© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

Kinderleicht aus der Krise
Entwicklungspsychologie: Ein Symposium in Berlin packt die Probleme Deutschlands an der Wurzel und wendet sich dem Nachwuchs zu
Christian Dorn

Die Finanzkrise droht den Blick auf die noch grundlegenderen Probleme zu verstellen: etwa die Fragen der Demographie und der Leistungsfähigkeit Deutschlands. Letztere wiederum hängt in hohem Maße ab von der Innovationskraft und damit von der Bildung künftiger Eliten. Daß Deutschland auch hier gefährdet ist, zeigt nicht nur die nachlassende Zahl von Patent­anmeldungen. Zu denen, die angesichts dessen nach einem nachhaltigen Weg aus der Krise suchen, gehört das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V. Der Frage, wie Innovationsfähigkeit zustande kommt und gestärkt werden kann, widmete sich ein Symposium Anfang der Woche in Berlin.

Daß es dennoch keinen Anlaß gibt, vorschnell das „Licht auszumachen“, dokumentierte Heike Kahl. Sie ist Gründerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, welche den Nachwuchs aus sozial schwachen Familien unterstützt. Kahl verwies auf die Erfolge ihrer Stiftung, durch die verhaltensgestörte Kinder, die von den Lehrern bereits abgeschrieben worden waren, ein Erfahrungsraum verschafft werden konnte, in dem diese den Teufelskreis von Demütigung und Beschämung durchbrechen konnten.

Nicht selten finden sich die Ursachen für die hier zugrunde liegenden Verhaltensmuster in frühkindlichen Störungen. So stand das Symposium nicht zufällig unter dem dreigliedrigen Titel „Bindung – Bildung – Innovation“. Der dahinterstehende Gedanke geht von den Ergebnissen der Hirn- und Bindungsforschung sowie der Entwicklungspsychologie aus. Diese legen nah, daß eine gelungene Bindung in den ersten Jahren das Hirnwachstum und die Autonomiebestrebungen des Kleinkindes fördert und damit zu besserer Bildung disponiert, was letztlich eine stärkere Innovationsfähigkeit ermöglicht. Hierbei sei entscheidend, die Bildung nicht auf die Frage von Wissensvermittlung an Schulen und Universitäten zu beschränken, wie Josef Kraus betonte. Der Präsident des deutschen Lehrerverbandes wandte sich gegen den „Wahn“ vom „Download-Wissen“. Bildung sei mehr als Nützlichkeitsdenken, sie müsse auch ästhetische und anthropologische Bildung umfassen.

Freilich kann die Bemühung, ein hohes Maß an Bildung zu vermitteln, von vornherein zum Scheitern verurteilt sein, wenn das Kind im Frühstadium seiner Entwicklung gestört wird. Dieser Prozeß, das referierte Ludwig Janus, Psychoanalytiker und Pränatalforscher aus Heidelberg, beginne bereits in der vorgeburtlichen Phase. Moderne Ultraschall- und Filmtechnik, die Verhaltensweisen und Reaktionen des Embryos sichtbar machen, demonstrierten, daß Kinder ihre ersten prägenden emotionalen Erfahrungen bereits vor der Geburt machen und einen lebenslangen Hintergrund für die spätere Entwicklung besitzen. Der Mutterleib sei „die erste Schule, die wir alle besucht haben“.

Wie grundlegend die ersten Wochen und Monate des Säuglings für seine spätere Ich-Ausprägung und Persönlichkeitsentwicklung sind, referierte der renommierte Familien- und Kindertherapeut Wolfgang Bergmann (JF 23/08). In seinem Vortrag über „Die Bedeutung der Emotionen für Hirn- und Persönlichkeitsbildung“ legte er dar, wie elementar für Kinder das Spiel um Anerkannt- und Angesprochenwerden sei. Unterbleibe in dieser ersten Phase – einem Zeitraum von idealerweise 12 bis zu 14 Monaten – die Interaktion mit der nächsten Bezugsperson, in der Regel der Mutter, führe dies zwangsläufig zu „bindungsverarmten Kindern“, die keine Versöhnung mit der Welt erfahren haben. Die daraus resultierende Disposition führe in der späteren Entwicklung zu Fehlentwicklungen und Schäden, die kaum mehr reparabel sind. Aktuell zeige sich dies in der sprunghaft gestiegenen Zahl „hyperaktiver“ Kinder, die – fälschlicherweise – alle unter die Rubrik AHDS subsumiert würden.

Der in Toronto unterrichtende Sprachwissenschaftler Stuart Shanker ergänzte die Ausführungen Bergmanns. In seinem Referat „Der erste Gedanke – Wie Denken entsteht“ demonstrierte er, welch fatale Folgen die von der Mutter unterbrochene Interaktion für ihr Kind und dessen spätere Fähigkeit der Selbstregulierung hat.

Ronald Grossarth-Maticek, Präventivmediziner aus Heidelberg, untermauerte dies mit den Ergebnissen einer Langzeitstudie über „Das Trauma der Trennung“ ebenso wie die Familientherapeutin Avraham-Krehwinkel, die die „Bindungsmängel“ von Kibbuz-Kindern in Israel dokumentierte. Der hier realisierte Versuch zur Schaffung eines „Neuen Menschen“ basierte auf der weitestgehenden Trennung der Kinder von ihren Eltern, von der Geburt bis zum Erwachsenwerden. Obgleich die Ergebnisse verheerend seien, habe der Mythos der Bewegung in der israelischen Gesellschaft bis heute überlebt.

Einen Angriff auf das deutsche Bildungssystem führte der amerikanische Soziologe F. Patrick Fagan, der über das „Homeschooling“ in den Vereinigten Staaten aufklärte, wo 1,5 Millionen Kinder zu Hause unterrichtet werden. Studien zufolge weisen diese durchschnittlich um zehn Prozent bessere Ergebnisse vor. Fagan forderte deshalb, auch in Deutschland den Familien die Freiheit zuzugestehen, ihre Kinder im Zweifelsfall privat zu unterrichten. Doch wie wenig der Staat der Familie als der ursprünglichsten aller Gemeinschaften Wert zuerkennt, zeigte sich bereits an dem Interesse der Politiker. Obgleich der Initiator des Kongresse, der Journalist  Jürgen Liminski, 350 Bundestagsabgeordnete angeschrieben hatte, war nicht ein einziger der Einladung gefolgt. Nicht einmal eine Rückmeldung hatte es gegeben.

Weitere Informationen im Internet unter www.i-daf.org

Foto: Kinder in einer Betreuungseinrichtung: Trauma der Trennung

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen