© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/09 07. August 2009

Helgoland, Insel der Sehnsucht
Lummerland oder Atlantis: Zeitreise auf hoher See
Hinrich Rohbohm

Die Welt ist grau. Backbord, Steuerbord, achtern und am Bug: Selbst das Wasser ist grau. Dazu fallen bindfadenartige Regentropfen vom Himmel, die aus grauen Wolken aufs Deck prasseln. Es ist, als schippere die MS „Atlantis“ in einem Niemandsland. Oder am Ende der Welt, wo es keine Farben mehr zu geben scheint außer grau. Typisch norddeutsches Schmuddelwetter. Mäßiger Seegang, kaum Wind. Der 1.000 Passagiere fassende Dampfer macht 18 Knoten: immer hinein ins graue Nichts, zwei Stunden lang.

Plötzlich erhebt sich etwas aus der trüben Suppe. Wie ein großer dunkler Wal baut es sich am Horizont auf. Die „Atlantis“ hält geradewegs drauf zu. Der Wal ist eine Insel, hat rote Klippen. Es ist nicht das Ende der Welt, nicht der sagenumwobene versunkene Kontinent, der als Namensvetter des Schiffes mystische Berühmtheit erlangte. Es ist die deutsche Antwort auf San Franciscos „The Rock“: Helgoland – ein Felsen mitten in der Nordsee. Rund fünfzig Kilometer von Norddeutschlands Küsten entfernt trotzt er den Launen der rauhen See, als letztes Bollwerk einer vor Tausenden von Jahren vom Meer verschlungenen Landschaft, die damals noch mit dem Festland verbunden war.

Helgoland, das ist der Ort, an dem Hoffmann von Fallersleben 1841 das „Lied der Deutschen“ schrieb. Das ist der Felsen, auf dem der Schriftsteller James Krüss aufgewachsen war. Und es ist der Ort, an dem der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg 1925 grundlegende Ideen seiner Theorie über die Quantenmechanik entwickelte. Erste Häuser sind zu erkennen, Baustil fünfziger Jahre: Balkone mit weißen Kunststoff-Balustraden. Auf Helgoland ist die Zeit stehengeblieben. Die Telefonzellen sind noch immer gelb, die Mülltonnen in Waschbetonklötzen deponiert. Am Kaiserhafen ragen noch alte Gleise aus dem Asphalt. Irgendwie würde es einen kaum verwundern, wenn Michael Endes Lukas der Lokomotivführer mit seiner Lok Emma um die roten Felsen herumgedampft kommen würde. Die gerade einmal einen Quadratkilometer große Landerhebung mitten im Meer hat mit ihren 1.300 Einwohnern Lummerland-Charakter. Und die „Wilde 13“ war auch schon da – in Gestalt von Klaus Störtebeker, Pirat und Alptraum hanseatischer Kaufleute, der das Nordsee-Eiland im ausklingenden 14. Jahrhundert als Rückzugsgebiet nutzte.

Nachdem Helgoland 1807 von den Briten besetzt wird, gelangt die Insel durch den Helgoland-Sansibar-Vertrag von 1890 in deutschen Besitz. Dem Deutschen Reich ist die strategische Bedeutung des weit vor der Küste befindlichen Felsens bewußt. Kaiser Wilhelm II. läßt ihn zum Marinestützpunkt ausbauen – sehr zum Mißfallen der Briten, die nach Ende des Ersten Weltkriegs im Rahmen des Versailler Vertrags die Zerstörung der Hafenanlagen einfordern. „Gekommen ist es dazu nie“, sagt Jörg Andres, zweiter Vorsitzender des Fördervereins Museum Helgoland.

Im Gegenteil: Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten spielen militärische Überlegungen erneut eine maßgebliche Rolle. Hitler will Helgoland zu einem mächtigen Kriegshafen ausbauen, das Projekt mit dem Tarnnamen „Hummerschere“ wird ins Leben gerufen. Helgoland soll das Gegengewicht zum britischen Flottenstützpunkt Scapa Flow werden. „Die Insel war wie ein stationäres Schlachtschiff“, sagt Andres.

