© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

Eine Serie von Generalmajor a. D. Gerd Schultze-Rhonhof / Teil 6
Danzigs Zukunft wurde zuvor in Prag verspielt
Nachdem Hitler in die „Rest-Tschechei“ einmarschierte, war jeder außenpolitische Kredit verspielt / Polen pokerte danach va banque

Das Jahr 1939 war nicht nur das Jahr des Kriegsausbruchs. Der Herbst 1938 und der Winter, das Frühjahr und der Sommer 1939 waren auch eine Zeit bemerkenswerter Veränderungen und Verhandlungsbemühungen. Alles begann nach der Konferenz von München im Oktober 1938 mit den deutsch-polnischen Gesprächen über die Zukunft Danzigs und um exterritoriale Verkehrsverbindungen nach Ostpreußen. Mit dem Zerfall der Tschechoslowakei in drei neue Staaten ein halbes Jahr danach fanden die Verhandlungen zwischen Berlin und Warschau ein abruptes Ende. Hitler vergriff sich an der Rest-Tschechei und ließ sie völkerrechtswidrig als Protektorat besetzen.

Nach Zerschlagung der Tschechei 1939 war jeder Kredit verspielt

Großbritannien ging infolgedessen auf Konfrontationskurs zu Deutschland. Polen ergriff die Gelegenheit und wechselte von der deutschen auf die britische Seite über. Großbritannien stellte Polen einen Persilschein für seinen weiteren Umgang mit dem Deutschen Reich aus. Großbritannien und Frankreich versprachen Polen ihre Unterstützung für den Fall einer deutsch-polnischen Auseinandersetzung um Danzig und die Passage durch den Korridor. Zu allem Überfluß entwickelte sich im Mai 1939 noch der sogenannte Zollinspektorenstreit zwischen der Freien Stadt Danzig und Polen, der beinahe schon im August 1939 den Krieg ausgelöst hätte. In den letzten neun Tagen vor Kriegsausbruch ging Hitler dann aufs Ganze, er verlangte von Polen ein Entgegenkommen bis zum Monatsende. Als das ausblieb, ließ er die Wehrmacht in Polen einmarschieren und löste so den Zweiten Weltkrieg aus.

Nach diesem Parforce-Ritt durch das letzte Jahr vor Kriegsausbruch das Ganze noch einmal im Detail: Der deutsch-polnische Freundschaftsvertrag von 1934 hatte eine stabile Phase des Verhältnisses beider Staaten eingeleitet. Das führte dazu, daß Polen sich im Oktober 1938 seine Landerwerbung in der zerfallenden Tschechoslowakei von Hitler billigen ließ. Polen wollte den tschechischen Teil des Industriegebiets von Teschen annektieren und dabei auch die tschechisch, deutsch und polnisch bewohnte Grenzstadt Oderberg. Das Auswärtige Amt in Berlin hatte Einspruch gegen die Annexion von Oderberg in Warschau eingelegt, doch Hitler war hier eingeschritten. Er hatte die Grenzstadt Polen zugestanden. Sein Argument: „Wir können nicht um jede deutsche Stadt mit Polen streiten.“ Seine Hoffnung war, daß Polen dafür der Wiedervereinigung der deutschen Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich zustimmen würde.

Bald nach der Annexion des Teschener Gebiets und Oderbergs durch Polen im September 1938 begann Hitler im Oktober Verhandlungen um Danzig, die Transitwege und die Einhaltung der Menschenrechte für die Volksdeutschen in Polen. Sein erstes Angebot: die Anerkennung der polnischen Gebietserwerbungen der altdeutschen Gebiete seit 1918 und die Verlängerung des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrags von 10 auf 25 Jahre. Das erste der beiden Angebote Hitlers war ein großer Schritt Richtung Polen. Alle polnischen Regierungen seit 1924 hatten die Reichsregierungen vor Hitler stets gebeten, ihre Gebietsgewinne in Posen, Westpreußen und Oberschlesien als endgültig anzuerkennen. Alle Regierungen der Weimarer Republik hatten dieses abgelehnt. Hitler bot die Anerkennung als erster deutscher Kanzler an.

