© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

Gerade im Abendland untypisch
Egon Flaigs „Weltgeschichte der Sklaverei“ präsentiert überraschende Erkenntnisse
Karlheinz Weissmann

Die Sklavenkarawane“ zu lesen, ist ebenso aus der Mode gekommen wie die Lektüre von „Onkel Toms Hütte“. Allerdings spielt die Versklavung von Schwarzen durch Weiße nach wie vor eine Rolle im Kollektivgedächtnis, wird sogar zunehmend wichtiger, angesichts der Afrikanisierung der britischen oder französischen Bevölkerung und der von Staaten der „Dritten Welt“ erhobenen Forderung nach Wiedergutmachung.

Demgegenüber ist die Erinnerung an die Versklavung von Weißen aus dem Geschichtsbild verschwunden. Man kann das wahlweise auf den „Euromasochismus“ (Gerd-Klaus Kaltenbrunner) oder auf eine Amnesie zurückführen, die aus der verharmlosenden oder verfälschenden Darstellung der Beziehungen zwischen Abendland und Morgenland folgt (JF 35/08, „Verschwiegener Völkermord“). Egon Flaig macht in seinem neuen Buch „Weltgeschichte der Sklaverei“ plausibel, daß der zweite Faktor den Ausschlag gibt, und im Zentrum seiner Darstellung steht das verdrängte, wenngleich „größte und langlebigste skavistische System der Weltgeschichte“, das mit den Eroberungen des Islam seit dem 7. Jahrhundert entstand und erst mit dem Beginn des europäischen Imperialismus im 19. Jahrhundert ein Ende fand.

Beim Auftreten des Islam gab es Sklaverei allerdings schon als lange geübte Praxis, bekannt in primitiven Gesellschaften (worauf Flaig leider nicht eingeht) wie in Hochkulturen. Die Unfreiheit war häufig abgestuft, manchmal zeitlich begrenzt, gelegentlich vom Staat organisiert, aber im allgemeinen dem „Markt“ überlassen, in einigen Fällen förderte man die Selbstreproduktion der Sklaven, anderswo wurde gerade das vermieden. Es gab Sklaven, die als Stellvertreter ihrer Herrn Geschäfte führten, und solche, die Schwerstarbeit systematisch zugrunde richtete, Werkzeuge oder Lustobjekte, in jedem Fall aber war der Sklave – wiewohl ein Mensch – „sozial tot“, den anderen künstlich „entfremdet“, ohne Verwandte, ohne Rechte, und sein Status blieb oft auch defizient, wenn der Herr ihn entließ.

Was angesichts der Varianten von Sklavenhaltergesellschaften die islamische zu einem Extremfall machte, war neben dem relativ hohen Bevölkerungsanteil, den die Sklaven stellten, das Prinzip der „Herdensklaverei“ und die vollständige Durchdringung des sozialen Gefüges von der Basis bis zur Spitze. Das hatte einerseits die Entstehung eines „interkontinentalen sklavistischen Systems“ zur Folge, das neben dem islamischen Herrschaftsbereich (Spanien, Nordafrika, Arabien, den Nahen Osten und Teile Indiens) auch die angrenzenden „Lieferzonen“ umfaßte, also die christlich gebliebenen Territorien des Osmanischen Reiches, die slawischen und die schwarzafrikanischen Grenzgebiete, die mit immer neuen „Versklavungswellen“ überzogen wurden. Andererseits kam es zur Entstehung von bis dahin unbekannten Spielarten der Sklaverei im Rahmen der Elitenrekrutierung, vor allem Eunuchie und Mamlukentum gehörten in diesen Kontext.

Eunuchen standen besonders hoch im Kurs, da nicht einmal die Hälfte der Männer, manchmal nur ein Zehntel die Kastration überlebte. Ihre Bedeutung für den Harem des Herrschers wird allerdings überschätzt, dessen Insassinnen oft auch Sklavinnen waren, größere Bedeutung hatten sie in der Administration, da ihr Einsatz verhinderte, daß eine erbliche Aristokratie entstehen konnte.

Ähnliche Motive standen auch im Vordergrund der Militärsklaverei, wobei Flaig den Begriff Mamlukentum verwendet, der sich eigentlich auf die ägyptische Erscheinungsform bezieht. Von noch größerer Bedeutung waren die türkischen Janitscharen, die mit Hilfe der „Knabenlese“  ihren Bestand hielten: Jedes Jahr wurden zwanzig Prozent der christlichen Jungen festgesetzt, ihren Eltern weggenommen, nach Istanbul gebracht und dort einem Prozeß der „Umschaffung“ ausgesetzt, der sie zu fanatischen Kämpfern für den Islam machte.

