© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/09 19. Juni 2009

Szenen einer Vernunftehe
Bundestagswahl I: Der Wahlparteitag hat gezeigt, daß die SPD ihren Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier respektiert, aber nicht liebt
Hinrich Rohbohm

Es sollte, nein es mußte der große Befreiungsschlag werden. Seit dem desaströsen Abschneiden bei der Europawahl am 7. Juni steht die SPD unter Druck. Allen voran: Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten für die Bundestagswahl am 27. September. Eine fulminante Rede mußte er halten, mitreißend, aufrüttelnd. So wie es einst Gerhard Schröder tat, als er 2002 im Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln zur Aufholjagd blies, seinen Herausforderer Edmund Stoiber vor der Ziellinie abfing und die rot-grüne Koalition rettete. So wie er das Kunststück 2005 an gleicher Tagungsstätte fast wiederholte, als sich der Genosse der Bosse den Verfassungs- und Steuerrechtler Paul Kirchhof vorknüpfte. Auch diesmal erscheint Schröder. Wieder tagt Deutschlands reichste Partei im Estrel-Hotel, auf eine erneute positive Wirkung hoffend. Doch diesmal ist der Altkanzler nur Gast. Sein ehemaliger Kanzleramtschef steht jetzt vor den 525 Delegierten im Mittelpunkt des Interesses.

Stimme, Mimik, Gestik und Betonung des Hauptredners lassen jedoch Zweifel aufkommen. Steht da wirklich  Frank-Walter Steinmeier, der „FW“, zu den ihn PR-Strategen inzwischen umfrisiert haben? Schließt man die Augen und läßt nur die Stimme auf sich wirken, so könnte man meinen, es ist abermals Schröder, der die SPD auf den Wahlkampf einschwört. Auch wenn man sie wieder öffnet, mag mancher ins Grübeln geraten. Und auf die Idee kommen, Schröder verfüge angesichts der verblüffenden rhetorischen Ähnlichkeit über Bauchredner-Qualitäten. Das gleiche heisere Brüllen. Wie einst der Ex-Kanzler ballt Steinmeier die Faust, hämmert mit ihr auf das viel zu klein geratene Rednerpult ein. Ja, der vergangene Sonntag, das sei „Mist“ gewesen, sagt er. Aber: „Heute ist ein anderer Sonntag“, ruft er mit erhobener Stimme. „Das Ding ist noch nicht durch“, gibt er in Schröder-Manier zu verstehen. „Abwarten, abgucken und draufsetzen reicht nicht“, kritisiert er Angela Merkel und die CDU. Zustimmendes Klatschen der Delegierten.

Die Stimmung im Saal ist gut, aber nicht euphorisch. Der Kopf bestimmt den Rhythmus des Applauses, nicht die sozialdemokratische Seele. Der Kanzlerin wirft Steinmeier erwartungsgemäß Führungsschwäche vor. Die könne sich das Land nicht leisten. Deutschland brauche Führung, betont der 53jährige. Die Schuldigen für die Weltwirtschaftskrise sind für den gelernten Juristen schnell ausgemacht. Marktradikale Kräfte seien das gewesen, die er in den Reihen von CDU und FDP sieht. Überhaupt, die Union: „Das sind die, die nachher alles vorher gewußt haben.“ Und: „Die Ideologie, die in die Krise geführt hat, kann doch wohl nicht die Antwort auf die Krise sein.“ Starker Beifall, der jetzt vom Herzen kommt – endlich. Für einen kurzen Moment ist die Seele der Sozialdemokratie von den Worten ihres Kandidaten berührt: Applaus aus Überzeugung, nicht aus Kalkül.

Sigmar Gabriel und Hubertus Heil springen auf, wollen die Begeisterung nutzen, sie für die Medien in stehende Ovationen ummünzen. Brigitte Zypries und Ulla Schmidt folgen. Die restlichen 521 Stimmberechtigten bleiben sitzen. Eine Facette des Parteitags, in der sich viel über den Zustand der SPD verbirgt. Die Partei steht hinter Steinmeier – gewiß. Sie spendet Beifall. Zum Ende seiner Rede sogar zehn Minuten lang. Doch die Beziehung Steinmeiers zur Partei ist eine Vernunftehe. Man kämpft für ihn. Man lobt ihn. Streit wird vermieden, das Wahlprogramm einstimmig verabschiedet. Eine innige Liebesbeziehung ist es nicht.

Trotz kopierter Schröderscher Anwandlungen bleibt an Steinmeier das Stigma des trockenen Technokraten haften. Einer, der sein dunkelgraues Jackett lieber anbehält und Amtsstubenflair verbreitet, statt sich aus in Schweiß und Zigarrenduft gebadeten Brioni-Nadelstreifen zu pellen, um eine mit Kraftausdrücken gespickte Rede emotionaler zu gestalten. „Hol mir mal ‘ne Flasche Bier“: Steinmeier würde den berühmten Schröder-Satz so nicht sagen. Seine Rede ist nicht schlecht. Sie ist solide, um Emotionalität bemüht. Doch der Vizekanzler und Außenminister ist kein „Genosse der Bosse“. Trotz aller Schröder-Assoziationen schimmert der Kanzleramtschef durch, der nüchterne Bürokrat. Er strahlt in die Kameras, genießt das Bad in Menge und Medien. Keine Siegerposen. Seine Hand setzt so zaghaft zum Winken an, wie die FW-Plakate während seiner Rede in die Luft des Plenarsaals gehalten werden. Nur selten hebt er den Arm. Kurz. Mit der Dynamik eines Roboters am Opel-Fließband.

Die Delegierten klatschen trotzdem. Sie klatschen im Bewußtsein der bevorstehenden Wahl: im Wissen, daß sie 100 Tage vor dem Urnengang nicht gut beraten sind, einen Streit vom Zaun zu brechen. Und wenn auch derzeit Umfragen und Wahlergebnisse die Sozialdemokraten nicht erfreuen, so stimmt zumindest die Parteidisziplin. Jeder klatscht: Linke, Netzwerker, Seeheimer. Querschüsse bleiben aus – in der Hoffnung auf die große Aufholjagd.

Foto: Delegierte machen gute Stimmung für Frank-Walter Steinmeier (l.): Amtsstubenflair statt Schweiß und Zigarrenduft

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