Doch die Seefestung sei anfällig für Luftangriffe gewesen. „Die Planer bei den Militärs waren zumeist noch die alten Offiziere aus der Kaiserzeit. Sie hatten die zukünftige Bedeutung der Luftwaffe unterschätzt“, meint Andres weiter. Während des Zweiten Weltkriegs hat Helgoland daher nicht die erwartete strategische Bedeutung und bleibt von Angriffen zunächst weitestgehend verschont.

Das ändert sich am 18. April 1945. Innerhalb von 104 Minuten werfen 1.000 britische Flugzeuge 7.000 Bomben auf den roten Felsen. Die Zivilbevölkerung überlebt. Ein tief in den Felsen gearbeitetes Bunkersystem hat für ihre Sicherheit gesorgt. Die Szenen in den Schutzräumen müssen dramatisch gewesen sein. „Man konnte förmlich hören, wie die Einschläge immer dichter kamen“, gibt Andres Aussagen von Zeitzeugen wieder. Erste Bomben fallen auf die Düne, die kleine Nachbarinsel. Keiner der dort stationierten Wehrmachtssoldaten überlebt. Deutlich lauter sind die Detonationen im Hafen zu hören, ehe laute Explosionen über dem Bunker die in den Felsen gehauenen Schächte zum Vibrieren bringen. Das Wasserleitungssystem bricht zusammen, ein stechender Geruch aus Kot, Urin und Erbrochenem macht sich in den engen Gemäuern breit.

Doch der Bunker hält. Noch heute ist er zu besichtigen. Breite Treppen führen immer tiefer in den Felsen. An ihrem Ende liegt ein langer schmaler Gang. Die Holzbänke sind noch wie damals an den Wänden postiert. Wasch- und Versorgungsräume zweigen gelegentlich ab, während der schlauchartige Gang quer durch den Felsen verläuft. Jedoch ist er nur noch teilweise zugänglich. Der Abschnitt in Richtung Hafen ist verschüttet – zerstört durch die größte nichtnukleare Sprengung der Menschheitsgeschichte.

Es mag Zufall sein, vielleicht aber auch eine zynische Anspielung, daß diese mit 6.700 Tonnen Sprengstoff durchgeführte Zerstörung der militärischen Bunkeranlagen 1947 ebenfalls an einem 18. April stattfindet. Die von Augenzeugen auf dem deutschen Festland – darunter zahlreiche Helgoländer, die bangten, ihre Heimat solle für alle Zeiten im Meer versenkt werden – befürchtete vollkommene Vernichtung der Insel bleibt zum Glück aus. Laut britischen Akten, die in den achtziger Jahren veröffentlicht wurden, war sie auch niemals geplant. Lediglich die Südspitze wird weggesprengt. Der Restfelsen hält stand und dient der britischen Royal Air Force weiterhin als Bombenübungsziel.

Dreieinhalb Jahre später erobern zwei Deutsche Helgoland von den Briten zurück. René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld, Studenten aus Heidelberg, lassen sich trotz Kälte und Bomben von Fischern auf den Felsen bringen. Ein breites Medienecho begleitet ihre Aktion. Es wird diskutiert: über das Völkerrecht, das von den Vereinten Nationen erst vor wenigen Jahren verkündet wurde und das nun an den roten Klippen Helgolands zu zerschellen droht, da es mit der Bombardierung des Eilands nicht in Einklang zu bringen ist.

