© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/09 07. August 2009

Ohne Geld keine Leistungen
Angesichts kriselnder Einnahmen bei den Gesetzlichen Krankenkassen wird über eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen diskutiert
Jens Jessen

Der Bedarf an medizinischen Leistungen steigt. Die Gesundheitsausgaben folgen der Bedarfsausweitung. Die Verringerung der Arbeitslosigkeit in den Jahren vor der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise erweckte den Anschein, daß die dadurch steigenden Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Luft verschaffen würden. Nicht nur die unsinnigen „Wellness-Angebote“ der Krankenkassen haben deren Einnahmen-Ausgaben-Relation weiter destabilisiert. Die Einnahmen der GKV befällt angesichts der Krise und der Überalterung der Gesellschaft (Stichwort: demographischer Wandel) mehr und mehr die Schwindsucht.

Die gesetzlichen Kassen können den finanziellen Anforderungen nicht mehr folgen. Aufgrund der Wirtschaftskrise und der damit verbundenen Abnahme der Zahl versicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse (für „Mini-Jobs“, „Ein-Euro-Jobs“ usw. wird nur ein Minimalbeitrag an die Kassen gezahlt) wird die Öffnung der Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben in diesem und den kommenden Jahren größer. Das gilt aber auch wegen der ungebremsten Zunahme der Rentner, deren Beiträge an die GKV erheblich unter denen der Arbeitnehmer liegen.

Nach dem Fünften Sozialgesetzbuch haben die GKV-Versicherten unter anderem Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Sie haben auch Anspruch auf Leistungen, die zur Früherkennung von einer Krankheit führen, und auf Leistungen zur Verhütung von Krankheiten. Die Patienten haben damit das Recht auf eine an ihre individuellen Bedürfnisse angepaßte, qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung – davon können die Bürger etwa in den östlichen EU-Ländern nur träumen.

Der 112. Deutsche Ärztetag in Mainz hat allerdings schon vor einiger Zeit auf die Folgen der gesetzlichen Vorgaben hingewiesen: „Mit begrenzten Mitteln kann kein unbegrenztes Leistungsversprechen finanziert werden.“ Die Gesundheitspolitik versucht das Unmögliche mit einer Umverteilung zwischen den Versorgungsbereichen zu erreichen. Damit kann sie nur scheitern. Der Hauptgeschäftsführer der Privatärztlichen Verrechnungsstelle von Baden-Württemberg, Peter Weinert, macht als zusätzlichen Kostentreiber den Gesundheitsfonds aus, der sich als gigantische Umverteilungseinrichtung etabliert hat, für die Transparenz und Effizienz Fremdworte sind.

Die Überregulierung des Gesundheitswesens als Folge der Zentralisierung im Gesundheitswesen sorgt dafür, daß Ärzte immer weniger Zeit für ihre Patienten haben. 62 Prozent der niedergelassenen Ärzte sind nach einer Umfrage der Ansicht, daß der Dokumentations- und Verwaltungsaufwand kaum noch zu bewältigen ist. Die Ärzte müssen nicht nur die Kosten für diesen Dokumentations- und Verwaltungsaufwand in ihrer Arbeitszeit erwirtschaften, sondern auch den dadurch entstehenden Aufwand der Gesundheitsbürokratie. Die vorhandenen Mittel, Kapazitäten und Zeit müssen sinnvoll eingesetzt werden. Das ist nur möglich, wenn die Bürokratie im Gesundheitswesen verringert wird.

Dazu gehört aber noch mehr. Im Mai dieses Jahres behauptete der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Klaus Theo Schröder, ungeniert und wider besseres Wissen: „Es gibt keine Rationierung und auch keine Mangelversorgung.“ Die blauäugige zentralistische Gesundheitspolitik muß Nüchternheit Platz machen. Außerhalb des Blickfeldes bleibt bisher bei den meisten am Gesundheitswesen Beteiligten die Regionalität und Integration als sachliche und räumliche Voraussetzungen der Bürgernähe. Regionalisierung bedeutet dabei Planung, Finanzierung und Versorgung auf regionaler Ebene.

Dezentralisierung widerspricht der Entwicklung in den letzten 25 Jahren. Beispiel dafür ist die Entwicklung der Krankenkassenlandschaft, die gekennzeichnet ist durch eine immer mehr an Fahrt gewinnende Konzentration. Die Gesundheitspolitik wird seit 1977 monokausal von der Kostendämpfung beherrscht, die nach Ansicht der Politik nur zentral bewirkt werden kann.

Jede Regionalisierung bedeutet mehr Widerstände gegen eine Verringerung der Versorgungsqualität und -quantität. Jede Zentralisierung unterhöhlt die Verantwortlichkeit der Politik für die Basis. Die Regionalisierungsidee ist für die zentralstaatlichen und -verbandlichen Gesundheitspolitiker dadurch unattraktiv, während sie bei zentralistischen Entscheidungsstrukturen darauf bauen können, daß lokale Initiativen ins Leere laufen. Eine Regionalisierung könnte die Probleme lösen.

Mittlerweile aber dreht sich die Diskussion darum, wieviel die Versicherten für Gesundheit ausgeben wollen. Diese Diskussion gibt auch Auskunft darüber, welche Prioritäten von ihnen gesetzt werden. Im Auftrag der Allianz AG hat das Marktforschungsunternehmen GfK 1.039 Bürger zu ihrer Haltung gegenüber einer Priorisierung medizinischer Leistungen befragt. 86,4 Prozent der Befragten haben sich dafür ausgesprochen, daß die medizinische Behandlung derjenige erhalten soll, der sie am dringendsten benötigt.

Dazu sollte ein Gremium gebildet werden, das notwendige medizinische Behandlungen aus dem Angebot der Kassen nach objektiven Kriterien herausfiltert und die Leistungen benennt, die als sekundär eingestuft werden. Die Ärzteschaft hat deshalb die Etablierung eines Gesundheitsrates vorgeschlagen. Dieser soll Priorisierungsentscheidungen im vorpolitischen Raum erarbeiten und der Politik zur Entscheidung vorlegen. Woher die Ärzteschaft nach allen Erfahrungen mit der Politik ihre Hoffnung schöpft, daß die Politik sich die Priorisierung an den Hals hängen läßt, ist allerdings schleierhaft. Denn Politiker, die offen dafür plädieren, daß „Sekundäres“ künftig von ihren Wählern selbst bezahlt werden soll, dürften ihre Wiederwahlchancen kaum erhöhen.

Foto: Zahnarztbehandlung: Auch weiter eine prioritäre GKV-Leistung?

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