© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/09 19. Juni 2009

Was man sagen darf und was besser nicht
Stefan Scheils neue Studie zu Einflüssen auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs
Magnus Lingnau

Wer ist Rainer F. Schmidt? Der Mann fürs Grobe unter den Rezensenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Soviel steht nach seinen Besprechungen der jüngsten Werke von Gerd Schultze-Rhonhof (Das tschechisch-deutsche Drama 1918–1939, FAZ vom 6. Mai) und Stefan Scheil (Churchill, Hitler und der Antisemitismus, FAZ vom 4. Juni) zunächst einmal fest.

Vor allem Scheils Arbeit provoziert Schmidt zu heftigsten Ausfällen. Mit seinen seit 1999 publizierten Erkundungen zur internationalen Politik der 1930/40er Jahre vertrete dieser Privatgelehrte „eine von der Forschung nicht akzeptierte, revisionistische Sicht zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs“, und daher sei auch von den „steilen Thesen“ zur „europäischen Krise 1938/39“, die abermals „in Widerspruch zur internationalen Forschung“ stünden, „wenig bis nichts“ zu halten.

Wie es um „die“ Forschung steht, auf die sich Schmidt beruft, so sollte ihn ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte darüber belehren, daß hier, bei der Ermittlung extrem flüchtiger „Wahrheit“, stets alles im Fluß ist. Die „Revisionisten“ Galilei, Darwin und Einstein starteten ihre Karrieren bekanntlich mit einem „Widerspruch zur internationalen Forschung“. Schmidts Ansinnen, nun ausgerechnet für die etablierte Zeithistorie mit ihren volkspädagogisch aufgepumpten Publikationen zur „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ (Walter Hofer) einen Unfehlbarkeitsanspruch zu erheben, hat die Grenze zur Komik daher allemal überschritten.

Überdies sollte er, ausweislich seiner Publikationsliste, für „Außenseiter“ mehr Verständnis zeigen. Schließlich traf seine windige Habilitationsschrift über den Schottland-Flug von Rudolf Heß im Mai 1941 („Botengang eines Toren?“, 1997), die ihm die Tür zu einer Würzburger Hausberufung aufstieß, auf mehr als nur „Widerspruch“. In der Historischen Zeitschrift (Band 268/1999) fertigte sie Ulrich Schlie als „Komposition von Mutmaßungen“ ab, die zudem erstmals David Irvings „Verschwörungsthese“ in die „seriöse wissenschaftliche Literatur“ implementiert habe. Einmal in Irvings anrüchiges Umfeld versetzt, fiel es Schmidt leicht, das Werk des notorischen Quellenfälschers Martin Allen (Churchills Friedensfalle, Druffel-Verlag, Stegen 2003) zu loben, wegen des vermeintlich „neu erschlossenen Aktenmaterials aus dem Londoner Public Record Office“ (FAZ vom 2. September 2004).

Nachdem er Allen auch noch im Druffel-Video „Geheimakte Heß“ gerühmt hatte, schien ihm zu dämmern, daß fortan kräftige „Wiedergutmachung“ von ihm erwartet werde. Die politisch hyperkorrekten FAZ-Verrisse zu Schultze-Rhonhof und Scheil boten dazu ebenso Gelegenheit wie seine „Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ (be.bra-Verlag, Berlin 2008), die wegen „deutschlandzentrierter Perspektive“ und Überanpassung an Deutungen à la Hannes Heer selbst einen konformistischen Zeithistoriker wie Rüdiger Overmans so nervte, daß er riet, „Alternativen“ zu Schmidts dilettantischer „Überblicksdarstellung“ zu prüfen (Das Historisch-Politische Buch, 5/08).   