Der Islam war niemals in der Lage, aus eigener Kraft die Sklaverei in Frage zu stellen. Nicht einmal das Versklaven von Moslems durch Moslems wurde je nachhaltig in Zweifel gezogen, wenngleich es einfacher war, Ungläubige gefügig zu machen. Soweit es heute noch immer Sklaverei gibt, findet sie sich bezeichnenderweise in muslimisch geprägten Gebieten, etwa dem Sudan oder Mauretanien. Das auch nur zu erwähnen, gilt als politisch inkorrekt, denn es könnte der Eindruck entstehen, als ob hier europäische, weiße Schuld minimiert würde. Flaig ist durch solche Vorhaltungen nicht zu beeindrucken und hat im Kontext seiner Darstellung die europäische Sklaverei – vor allem mittels Deportation von Schwarzafrikanern nach Süd- und Nordamerika – zwar angemessen und gründlich behandelt, aber die Entwicklung als eine im Grunde eher „unwahrscheinliche“ bezeichnet.

Tatsächlich spielte Sklaverei nach der Christianisierung im Okzident kaum noch eine Rolle. Es gab zwar zahllosen Formen der Un- oder Teilfreiheit, aber Sklaverei im antiken Sinn nur ausnahmsweise. Die Situation änderte sich mit der Eroberung der Neuen Welt, der Einsicht, daß weder Weiße noch Einheimische zur Zwangsarbeit geeignet waren, und dem Entschluß, auf das Konzept zurückzugreifen, das sonst im globalen Maßstab angewendet wurde.

Flaig hebt die außerordentliche Grausamkeit der zuerst von den Portugiesen eingeführten modernen Sklaverei hervor, betont allerdings, daß es sehr früh grundsätzliche Einwände von theologischer wie philosophischer Seite gegeben habe. Die betrafen zuerst die Indianer, zuletzt aber auch die Schwarzen. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts stand die Sklaverei unter außerordentlichem Rechtfertigungsdruck, was zum einen auf den „abolitionistischen“ Protestantismus, zum anderen auf die Aufklärung zurückzuführen war. Trotzdem hielt sich die Sklaverei in den USA bis in die Mitte, in anderen Kolonien, etwa Brasilien, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Abschaffung führte jedesmal zum Kollaps des ökonomischen Systems, vor allem soweit es um Plantagenwirtschaft ging. Ein ähnlicher Prozeß vollzog sich in den muslimischen oder schwarzafrikanischen Gebieten, die die Europäer unterwarfen. Die Vehemenz, mit der Flaig diesen Vorgang als Fortschritt der Humanität beschreibt, ist ebenso frappierend wie seine Weigerung, den Üblichkeiten des Opferdiskurses zu folgen. Bezeichnenderweise lehnt er den Begriff „Kollaboration“ für das Verhalten der Schwarzafrikaner ab, die ihresgleichen fingen und als Sklaven an Araber oder Weiße verkauften. Nachdrücklich weist er darauf hin, daß schwarze Häuptlinge und Könige die Konditionen des Handels bestimmten und daß es keinen Hinweis auf irgend-eine Art von schwarzer Solidarität gegeben habe.

Angesichts von Flaigs Gesamtbild einer im Normalfall sklavenhaltenden Menschheit stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu jenem „schmalen Sonderweg“ kommen konnte, der in Nord- und Westeuropa eine sklavenfreie Gesellschaft entstehen ließ. Flaigs Antwort ist eindeutig. Die Ursache lag nicht in irgendwelchen Zufällen oder materiellen Umständen, sondern in der christlichen Vorstellung vom Wert jeder menschlichen Seele. Das erste Rechtsbuch der Geschichte, das Leibeigenschaft wie Sklaverei als Unrecht verwerfe, sei der „Sachsenspiegel“ gewesen, und bereits 1299 setzte der französische König Philipp der Schöne alle Leibeigenen auf den Krongütern in Freiheit mit der Begründung, „daß jegliches menschliche Geschöpf, welches nach dem Bild unseres Herrn geformt ist, kraft des natürlichen Rechts im allgemeinen frei sein muß“. Flaig sieht sich in dieser besonderen Tradition, um seinen Maßstab zur Beurteilung beziehungsweise Verurteilung der Sklaverei zu entwickeln, der allerdings einen universalen Anspruch erhebt.

Es ist hier nicht der Platz, um auf die argumentativen Schwierigkeiten, die daraus folgen, oder auf weitere Aspekte der Darstellung Flaigs einzugehen, die die Sonderformen der hebräischen Sklaverei oder die „Erfindung“ des Hautfarbenrassismus durch die islamische Sklavenhaltergesellschaft betreffen, die Rolle der Nomaden als „Versklaver schlechthin“ oder die Funktion des Pferdes als „reine Waffe“ südlich der Sahelzone, die überraschende ökonomische Effizienz der Sklaverei oder das Zusammenspiel von Sklaverei und Demokratie im antiken Athen. Das Gesagte sollte aber genügen, um deutlich zu machen, warum Egon Flaigs „Weltgeschichte der Sklaverei“ zu den wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres zählt.

Egon Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei.  C.H. Beck, München 2009, broschiert, 238 Seiten, Abbildungen, 12,95 Euro

Foto: Bewohner Innerösterreichs werden von Osmanen in die Sklaverei entführt, Holzschnitt um 1530: Die Erinnerung an die Versklavung von Weißen ist aus dem Geschichtsbild verschwunden

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen