© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/09 07. August 2009

Das Ziel heißt nur noch Durchhalten
Afghanistan: Die unter anderen Voraussetzungen begonnene Isaf-Mission ist längst zum Kampfeinsatz geworden
Hans Brandlberger

Die Zeiten, in denen sich die Nachrichten über Anschläge im Irak überschlugen, während die Sicherheitslage in Afghanistan als beherrschbar gelten konnte, sind längst vorüber. Die Schwerpunktverlagerung des amerikanischen Engagements von Euphrat und Tigris an den Hindukusch, die unter Barack Obama nach seinem Amtsantritt sogleich vollzogen worden ist, sollte diesem Umstand Rechnung tragen. 21.000 zusätzliche US-Soldaten wurden nach Afghanistan geschickt, ihre Gesamtzahl wird von derzeit 57.000 auf mindestens 68.000 zum Jahresende weiter anwachsen.

Das erste Resultat dieser Truppenverstärkung ist eine Zunahme der Kampfhandlungen und der Opferzahlen. Kein Wunder also, daß der Juli 2009 der blutigste Monat in den unterdessen nahezu acht Jahren des militärischen Engagements einer breiten, von den USA dominierten Staatenkoalition in Afghanistan wurde. Die Verluste der alliierten Truppen kommen dabei sogar jenen nahe, die die Amerikaner und ihre Verbündeten im Irak auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit Aufständischen zu verzeichnen hatten.

 Zurückzuführen ist das Emporschnellen der Opferzahlen allerdings nicht auf eine wachsende Stärke und Aktivität des Gegners, sondern auf den Versuch, diesen mit einer großangelegten Offensivoperation, wie sie seit 2001 nicht mehr unternommen wurde, zu schwächen. Insbesondere amerikanische und britische Truppen sind im Einsatz, um gemeinsam mit Sicherheitskräften der Kabuler Zentralregierung außer Kontrolle geratene Distrikte in der im Süden gelegenen Provinz Helmand den Taliban zu entreißen.

Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, daß mit dieser Operation über einen symbolischen Erfolg hinaus auch ein nachhaltiger militärischer erzielt werden kann. Voraussetzung dafür wäre es, zum einen den Aufständischen ihre Ruheräume und logistischen Basen jenseits der afghanisch-pakistanischen Grenze zu entziehen und zum anderen die ortsansässige Bevölkerung davon zu überzeugen, daß eine Unterstützung oder Duldung von Guerillaaktivitäten nicht in ihrem Interesse ist. Hiermit sind jedoch Grundprobleme der afghanischen Sicherheitslage berührt, die durch punktuelle Stärkedemonstrationen allein nicht zu lösen sind.

So ist das anfängliche Wohlwollen der afghanischen Bevölkerung gegenüber den ausländischen Truppen längst erodiert, eine überwältigende Mehrheit nimmt diese heute als Besatzer und nicht als Beschützer wahr. Dieser Meinungsumschwung ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß überzogene Hoffnungen auf einen raschen wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau geweckt wurden, die trotz der beachtlichen Erfolge, die auf einigen Gebieten erzielt werden konnten, nicht zu erfüllen waren. Vor allem spiegelt sich in ihm die Erwartung wider, daß die ausländischen „Schutzmächte“ am langen Ende ihre Ziele nicht oder allenfalls mit großen Abstrichen erreichen werden und eine wie auch immer geartete Machtbeteiligung der Aufständischen kaum zu vermeiden sein wird.

Die militanten Islamisten in den pakistanischen Grenzregionen zu Afghanistan wiederum werden zwar heute sowohl durch die Amerikaner als auch durch die Zentralregierung in Islamabad bedrängt wie selten zuvor. Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, daß sie militärisch ausgeschaltet werden können oder politisch mit ihnen eine dauerhafte Übereinkunft über den Verzicht auf von diesen Gebieten ausgehende Guerillaaktionen in Afghanistan zu erzielen ist. Das Interesse der Regierung in Islamabad an einem Vorgehen gegen die Islamisten verfolgt in erster Linie das Ziel, diese als innenpolitischen Faktor zu schwächen.