Vor diesem Hintergrund ist dann erklärlich, warum der Rezensent Schmidt den Kern der Untersuchung Scheils so vielsagend beschweigt. Das ist nicht allein der Inkompetenz eines Historikers geschuldet, dessen Lehrauftrag auch die „Didaktik der Geschichte“ umfaßt. Als solcher weiß er inzwischen, was man sagen darf und was besser nicht. Und bei Scheils immerhin titelgebendem „Antisemitismus“ gilt: besser nicht.

Was verbirgt sich hinter diesem Begriff, worauf will Scheil damit hinaus? Auf nicht weniger als die präzise Ermittlung des Anteils jüdischer Organisationen an der anti-deutschen, anti-nationalsozialistischen Politik seit 1933. Damit betritt er das von jeher hierzulande am schärfsten tabuisierte Forschungsfeld. Lieber treibt die mittlerweile dritte Nachkriegsgeneration in hingebungsvoller Miniaturmalerei methodologisch anspruchslos-langweilige, bestenfalls kriminalhistorisch relevante „Täterforschung“ ad calendas graecas, als sich mit solcher Fragestellung von weltpolitischer Dimension in die Nesseln zu setzen. Am Ende bekäme man es ja mit „Tätern“ oder „Mittätern“ ganz anderen Kalibers zu tun – unausdenkbar! Futter für eine Verschwörungstheorie, wonach „die Amerikaner und die Weltjuden“ (Neville Chamberlain) den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hätten, findet man bei Scheil natürlich nicht.

Aber der Stellenwert jüdischer Organisationen in der internationalen Politik dürfe zwangsläufig nicht zu niedrig angesetzt werden. Denn die NS-Machtergreifung war eine „Kriegserklärung an die Existenz der deutschen Juden“, deren „Entrechtung“ mit eiserner Konsequenz „auf politischen Widerstand im Rahmen staatlicher Beziehungen“ stoßen mußte. Und an diesem Widerstand beteiligten sich in Paris, London und New York jüdische Lobbyisten. Es könne kein Zweifel sein, so dekretiert Scheil, daß ihr „Einsatz als eine legitime und politisch geradezu selbstverständliche Reaktion angesehen werden muß“.

Die erst rudimentär erforschte jüdische Einflußnahme auf die Außenpolitik der Roosevelt-Regierung muß er aus arbeitsökonomischen Rücksichten weitgehend außen vor lassen, obwohl sie im Kapitel „Polen und die USA“ anklingt. Im Mittelpunkt steht vielmehr das britische, vom jüdischen Establishment infiltrierte und instrumentalisierte „Focus-Netzwerk“, das seit 1937 den hoch verschuldeten, daher käuflichen Hinterbänkler Winston Churchill
zum Exponenten einer „Kriegspartei“ aufbaute, die Chamberlains Appeasement-Politik torpedierte und zur Eskalation der deutsch-britischen „Beziehungskrise“ nach dem Münchener Abkommen beitrug. Einen Weltkrieg nahm Churchill dabei in Kauf, und seine Ziele seien über den „bloßen Regimewechsel in Deutschland“ hinausgegangen.

Wer in diese akribischen, quellengesättigten, innovativen Untersuchungen, mit denen Scheil wieder
einmal ein überzeugendes Kontrastprogramm zu den altbackenen zünftigen Litaneien von deutscher „Alleinschuld“ offeriert, nur „steile Thesen“ hineinliest, muß schon Schmidt heißen. Zu halten ist davon „wenig bis nichts“.   

Stefan Scheil: Churchill, Hitler und der Antisemitismus. Die deutsche Diktatur, ihre politischen Gegner und die europäische Krise der Jahre 1938/39. Duncker & Humblot, Berlin 2009, broschiert, 335 Seiten, Abbildungen, 28 Euro

Foto: Winston Churchill (links) besucht Bernard Baruch auf dessen Landsitz, Georgstown 1961. Den „König der Wall Street“ förderte den politischen Hinterbänkler bereits seit Ende der zwanziger Jahre: Zum Exponenten einer „Kriegspartei“ aufgebaut

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