Im Januar 1939 legte Hitler noch einmal nach. Er schlug vor: „Danzig kommt politisch zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen“, was den bisherigen Status quo Polens unwesentlich verändert hätte. Außerdem lud Außenminister Joachim von Ribbentrop Polen zum Beitritt in den „Antikomintern“-Pakt ein. Bis in den März 1939 hinein gab es sechs Anläufe, die drei deutsch-polnischen Probleme auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Polen war zwar bereit, das Recht anzuerkennen, den Freistaat von Deutschland diplomatisch im Ausland zu vertreten zu lassen, aber in den territorialen Fragen kam man sich nicht näher. Zu dieser Zeit, im Winter 1938/39, war Polen wegen seiner außenpolitischen Spannungen mit fast allen Nachbarstaaten nach 1920 und wegen der erfolgten Teschen-Annexion in London noch geächtet.

Ende März 1939 aber wendete sich das Blatt. Hitler beging seinen großen Fehler. Er erklärte die Tschechei, entgegen früher gegebenen Versprechen, zum deutschen Protektorat und ließ sie besetzen. Nun brauchten die Briten Verbündete gegen Deutschland. Sie boten Polen einen Beistandspakt gegen Deutschland an. Polen wechselte den Partner und ging auf Großbritanniens Seite über. Zu diesem Seitenwechsel hatte beigetragen, daß Deutschland im März die von den Slowaken erbetene Schutzherrschaft für ihren neuen Staat übernommen hatte, obwohl die polnische Regierung der Ansicht war, das Privileg der Schutzherrschaft hätte Polen zugestanden. Weitere Faktoren waren die Rückgabe des seit 1923 illegal besetzten Memellands von Litauen an Deutschland und der vom Reich mit Rumänien abgeschlossene Handelsvertrag. Deutschland hatte in kurzer Frist vier Erfolge an Polens Grenzen eingefahren, und Polen war leer ausgegangen.

Polnische Teilmobilmachung        erfolgte bereits Ende März 1939

Obwohl die Versuche der deutschen Seite, mit den Polen weiter zu verhandeln, zunächst noch weiterliefen, schloß Warschau Ende März 1939 eine Beistandsabmachung mit den Briten, machte seine Streitkräfte teilmobil, das heißt, es verdoppelte seine Truppen, stellte sieben Armeestäbe auf und ließ Truppen in Richtung Ostpreußen aufmarschieren. Hitler reagierte und gab am 3. April der Wehrmacht erstmals konkret den Befehl, einen Angriff gegen Polen (Fall Weiß) für den Fall vorzubereiten, daß Polen seine Haltung gegenüber dem Deutschen Reich weiter verschärfen sollte.

Nun herrschte Eiszeit zwischen Deutschland und Polen. Dennoch machte die deutsche Reichsregierung noch ein paar Anläufe, weiter zu verhandeln. Doch die polnische Regierung erklärte nun, der Status der Freien Stadt Danzig beruhe nicht auf dem Vertrag von Versailles, sondern auf der jahrhundertelangen Zugehörigkeit Danzigs zum Königreich Polen. Und Posen und Westpreußen gehörten de jure und de facto längst zu Polen. Die von Hitler angebotene Anerkennung der polnischen Gebietsgewinne sei keine Gegenleistung.

Bemerkenswert bei dieser Entwicklung ist, daß Polen die ersten Aufmarschschritte für die Kriegseröffnung eingeleitet hatte. Die neuen Armeehauptquartiere waren bereits an ihren späteren Kriegsstandorten aufgeschlagen und wurden bis zum Kriegsbeginn auch nicht mehr abgerüstet. Zudem hatte Polen den größten Teil der einberufenen 330.000 Reservisten bis zum Kriegsanfang nicht mehr entlassen. Die Mobilmachung setzte sich im Mai und später in kleinen Schritten fort, wie auch die Verlegung von Truppenteilen an ihre späteren Einsatzorte. Der polnische Aufmarsch war damit drei Monate vor dem deutschen eingeleitet. Die deutschen Mobilmachungs- und Aufmarschvorbereitungen begannen erst am 26. Juni 1939 mit der Verlegung von neun Infanteriedivisionen an die polnisch-deutsche Grenze.

Fortsetzung in der nächsten JF

Foto: Polnischer Außenminister Jozef Beck (l.) und Marschall Edward Rydz-Smigły (M.) werden 1938 im Teschener Gebiet von Vertretern der polnischen Minderheit begrüßt: Außenpolitisch nur kurzzeitig geächtet

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