Ein zu hoher Preis für die kleine Landerhebung in der Nordsee, befinden die Briten, nachdem im Januar 1951 auch der Deutsche Bundestag einstimmig die Freigabe Helgolands fordert. Die Insel kommt wieder unter deutsche Hoheit.  Ihre Bewohner, nach der Ausbombung von 1945 auf das Festland evakuiert, kehren zurück, bauen den Ort wieder auf. „Helgoland ist in den fünfziger Jahren auf dem Reißbrett entstanden“, erklärt Jörg Andres. Heute nennt sich das aufgrund seiner Einzigartigkeit ein architektonisches Ensemble – zum Leidwesen von jedem, der dem Ort ein neues Gesicht verleihen möchte. Denn architektonisches Ensemble heißt für den Helgoländer übersetzt: Baulich darf nichts verändert werden. Deshalb bleiben die Balkone mit weißen Kunststoff-Balustraden versehen, die Telefonzellen gelb, und die Mülltonnen fristen weiter ihr Dasein in kubenhaft-klobigen Waschbeton-Unterständen.

Auf Helgoland könnte dennoch schon bald eine neue Epoche anbrechen. Schuld ist Arne Weber, ein Helgoländer, der heute als Investor in Hamburg-Harburg groß in der Baubranche mitmischt. Seine Vision: die Wiedervereinigung – eine Landverbindung Helgolands mit der Düne von gegenüber. Das gab es schon einmal. Vor knapp dreihundert Jahren war die kleine Strandinsel ein Teil von Helgoland, ehe die verbindende Landzunge 1720 bei einer Sturmflut vom Meer verschlungen wurde. In der Bevölkerung erntet das Projekt weitgehend  Zustimmung. „Die Mehrheit steht der Sache positiv gegenüber“, meint Jörg Andres entgegen anderslautenden Medienberichten. Und: Für den neuen Landabschnitt gelten die baulichen Einschränkungen nicht.

„Wir müssen dringend etwas tun“, ist sich Andres sicher. Schließlich seien die Zeiten vorbei, in denen Touristen aufgrund des zollfreien Wareneinkaufs massenweise die Insel besuchten. „Das alleine zieht nicht mehr“, so Andres, der Besuchern ohnehin rät, zumindest einen Tag länger zu bleiben. „Als Tagesgast kommen Sie an, haben Hunger, gehen etwas essen, kaufen noch ein wenig zollfrei ein und müssen dann wieder zurück zum Einschiffen auf den Dampfer.“ Dabei habe Helgoland weitaus mehr zu bieten als Mandelschokolade, Marlboro und Mariacron.

Die Seebäderschiffe sind bereit zum Auslaufen, die Passagiere klar zum Einbooten – eine einmalige Touristenattraktion, die bei kräftigem Seegang zu einer äußerst schaukeligen Angelegenheit werden kann. In kleinen Booten, sogenannten Börtebooten, werden sie an die Reede gebracht, den Ankerplatz der Dampfer. Blauer Himmel, klare Sicht – volle Kraft voraus. Noch lange sind die im Sonnenlicht glänzenden roten Klippen vom Heck aus am Horizont zu erkennen, während die „Atlantis“ auf  Cuxhaven zusteuert. Immer kleiner wird das Eiland. Dann versinkt „The Rock“ im Meer – wie ein Wal.

Fotos: Ein Felsen mitten in der Nordsee: „Wer auf festem Lande nirgends Heilung fand, wird sie wahrlich finden, dort in Helgoland“ (Hoffmann von Fallersleben), Die „Lange Anna“: Das Wahrzeichen Helgolands, Helgoland, drei Seebäderschiffe liegen auf Reede (Ankerplatz), links die Landungsbrücke, rechts der Südhafen: Die Insel hat mehr zu bieten als Marlboro und Mariacron, Gipfelkreuz auf dem Pinneberg: Bollwerk, St. Nicolai-Kirche: Architektonisches Ensemble, Hummerbuden auf Helgoland: „In den fünfziger Jahren auf dem Reißbrett entstanden“, Häuser in typischer Inselarchitektur: Auf Helgoland ist die Zeit stehengeblieben

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