© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

Ordensburgen mit Zivilisationsschrott
Unterwegs im Norden Ostpreußens: Christian Papendicks fotografische Spurensuche in einer untergehenden Sehnsuchtslandschaft
Mathias Heyse

Christian Papendick, Jahrgang 1926, war Architekt und hat sich seit dem Eintritt ins Rentenalter mehr und mehr der Landschaftsfotografie zugewandt. Prächtige Bildbände über Sylt, die „Insel der Reichen und Schönen“, und über die seit 1945 unter russischer und litauischer Herrschaft stehende Kurische Nehrung waren die bislang sichtbarsten Erzeugnisse dieser Passion. Mit dem jüngsten, monumentalen Bildband über das nördliche Ostpreußen hat sich der gebürtige Königsberger allerdings selbst übertroffen und seiner Heimat ein unvergängliches Denkmal gesetzt.

Wohlgemerkt: seiner „Heimat“, dem alten Ostpreußen mit der Provinzhauptstadt Königsberg. Denn die dürfte es nicht mehr lange geben. Papendicks Konservierung in weit über eintausend überwiegend  zwischen 1995 und 2007 entstandenen Farbfotos auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist daher durchaus als „Unternehmen Rettung“ anzusehen. Einiges, was sich hier wenigstens noch als ruinöser Torso darbietet, ist jedoch 2009 bereits vollständig verschwunden: seit der „letzten Aufnahme zum Zweck der Ziegelverwertung niedergerissen“ – wie das alte Stellwerk des Bahnhofs Gerdauen. Anderes ist zwischen zwei Besuchen einfach nur weiter verkommen, wie das zusammengesunkene Herrenhaus Albrechtau bei Darkehmen.

Dies ist die wichtigste Lehre, die Papendicks Bilderstrecken vermitteln: Die Zerstörung einer hochentwickelten europäischen Kulturlandschaft ist nicht allein das Resultat von vierzig Jahren sowjetkommunistischer Mißwirtschaft. Mittlerweile hat das „Kaliningrader“ Gebiet nämlich fast zwanzig Jahre „freien“, mitunter „wilden“ Kapitalismus und eine, wenn auch „gelenkte“ Moskauer „Demokratie“ hinter sich. Und der Verfall der historischen Architektur, des Verkehrnetzes aus deutscher Zeit, der Wirtschaft und der Landeskultur ist trotzdem unaufhaltsam fortgeschritten.

Papendick dokumentiert zahllose Fälle des ordinären Vandalismus, anzutreffen in Podollen im Pregeltal, wo das Gutshaus „aus wahrem Übermut verwüstet“ wurde, oder in Städten wie dem zerbröselnden Gerdauen, dessen Bausubstanz eigentlich gute Voraussetzungen für eine historische Rekonstruktion geboten hätte – anders als etwa das 1945 dem Erdboden gleichgemachte Schirwindt, die praktisch verschwundenen Kleinstädte Nordenburg oder Zinten. Nahezu überall Niedergang, Trostlosigkeit, Verwahrlosung: Beim Blättern und Schauen beginnt man zu fragen, ob sich hier der Gegenmensch seinen Lebensraum geschaffen hat.

Daß die ostpreußischen Kirchen nach 1945 besonders gelitten haben, zu Kuhställen und Turnhallen umfunktioniert wurden, ist auch Papendick bekannt. Ebenso das traurige Schicksal der meisten Gutshäuser und Schlösser. Trotzdem kann auch der so nüchtern mit der Kamera protokollierende Fotograf manchmal nicht an sich halten und beschreibt fassungslos und voller „Empörung“, wie sich inmitten der ruinierten Denkmäler aus der Ordenszeit „der übliche Verfall“, „mutwillige Zerstörung“ oder einfach nur Halden von „Zivilisationsschrott“ wie in der Ordensburg Ragnit finden.       

Solche Emotionen gestattet sich der Chronist in seinen überaus kenntnisreichen, historisch, genealogisch, topografisch vorbildlich präzisen Bildtexten indes eher selten. Mit vielen Bildern scheint er sogar seine bitteren Einblicke in dieses Stück „untergegangenes Abendland“ wieder überdecken zu wollen. Denn Papendicks magisch-realistischer Stil, der Landschaften und Ruinen barmherzig in ein Lichtgeschmeide hüllt, bietet dem Betrachter stets die Chance zur unabdingbaren Wirklichkeitsflucht. Aber aus welchen Motiven man sich immer diesen suggestiven ästhetischen Kompositionen hingeben mag, unbestreitbar dürfte wohl sein: Vor und nach 1945 sind in Ostpreußen keine prägnanteren Bilder entstanden. 

Trotzdem führt am Ende dieser ebenso eindrucksvollen wie erschütternden Fotoschau kein Weg an der traurigen Erkenntnis vorbei: Geht es nur noch fünf bis zehn Jahre in diesem Trott weiter, dann „sprechen auch die Steine nicht mehr deutsch“ (Peter Ruge).

Christian Papendick: Der Norden Ostpreußens. Land zwischen Zerfall und Hoffnung. Eine Bilddokumentation. Husum Verlag, Husum 2009, gebundenes Großformat, 488 Seiten, 59 Euro

Fotos: Reste der Ordenskirche von Groß Wohnsdorf, Kreis Bartenstein, aus dem 14. Jahrhundert inmitten der heute verschwundenen Ortschaft, Aufnahme von 1997: Nahezu überall Niedergang, Trostlosigkeit und Verwahrlosung im heutigen Kaliningrader Bezirk. Geht der Verfall nur noch fünf bis zehn Jahre in diesem Trott weiter, dann sprechen auch die Steine nicht mehr deutsch., Versteppte Landschaft im Samland, wo früher endlose Getreidefelder waren: Ein Stück untergegangenes Abendland, 1997 standen noch Relikte des Guts Groß Plauen im Kreis Wehlau, 1999 waren selbst diese eingestützt: Üblicher Verfall, Chor und Kirchenschiff der Kirche zu Tharau 2002: Hier heiratete 1637 die im Volkslied besungene Pfarrerstochter Anna Neander

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