie – weniger emphatisch gesprochen – an die ständige Versuchung, mehr zu nehmen, als uns zusteht.

In den homerischen Epen ist der Held der freie Mann, der im Wettkampf gegen Ebenbürtige antritt, um seine hervorragenden Begabungen unter Beweis zu stellen und aufgrund seiner großen Taten „unsterblichen Ruhm“ zu erlangen.

Insofern ist Heldentum ein Weg zur Unsterblichkeit, allerdings um den Preis des Risikos, der hybris zu verfallen. Gerade weil es die äußerste Konfrontation verlangt, ist das Kriegerische nicht der höchste Wert. Vielmehr gilt es weniger als die Weisheit. Das meditative und reflexive Leben ist der vita activa überlegen. In der griechischen Demokratie bleibt das aus der heroischen Epoche ererbte agonistische Prinzip zwar erhalten, doch es wird ungewidmet und umgeleitet, um die ständige Gefahr eines Bürgerkriegs zu bannen, der eine andere Form von hybris darstellt.

Das griechische Denken ist ein Anbeginn des Denkens, und es nährt ein Denken des Anbeginns. Nicht etwa um Rückkehr geht es – vielmehr um die Rückbesinnung, die nötig ist, um einen Neuanfang und eine Zukunft zu ermöglichen.

Foto: Raffaello, Die Schule von Athen (Wandfresko im Vatikan für Papst Julius II.): Die griechische Freiheit ist von ihrem Grundsatz her politisch

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