Als außenpolitisches Instrument, um Nadelstiche gegen die mit dem Erzkontrahenten Indien verbandelte Kabuler Regierung zu setzen, wird man sie zu bewahren trachten. Zudem ist in Rechnung zu stellen, daß die Paschtunen als jene Ethnie, aus der sich das Gros der afghanischen Aufständischen rekrutiert, beiderseits der Grenze leben. Unter den knapp 20 Millionen Paschtunen Pakistans, nahezu 15 Prozent der Gesamtbevölkerung, werden sich immer genügend Freiwillige finden, die zu einer militanten Solidarität mit den 13 Millionen Landsleuten auf afghanischem Territorium bereit sind.

Obwohl die ausländischen Truppen zum Teil markant verstärkt wurden, der Aufbau der Afghanischen Nationalarmee voranschreitet und auch unübersehbare Anstrengungen unternommen werden, den zivilen Aufbau effizienter und umfangreicher zu unterstützen, dürften die Aktivitäten der Aufständischen in diesem Jahr einen neuen Höhepunkt erfahren.

In den ersten vier Monaten hat die Zahl der Sprengfallen- und Selbstmordanschläge im Vergleich zu 2008 bereits um 25 Prozent zugenommen. Für 2009 insgesamt erwartet die Führung der US-Truppen in Afghanistan 5.700 Vorkommnisse dieser Art gegenüber 3.800 im Vorjahr – eine Steigerung um 50 Prozent. Zwar läßt sich weiterhin nur von einer kleinen Minderheit der Distrikte annehmen, daß sie de facto von den Aufständischen kontrolliert werden. Ihre Fähigkeit, weit über ihre traditionellen Hochburgen hinaus landesweit Attentate und zunehmend auch ausgereifte militärische Kommandounternehmen durchzuführen, ist jedoch beständig am Wachsen. Davon ist heute auch die Nordregion, für die die Bundeswehr militärisch die Verantwortung trägt, nicht länger ausgenommen.

 Verglichen mit den Verlusten etwa der US-Amerikaner, Briten und Kanadier sind jene der Deutschen zwar weiterhin gering, doch die Bedrohung für Leib und Leben der eingesetzten Soldaten ist unterdessen allgegenwärtig. Feuerüberfälle oder Sprengstoffanschläge auf Patrouillen sind keine Ausnahme mehr, und die seit Mitte 2008 von der Bundeswehr gestellte schnelle Eingreiftruppe für den Norden („Quick Reaction Force“), in etwa mit einer verstärkten Panzergrenadierkompanie zu vergleichen, muß weitaus öfter an Brennpunkten für Unterstützung sorgen, als anfänglich gehofft werden durfte.

In der Wahrnehmung der Soldaten vor Ort handelt es sich daher längst nicht mehr um eine „Friedensmission“, sondern um einen veritablen Kriegseinsatz. Juristen mögen einwenden, daß das deutsche, hier noch durch Szenarien des Kalten Krieges geprägte Recht diesen Begriff an Voraussetzungen knüpft, die im Falle des Einsatzes in Afghanistan nicht erfüllt sind.

Tatsache ist jedoch, daß die Bundeswehr mit einer Lage und mit einem Auftrag konfrontiert ist, für die es in ihrer Geschichte keine Referenzwerte gibt. Trotz ihrer seit längerem währenden, unter dem Stichwort „Transformation“ stattfindenden Umorientierung hin zu einer „Armee im Einsatz“ ist die Notwendigkeit, kämpfen zu müssen, für sie eine junge Erfahrung. In ihren bisherigen Missionen, allen voran jenen auf dem westlichen Balkan, war sie stets erst dann gefragt gewesen, als die Lage bereits durch vorangegangene politische Lösungen oder militärische Einsätze, die im wesentlichen von anderen Streitkräften getragen worden waren, als befriedet gelten konnte.

