© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/09 26. Juni 2009

Im Geist von Rache und Vergeltung
90 Jahre Vertrag von Versailles: Für die junge Republik war er eine zu schwere Hypothek und avancierte zum innenpolitischen Pulverfaß
Ekkehard Schultz

Wenn Sie die Weltkarte umzugestalten haben, so geschieht dies im Namen der Völker und unter der Bedingung, treu ihre Gedanken zu übersetzen, das Selbstbestimmungsrecht der kleinen und großen Nationen zu achten und es mit dem ebenso geheiligten Recht der völkischen und religiösen Minderheiten in Einklang zu bringen.“ Mit diesen Worten eröffnete der französische Staatspräsident Raymond Poincaré am 18. Januar 1919 die Pariser Konferenz der alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges.

Tatsächlich waren die Verhandlungen jedoch von Anfang an durch den Geist von Rache und Vergeltung gegenüber Deutschland und seinen Verbündeten geprägt. So hatte Poincare in seiner Eröffnungsrede betont, daß eine der Hauptaufgaben der Beratungen darin bestehen werde, „das Übel gutzumachen“, welches das Deutsche Reich schon bei seiner Gründung am 18. Januar 1871 „durch den Raub zweier französischer Provinzen“ – gemeint waren Elsaß und Lothringen – angerichtet habe. Es gelte, Mittel und Wege zu finden, damit „die freien Völker … gegen das mögliche Wiederaufleben der primitiven Wildheit beschützt“ werden könnten.

Was darunter konkret verstanden wurde, blieb den Deutschen lange Zeit verborgen, da die Verhandlungen zum großen Teil hinter verschlossenen Türen stattfanden. Die Erarbeitung einer  Gegenstrategie war so unmöglich. Erst am 18. April – nachdem die Würfel längst gefallen waren – forderten die Alliierten die Reichsregierung auf, Delegierte nach Versailles zu entsenden, um dort die Friedensbedingungen in Empfang zu nehmen. Die neuen Machtverhältnisse wurden dieser Gruppe von Männern, an deren Spitze der ehemalige kaiserliche Diplomat und nunmehrige Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau stand, deutlich vor Augen geführt: Ihre Bewegungsfreiheit war vor Ort stark eingeschränkt, ein Betreten der Stadt war ihnen verwehrt.

Erst am 7. Mai wurden der deutschen Delegation die Bedingungen übergeben. Bei diesem Akt ließ der französische Ministerpräsident Georges B. Clemenceau am Charakter des von ihm als „Buch des Friedens“ titulierten Vertrags keinerlei Zweifel: Endlich sei „die Stunde der Abrechnung“ gekommen. Mündliche Verhandlungen zwischen Siegern und Besiegten werden nicht gestattet. Bemerkungen und Einsprüche müssen in schriftlicher Form innerhalb der kommenden Wochen eingereicht werden.

Zwar mußte bereits unter diesen Voraussetzungen ohnehin mit harten Friedensbedingungen gerechnet werden. Dennoch löste die Bekanntgabe der insgesamt 440 Artikel nicht nur auf deutscher Seite großes Entsetzen aus. Denn allzu offensichtlich kam in den meisten Paragraphen der demütigende Charakter zum Ausdruck. Anders als vorherige Friedensverträge oder Siegerdiktate – als vergleichbar werden immer die Verträge von Frankfurt 1871 und von Brest-Litowsk 1918 mit ihren ebenfalls harten Bedingungen gegenüber den Besiegten genannt – kriminalisierte und stigmatisierte der Versailler Vertrag den besiegten Feind. So wurden Deutschland und seine Verbündeten in dem Entwurf als alleinige Schuldige des Weltkrieges bezeichnet, die Kriegführung nachträglich als barbarisch gebrandmarkt. Neben massiven Gebietsverlusten sehen die Bestimmungen die Verringerung des Heeres auf einen Stand von 100.000 Mann, die Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs, Polens und der Tschechoslowakei, die Auslieferung von „Hauptkriegsverbrechern“ wie dem ehemaligen Kaiser Wilhelm II. an die Alliierten und enorme Reparationszahlungen vor. Deren Höhe wird nicht einmal konkret beziffert, was die Möglichkeit zu regelmäßigen Nachforderungen bietet. Selbst der Entzug der Kolonien wird demütigend mit einer „Unwürdigkeit“ begründet, die das Deutsche Reich als Kolonialherr bewiesen habe, wodurch der Ausschluß aus dem europäischen Mächtekonzert eine besonders herabsetzende Attitüde erfährt.

