© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

Zurück in den Garten
Weniger, kleiner, langsamer: Warum wir Abschied vom Wachstumsdenken nehmen müssen.
Silke Lührmann

Geiz mag geil sein, Verzicht ist kein Wort, das der Mensch des 21. Jahrhundert gerne hört: wir Westler nicht, die wir unseren verschwenderischen Lebensstandard für ein hart erkämpftes Menschenrecht halten, und die Bevölkerungen der sogenannten Entwicklungs- oder Schwellenländern, für die er mancherorts unerfüllbarer Traum bleibt, anderswo gerade in greifbare Nähe gerückt scheint, erst recht nicht.

Eine Menschheit, die nicht nach immer mehr, immer größer, immer schneller strebt, scheint heute überhaupt nicht vorstellbar; man mag durchaus bezweifeln, ob sie das jemals war. Erzählt nicht der Gründungsmythos der christlichen Zivilisation davon, wie die eigene Neugier, seine Gier nach Neuem, den Menschen aus dem – nicht zufällig als „Garten“ bezeichneten – Paradies verbannte?

Die Verfasser des Alten Testaments waren noch weise genug, diese Weigerung, uns mit dem Gegebenen, Genügenden zu begnügen, diesen Fortschrittsdrang und den fatalen Hang, mehr und neu mit besser zu verwechseln, als Gottesfluch und, ganz im Sinne der antiken Hybris, als menschliches Verhängnis zu deuten. Wir Heutigen halten ihn – ohne die Sehnsucht nach dem Garten je völlig verloren zu haben –  längst für den ureigentlichen Zweck unseres Daseins, für dasjenige Merkmal, das uns vom Tier unterscheide. Kunst, Kultur, alle großen Errungenschaften menschlichen Wirkens in der Welt, sind dezidierte Gegenbegriffe zur Natur, Ausdruck des Willens zu ihrer Überwindung.

Inzwischen ist die Selbstverbannung aus dem Garten ins Exil der Städte – dort, wo immer mehr, immer größer, immer schneller betonierte, verglaste, stählerne Realität geworden ist – fast vollständig vollzogen, die Landwirtschaft selber, einst tagtäglich erfahrenes Überleben, nur noch einer von vielen Industriezweigen.

Die Menschen früherer Zeiten mögen nicht von unserer vollautomatisierten Lebenswelt geträumt haben, von Satelliten und Mobiltelefonen – ebensowenig wie wir uns eine Welt ohne derlei Selbstverständlichkeiten noch vorstellen können –, selbst wenn sie die ersten Voraussetzungen dafür erfanden. Vom Fliegen träumten sie mit Sicherheit, das wissen wir aus Quellen, die sie hinterließen, und allgemeiner gesprochen davon, die Grenzen ebenjenes Erfindungsgeists auszureizen, ja zu überwinden.

Vieles deutet darauf hin, daß bald eine solche Grenze erreicht ist, die sich nicht mehr überwinden läßt: nicht etwa die Grenze des menschlich Vorstellbaren und technisch Machbaren, sondern das Ende dessen, was die Erde zu seiner Verwirklichung hergibt – die Grenze auch dessen, was sie sich an Vermüllung, Raubbau, Mißbrauch, Plünderung gefallen läßt, bevor sie uns zum unwirtlichen und schließlich unbewohnbaren Lebensraum wird.

Wie sehr die Logik des  immer mehr, immer größer, immer schneller unser Vorstellungsvermögen tatsächlich kolonisiert, zeigt die aktuelle „Krise“ in aller Deutlichkeit. Die Existenzangst, die viele  Zeitgenossen befallen hat, ist absolut berechtigt, ja sogar überfällig – aber nicht, weil irgendwelche Spekulationsblasen platzen oder weil infolgedessen mit Wachtumsrückgängen zu rechnen ist, sondern weil unsere Daseinsgrundlagen so gut wie erschöpft sind: Die Rohstoffe und energetischen Ressourcen, die uns warmhalten, sattmachen, von einem Ort zum anderen befördern und unsere vielfältigen sonstigen Launen und Bedürfnisse befriedigen, gehen zur Neige; die in zweihundert Jahren Industrialisierung verbrochene Umweltverschmutzung droht Klimakatastrophen auszulösen, sauberes Trinkwasser und saubere Atemluft zu Luxusgütern zu machen.

