© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

CD: Haydn
104+4
Jens Knorr

Welche Richtung man in den Klassikabteilungen der Kulturkaufhäuser auch einschlägt: Ziegelsteine verstellen den Weg zur Musik. Bevor der Klassikhörer die neuen Distributionswege via Internet mitgeht, verramschen die großen Musikkonzerne noch hurtig ihre Archivschätze en bloc auf CD.

Der Hörer bleibt auf seinen Verstand, seine Kenntnisse und seinen Instinkt verwiesen, wenn er unter all den „streng limitierten“ Sonderboxen diejenigen herausfinden will, die ihm über den Besitzerstolz ob des Gesamtwerks eines Komponisten, einer kompletten Werkgruppe oder gar des „ultimativen“ Gattungsüberblicks hinaus auch den unbeschreibbaren Hörmoment verschaffen können, da die richtige Interpretation den Wahrheitsgehalt einer Musik in ihm zum Klingen bringt.

Mit der legendären Ersteinspielung aller Haydn-Symphonien durch die Philharmonia Hungarica unter Antal Doráti aus den Jahren 1969 bis 1972 fällt dem Käufer ein freundlicher Ziegelstein auf die Ohren (Decca/Universal 4781221).

Der Herzenswunsch des ungarischen Dirigenten hatte die Abenteuerlust eines jungen Produzenten namens James Mallinson geweckt, der gerade bei Decca neu angefangen hatte. Auch das Orchester war bald gefunden, eben jene Ungarische Philharmonie, die sich aus Musikern zusammensetzte, die nach Niederschlagung des Ungarischen Aufstands emigriert waren und ihre Heimstatt erst in Wien, schließlich im westfälischen Marl gefunden hatten.

Nach ersten Probeaufnahmen im Festspielhaus Recklinghausen, dann Aufnahmen in der Bielefelder Rudolf-Oetker-Halle (Symphonien Nr. 49–72), war mit der St.-Bonifatius-Kirche in Marl, die eine für Kirchen ungewöhnlich trockene Akustik aufwies, der ideale Aufführungsort gefunden, um das Projekt konsequent durchzuziehen.

Allem Fortschritt der historischen Aufführungspraxis seither eingedenk, der auch an Haydns Symphonien nicht vorbeiging, hat diese Aufnahme keinen Staub angesetzt. Doráti macht es übrigens ganz genau: Die 22., 53. und 63. Symphonie hat er jeweils auch in der alternativen Fassung, die 103. mit dem Alternativschluß aufgenommen. Es mag an der gemeinsamen Herkunft der Musiker liegen, daß sie 104+4 Mal den richtigen Ton treffen, den Haydn-Ton, es liegt auf jeden Fall an ihrem stets wachen, vorurteilslosen Blick in die Noten, die sie in ein frisches, aber nicht naßforsches, intelligentes, aber nicht verkopftes, heiteres, aber nicht flaches Spiel umsetzen.

Gewiß gibt es inzwischen von einigen der Symphonien – eigentlich von immer denselben wenigen – Interpretationen, die entschiedener und auch spannender klingen, jedoch keine, die mit der Freude und der Begeisterung über diesen neu entdeckten und vermessenen Klassiker mithalten könnte, die den Hörer aus jedem Ton der 33 CDs entgegenspringen.

Er darf an nicht mehr und nicht weniger als an der Schöpfung der klassischen Symphonieform teilhaben, an unentwegtem Experiment eines unermüdlichen Experimentators, an Rückschlägen, Schleichwegen, unerwarteten Richtungswechseln, ernsten Späßen, krisenhaften Zuspitzungen, verblüffenden Vorwegnahmen und – hört man richtig? – erschöpften Rücknahmen. „Dieser einsichtige, vielschichtige Komponist verbindet kindliche Naivität souverän mit gereiftem Können“, schreibt die Komponistin Olga Neuwirth über ihren Kollegen: „Herz, Geist, Geschmack, Freiheit, Lebendigkeit und Originalität, Humor, Tiefe und Klarheit– was für eine wunderbare Mischung!“

Doráti und die Seinen machen den Hörer von Symphonie zu Symphonie mehr zum lächelnden Mitwisser. Das ist wie Schmiere stehen, nur daß einem die Zeit nicht lang wird. 

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