Die Reaktionen erfolgten rasch und einmütig: Bereits wenige Stunden nach den ersten offiziellen Verlautbarung fanden nicht nur im Reich zahlreiche Protestkundgebungen gegen die Inhalte des Vertragsentwurfes statt. Täglich demonstrierten nun Zehntausende gegen den „unerfüllbaren Gewaltfrieden“. Auch in den Siegerstaaten findet der Entwurf keineswegs nur Zuspruch: So lehnt ihn die britische Labour Party ab, weil die Bedingungen im elementaren Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker ständen. Am 17. Mai tritt William Christian Bullitt, einer der Berater des US-Präsidenten Woodrow Wilson, aus Protest aus der US-Friedensdelegation aus. Und US-Außenminister Robert Lansing notierte: „Prüft den Vertrag und ihr werdet finden, daß Völker gegen ihren Willen in die Macht anderer gegeben sind, die sie hassen, während ihre wirtschaftlichen Quellen ihnen entrissen und anderen übergeben sind. Haß und Verbitterung, wenn nicht Verzweiflung, müssen die Folgen derartiger Bestimmungen sein.“

Der Verweis auf die Konsequenzen, die aus der Umsetzung der Bestimmungen des Papiers folgen würden, spielt ebenso in der Argumentation der deutschen Delegation eine wesentliche Rolle. So wird etwa in einer Mantelnote mit Gegenvorschlägen, die Brockdorff-Rantzau am 29. Mai 1919 Clemenceau übersendet, zur Frage der Reparationen festgestellt: „Die zu zahlende Summe soll von den Gegnern einseitig festgesetzt werden und späterer Abänderung und Erhöhung unterliegen. Die Grenze soll die Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes bilden, abgestuft nicht nach seiner Lebenshaltung, sondern lediglich nach der Fähigkeit, die Forderungen der Feinde durch seine Arbeit zu erfüllen. Das deutsche Volk wäre also zu dauernder Sklavenarbeit verurteilt.“ Gleichwohl signalisiert die Delegation die Bereitschaft, die Forderungen der Siegermächte in wesentlichen Punkten zu erfüllen.

Doch die letzten Hoffnungen auf eine Einigung, bei der allen Seiten das Gesicht wahren können, verfliegen schnell. Am 16. Juni ist endgültig klar, daß die Alliierten bis auf wenige geringfügige Modifizierungen auf der bedingungslosen Annahme des Vertrages bestehen werden. Der deutschen Delegation wird mitgeteilt, in dieser Angelegenheit sei „das letzte Wort“ gesprochen. Die Deutschen sollten „darüber froh sein“, wenn sie noch „so gnädig“ davonkämen. Innerhalb von fünf Tagen müsse der Vertrag unterzeichnet werden. Andernfalls würden die Alliierten „diejenigen Schritte ergreifen, die sie zur Erzwingung ihrer Bedingungen für erforderlich halten“. Um diesen Forderungen zusätzlichen Nachdruck zu verleihen, wird auch vor der gezielten Mobilisierung der Straße nicht zurückgescheut: Auf der Rückfahrt nach Weimar wird die Wagenkolonne der deutschen Delegation mit Steinen beworfen, mehrere Delegationsmitglieder werden verletzt.

Die unmißverständliche militärische Drohung verfehlt ihre Wirkung nicht, zumal der Erste Generalquartiermeister Wilhelm Gröner der Weimarer Nationalversammlung mitteilte, daß eine Wiederaufnahme von Kämpfen „aussichtslos“ sei. Unter dieser Voraussetzung änderten nun auch bis dahin zögernde Zentrums-Abgeordnete ihre Meinung. Einen Tag nach dem Rücktritt der Regierung unter dem weiter ablehnenden Reichskanzler Philipp Scheidemann (SPD) und Brockdorff-Rantzau am 20. Juni  übernimmt ein neues Kabinett unter Gustav Bauer (SPD) „im Interesse der Verständigung“ die  Verhandlungsführung. Es ist bereit, den Vertrag zu unterzeichnen – lediglich ohne eine Anerkennung, „daß das deutsche Volk der Urheber des Krieges sei“, sowie die Verpflichtung, Wilhelm II. auszuliefern.

Doch selbst diese Modifizierungen werden von den Siegermächten nicht bewilligt. Vielmehr teilen sie der neuen Regierung mit, daß der „Friedensvertrag in seinem ganzen Umfang angenommen“ werden müsse. Nach erneuten Drohungen, ins Reichsinnere einzumarschieren, wird am 28. Juni vom neuen Außenminister Hermann Müller (SPD) und seinem Kollegen Johannes Bell (Zentrum) in Versailles schließlich der Entwurf unterzeichnet, der sich für die junge Demokratie als schwere Hypothek und als innenpolitisches Pulverfaß erweisen soll.

 

Stichwort: Forderungen des Versailler Vertrages

Deutsche Anerkennung der Alleinschuld am Krieg; Forderung nach Auslieferung der „Kriegsverbrecher“; unerfüllbare, über 70 Jahre zu zahlende Reparationen; Gebietsabtretungen (siehe Grafik) – Verlust von einem Siebtel des Territoriums inklusive einem Zehntel der Bevölkerung (ca. sieben Millionen Menschen); Abtretung der Kolonien; Reduzierung der Streitkräfte auf maximal 100.000 Mann (Heer) und 15.000 (Marine); Verbot schwerer Waffen; Anschlußverbot Österreichs an Deutschland.

Foto: Vertragsunterzeichnung im Spiegelsaal von Versailles am 28. Juni 1919 (William Orpen, 1921): Der deutsche Außenminister Hermann Müller vor der Phalanx der alliierten Sieger

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