Jenseits kurzfristiger Kalkulation bis zum nächsten Wahltermin sind alle panischen Maßnahmen zur Wachstumsankurbelung deswegen nicht nur wider-, sondern geradezu irrsinnig. Statt dessen müßte jetzt endlich die Gelegenheit genutzt werden, den Verzicht in die Wege zu leiten, solange er noch aus freier Entscheidung statt aus äußerer Notwendigkeit erfolgen kann.

Diese Entscheidung, darüber dürfen indes keine Illusionen bestehen, lautet: Wir heute Lebenden können auf gewohntem Niveau weitermachen – die Reichen etwas länger als die Armen, so will es die Gerechtigkeit des Markts –, bis auch die noch vorhandenen Ressourcen aufgebraucht sind, oder wir können dafür sorgen, daß für unsere Kinder und Kindeskinder etwas übrigbleibt. Beides zusammen geht nicht; auf eine noch der Entdeckung harrende dritte Alternative zu hoffen – etwa auf Rettung durch revolutionäre technologische Innovationen –, wäre unverantwortlich.

Auch Lösungsansätze, die auf den ersten Blick eine „sozialverträgliche“ Drosselung der Produktivität zu versprechen scheinen, wie ein garantiertes Grundeinkommen oder Bürgergeld müssen scheitern, solange sie über eine Konsumsteuer finanziert werden sollen, so daß der Staat sich seinerseits genötigt sähe, Anreize zur Verschwendung zu schaffen und die Wegwerf-Mentalität seiner Bürger zu fördern.

Immer weniger, immer kleiner, immer langsamer: Die Rückkehr in den Garten – nämlich zu unserer urtümlichen Bestimmung, ihn zu bauen und zu bewahren, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt –, die der Menschheit allein noch eine Zukunft ermöglichen könnte, erfordert ein radikales Umdenken, eine Absage an Jahrhunderte der Fortschrittsgläubigkeit, ganz zu schweigen von der ihrerseits in der Bibel verankerten Allmachtphantasie über eine untertänige Erde. 

Wie ein solcher Wandel in unserem Denken und Handeln zu bewerkstelligen sein könnte, das erscheint ebenfalls unvorstellbar. Auch ein sozusagen freiwilliger Verzicht muß nicht nur verwaltet, sondern gegen erhebliche Widerstände bei Unternehmern wie Verbrauchern durchgesetzt werden – er wäre, das englische to enforce ist hier ehrlicher, zu erzwingen. Die zur Verfügung stehenden staatlichen oder überstaatlichen Institutionen empfehlen sich nicht eben durch viel Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz für diese Aufgabe.

Öko-Siedlungen mit Passivhäusern, Fahrradwegen statt Straßen und autarker Stromversorgung durch Windturbinen und Solaranlagen; kommunale Gemüseanbau-Projekte, wie sie schon vielerorts – sogar vor dem Weißen Haus – entstehen: Mit solchen vereinzelten Initiativen wird die Welt nicht zu retten sein, dazu bedürfte es tatsächlich eines derzeit noch unvorstellbaren Verzichts aller überall auf der Erde. Wenigstens zeugen sie von Ansätzen einer Bereitschaft, das Unvorstellbare denkbar zu machen. Damit es dazu kommen kann, sind Visionen gefragt und das künstlerische Engagement, sie zu vermitteln, vor allem aber eins – viel menschlicher Erfindungsgeist.       

Lesen Sie zu diesem Thema auch den Beitrag auf der Seite 12

Foto: Schlaflose Großstadt: In allem menschlichen Wirken drückt sich der Wille zur Überwindung der Natur aus

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