Mit dieser Vorstellung ist sie 2002 auch an den Hindukusch aufgebrochen, getragen durch eine heute grotesk anmutende und vor allem durch den damaligen Außenminister Joschka Fischer verkörperte Euphorie, eine begeisterte und dankbare afghanische Bevölkerung würde nun nach der Vertreibung der Taliban mit westlicher Unterstützung schnurstracks den Weg zu Demokratie, Stabilität und zivilgesellschaftlichem wie ökonomischem Wiederaufbau einschlagen. Das in diesem Geist formulierte Motto „Hilfe und Zusammenarbeit“, das das Wappen der „International Security Assistance Force“ (Isaf) ziert, muß unter den Bedingungen des Jahres 2009 aber nicht nur den Soldaten im Einsatz, sondern auch der deutschen Öffentlichkeit als überholt und lächerlich anmuten.

Auch die vom vormaligen SPD-Verteidigungsminister Peter Struck in der ihm eigenen Hemdsärmeligkeit verkündete Parole, daß Deutschlands Freiheit heute am Hindukusch verteidigt würde, hat an Überzeugungskraft verloren. Je mehr Gefallene die Bundeswehr zu beklagen hat, desto stärker wird die öffentliche Weigerung, illusorisch erscheinende Ziele und Treueschwüre gegenüber den Verbündeten als alleinige Legitimation für die Opfer zu akzeptieren.

Da sich diese Stimmung nicht auf Deutschland beschränkt, ist in der Nato insgesamt ein neuer Pragmatismus in der Frage zu erkennen, welche Ziele es denn eigentlich in Afghanistan zu erreichen gilt. Die Meßlatte wird dabei so tief gelegt, daß zu einem nicht allzu fernen Zeitpunkt ein Abzug ohne Gesichtsverlust erfolgen kann. Der Auftrag der Isaf gilt dann als erfüllt, wenn die Afghanen aus eigener Kraft für eine innere Stabilität zu sorgen imstande sind, vor allem in dem Sinne, daß sich terroristische Strukturen, die möglicherweise den Westen bedrohen, nicht wie vor 2002 ungehindert oder sogar durch die Regierung begünstigt entfalten können.

Dabei wird mehr als nur stillschweigend hingenommen, daß zur Sicherheit auch Milizen regionaler Autoritäten beitragen, zu deren vollmundig angekündigter Entwaffnung es nicht gekommen ist.
   Die Nato ist sich darüber im klaren, daß sie die Aufständischen militärisch nicht besiegen kann, sondern durch ihre Präsenz lediglich den mit ihr kooperierenden Eliten den Rücken freihält, bis deren Sicherheitskräfte ausreichend gefestigt und schlagkräftig sind. Der als Königsidee gepriesene „comprehensive approach“, genau besehen die Ausformulierung der Binsenweisheit, daß sich eine Stabilisierung der Sicherheitslage und spürbare Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Bevölkerung wechselseitig bedingen, ist so in erster Linie auch als Eingeständnis zu verstehen, daß das Militärbündnis Nato an die Grenzen seiner Möglichkeiten gestoßen ist.

Vorausgesetzt, daß sich in Berlin nach der Wahl eine der derzeit als realistisch gehandelten Koalitionen herauskristallisiert, wird die Bundesregierung auch in der kommenden Legislaturperiode an ihrer bisherigen Afghanistanpolitik festhalten. Sie wird im Rahmen des Möglichen für eine bessere materielle Ausstattung und notfalls auch eine moderate personelle Aufstockung des deutschen Kontingents sorgen, der Bundeswehr sind hier jedoch enge Grenzen gesetzt. Wünschen der Bündnispartner, das Engagement regional auszuweiten, kann sie durch den Hinweis darauf entgegentreten, daß die Lage im Norden nunmehr ebenfalls alles andere als ruhig ist. Vorstößen, über eine Exitstrategie nachzudenken, wird sie sich nicht verweigern, da eine solche auch in ihrem Interesse läge. Sie wird aber in bewährter Weise auch hier anderen die Initiative überlassen.

Foto: Zivilisten beobachten interessiert eine Bundeswehrpatrouille (Mai 2009) im Norden Afghanistans: Zwei Welten treffen aufeinander

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