© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

Die elektrisierten Massen
Nicht nur im twitternden Teheran: Wie Buchdruck, Zeitungen und neue Technologien die Gesellschaft beeinflussen
Michael Manns

Ein Web-Traum geht um: 140 Zeichen sollen einen Umsturz möglich machen. Dieser Traum wird seit Wochen in den Medien geträumt: Handys und Computer sollen die Diktatur im Iran stürzen. Und der Medientheoretiker Norbert Bolz schwelgte: „Jetzt endlich entfaltet sich die revolutionäre Kraft des Internet.“ Die Kraft, die zeitweise zur Hauptwaffe der Opposition im Iran geworden ist, heißt „Twitter“. Der Internetdienst ermöglicht eine sehr schnelle Kommunikation unter den Nutzern quasi in Echtzeit. Die Twitterer senden Kurznachrichten. Das können einfache Texte sein, aber auch Hinweise (Links) auf andere Quellen oder auf Fotos. Dreißig Millionen Menschen weltweit nutzen den Internetdienst schon.

Alle Mächtigen und die, die an die Macht kommen wollen, wissen: Um Verhältnisse zu ändern oder geänderte zu stabilisieren, muß man die Massen erreichen. Die Theorie muß zur materiellen Gewalt werden, wie Marx es sagte. Wie in der Vergangenheit Einfluß auf die Bevölkerung genommen wurde, welche Rolle neue Kommunikationstechnologien bei historischen Weichenstellungen hatten, das zeigt ein kurzer Rückblick.

Johannes Gutenberg löste im 15. Jahrhundert eine Medienrevolution aus. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern  breitete sich schnell in Europa aus, und das junge Druckgewerbe wurde gleich in die ideologischen Kämpfe der Zeit verwickelt. Im Bauernkrieg machten sich die Aufständischen die neue Technik zunutze und produzierten Flugschriften in hohen Auflagen, um die Unterdrückten zum Aufstand zu mobilisieren. In der Französischen Revolution wurden Druckwerke förmlich zu Motoren des Aufstandes. 1791 zählte man schon rund 150 Zeitungen. Der Historiker François Furet: „Neben den Klubs war die Presse eine großartige Schule für die ersten Gehversuche des revolutionären Bürgertums.“

Im Juli 1870 erhielt der Reichskanzler Bismarck in Bad Ems ein Telegramm über eine Unterredung zwischen König Wilhelm I. und dem französischen Gesandten. Bismarck kürzte und redigierte den Text und ließ ihn veröffentlichen. Frankreich fühlte sich daraufhin so brüskiert, daß es den Krieg erklärte – und verlor. So führt letztendlich eine Linie von der Emser Depesche zur Reichsgründung. Das Erfolgsrezept Lenins könnte man so zusammenfassen: eine Partei, ein Programm, ein Chef – und eine Zeitung, Iskra („Der Funke“). In dieser entwickelt er ab 1900 sein Konzept vom revolutionären Kampf. Iskra wird dabei für den Berufsrevolutionär zum „kollektiven Agitator und Organisator“.

Am Abend des 10. November 1919 machte ein legendenumwobenes Telefonat in Berlin Geschichte: Der neue Reichskanzler Friedrich Ebert sprach mit General Wilhelm Groener von der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa – über eine geheime Leitung. Der Inhalt ihrer Abmachung: Ebert bekämpft Bolschewismus und Räteunwesen. Die Reichswehr ist loyal. Groener später: „Von da an besprachen wir uns täglich abends. Das Bündnis hat sich bewährt.“ Natürlich waren Zeitungen auch für Hitler und seine Helfershelfer wichtig. Aber Goebbels setzte instinktsicher auf die „neuen Medien“: Radio (Volksempfänger), Film, Kino (Wochenschau). Hitlers suggestive Macht, mit der er seine Zuhörer in Bann zog, konnte in den großen Sälen und Stadien nur funktionieren dank Mikrophon und Lautsprecheranlagen.

In den 1970er Jahren eroberte dann eine Form von Telekopie vor allem die Geschäftswelt. Mit dem Fax wurde schnelle, weltweite Information möglich (heute abgelöst durch E-Mails). Der Informationsfluß während der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine wurde vor allem durch Fax und Fotokopierer gesteuert. Die Neue Zürcher Zeitung konstatierte im Februar 2005: „So paßt auch der soziale Umsturz seine Gestalt der Zeit an.“

Ayatollah Khomeini, der lange im Pariser Exil lebte, benutzte eine nützliche Technologie aus dem verhaßten Westen – die Audiokassette. Dutzende Aufnahmegeräte säumten sein Rednerpult. Seine Forderungen (Tenor: „Das gottlose Regime muß weg“) wurden so im Land verbreitet und Vehikel der Opposition gegen das repressive Schah-Regime.

Kommunikationstechnik ist immer eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Verwertungszusammenhänge und wird von Machtinteressen funktionalisiert. Zur Wahrheit gehört die Lüge, zum Fakt der Fake. Die Geschichte der Lügen in den Medien (oder für die sie benutzt worden sind) ist genauso relevant wie die Geschichte ihrer investigativen Erfolge. Der propagandistische Erfolg zweier Medienlügen steht für viele andere. So sollten irakische Truppen 1990 Säuglinge in kuwaitischen Krankenhäusern aus Brutkästen gerissen und so ermordet haben. Diese Inszenierung, unterstützt von der tränenreichen Rede der Tochter des kuwaitischen Botschafters, Nijirah al-Sabah, vor dem US-Kongreß, gab einen Anstoß für den US-Angriff auf den Irak.

Eine andere Szene spielte am 30. September 2000 in der Stadt Netzarim im Gazastreifen. Hinter einem Faß starb der Palästinenserjunge Mohammed al-Dura neben seinem Vater – erschossen von israelischen Soldaten vor laufenden Kameras, so suggerierten es die Bilder.  In der arabischen Welt wird der Junge als Märtyrer verehrt. Später kam heraus: alles Manipulation. Die Lüge ist so alt wie die Menschheit und betrat schon im Garten Eden die Welt. Der Fortschritt in der Entwicklung der Kommunikationstechnologie ist kein Garant für gesellschaftlichen Fortschritt. Die materialisierte mathematische Vernunft in den Twitter-Handys ist instrumentalisierbar für jede Form von Nachrichtenpolitik (vulgo Propaganda).

Der Technikanalytiker Lewis Mumford sagte schon vor vierzig Jahren: „Man hat das Dampfschiff, die Eisenbahn, die Post, den elektrischen Telegraphen und das Flugzeug als Mittel bezeichnet, Mißverhältnisse zwischen natürlichen und kulturellen Reichtümern zu korrigieren und die Welt politisch zu vereinigen.“ Ein Irrtum, so Mumford: „Mit dem Fortschritt der Technik nahmen Sittenverfall, Gegensätze und Massenmorde zu. Es gibt überhaupt keinen Grund zu der Annahme, daß Radio und Fernsehen zu unserem Wohlergehen beitragen werden, solange sie nicht zu Instrumenten weiserer Entscheidung geworden sind.“

Foto: Nijirah al-Sabah vor dem US-Kongreß am 10. Oktober 1990: Brutkastenmorde

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