© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/09 12. Juni 2009

Die Zukunft spricht Spanisch
Studien projizieren ein Zukunftsbild der USA: Führt die mexikanische Einwanderung zu einer neuen hispanischen Republik
Thomas Bargatzky

Noch Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die Ansicht weit verbreitet, im melting pot der amerikanischen Gesellschaft spiele sich die Assimilation von Einwanderern verschiedenster ethnischer Herkunft durch das führende angelsächsische Ethnos und ihre Integration zu einer amerikanischen Nation gleichsam vor unseren Augen ab.

Mittlerweile haben sich die Dinge auf eine Weise gewandelt, die damals kaum jemand voraussagen konnte: Dem US Census Bureau zufolge wuchs nämlich die spanischsprachige Bevölkerung zwischen 1990 und 2000 von 22.4 Millionen auf 35.3 Millionen an. Die Zahl der spanischsprachigen Bevölkerung der USA wird – Stichtag: 1. Juli 2006 – auf 44.3 Millionen geschätzt. Menschen hispanischer Herkunft machen damit als größte ethnische Minderheit in den Vereinigten Staaten etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Rechnet man die Dunkelziffer illegaler Einwanderer hinzu, so könnten in den USA derzeit 55 Millionen Spanischsprachige leben, davon sind die meisten mexikanischer Herkunft.

In seinem Buch „The Clash of Civilizations“ projizierte der jüngst verstorbene amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington die Bevölkerungstrends in die Zukunft. Auf Berechnungen der US-Zensusbehörde gestützt, sagte er schon 1996 einen dramatischen Bevölkerungswandel in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts voraus. Die nicht-hispanische weiße Bevölkerung würde um 2050 nur noch knapp 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, und der Anteil der hispanischen Bevölkerung in Amerika könnte bei 25 Prozent liegen. Dabei fällt auf, daß sich die spanischsprachige Bevölkerung im Südwesten konzentriert. Zur Zeit des Zensus im Jahre 2000 war ihr Anteil in den Staaten Kalifornien, Arizona, New Mexico, Texas, Colorado und Florida besonders hoch; in New Mexico wurden gar 823.352 Spanischsprachige gezählt – das waren 43,27 Prozent der Bevölkerung.  Diese Staaten machen den Hauptteil jener Territorien aus, die vor der texanischen Unabhängigkeitserklärung (1836) und dem Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo (1848), in dem Mexico etwa die Hälfte seines Staatsgebiets an die USA abtreten mußte, zu Mexiko gehörten.

In der Vergangenheit wurde die Assimilation der Einwanderer an die anglo-protestantische Mainstream-Kultur durch die Gesetze zur Begrenzung der Einwanderung sowie das Abebben der Einwanderung nach Bürgerkrieg und Erstem Weltkrieg erleichtert. Bis zur letzten großen Einwanderungswelle nach 1960 waren die USA daher ein Land mit über 200 Millionen Einwohnern, die in ihrer übergroßen Mehrzahl eine gemeinsame Sprache miteinander teilten.

Seither hat sich dieses Bild geändert, und die Vorstellung einer möglichen „demographischen Reconquista“ jener Gebiete, die Mexiko im Krieg von 1846/48 an die USA verlor, gewinnt Konturen. Heute sind nämlich die Einwanderer mexikanischer Herkunft zahlreich genug, um in den ehemals mexikanischen Regionen des Südwestens eine „kritische Masse“ zu bilden.

Die Chancen, die eigene Sprache und Kultur auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen, stehen somit nicht schlecht, und durch die geographische Nähe Mexikos werden sie sogar noch gestärkt. Der illegalen Einwanderung scheint man ferner mit technischen, polizeilichen und administrativen Maßnahmen kaum Herr zu werden, außerdem liegt sie wegen der niedrigen Löhne im Interesse der amerikanischen Wirtschaft.

Durch die massive hispanische Einwanderung seit 1965 könnten die USA ihre sprachliche und kulturelle Einheit verlieren und sich in steigendem Maße zu einem gespaltenen Land entwickeln. Zwar dürfte die Idee einer Wiedervereinigung des Südwestens mit Mexiko auf beiden Seiten des Rio Grande nur wenige Anhänger finden.

Die „demographische Reconquista“ ist dagegen der Nährboden für eine irredentistische Propaganda, die auf die Bildung eines autonomen, homogenen und wirtschaftlich autarken hispanisch dominierten Gebiets auf dem Territorium der USA abzielt. Charles Truxillo, ehemals Dozent für Chicano-Studien an der University of New Mexico (Albuquerque), sagt für die Jahre zwischen 2050–2080 gar die Ausrufung einer „República del Norte“ voraus, die Gründung einer neuen, unabhängigen und hispanisch geprägten Republik, zu der sich die nordmexikanischen Teilstaaten Baja California, Sonora, Chihuahua, Coahuila, Nuevo León und Tamaulipas sowie die ehemals mexikanischen Gebiete der USA zusammenschließen, denn Nordmexiko gilt als „dynamischer“ und fortschrittsorientierter als das in höherem Maße indianisch geprägte Südmexiko. Auch durch den Staat Mexiko verläuft also eine kulturelle Sollbruchstelle und sollten die demographischen Verschiebungen in diesem Jahrhundert tatsächlich zu territorialen und politischen Neuordnungen führen, dann bliebe Mexiko davon nicht unberührt.

Kritiker halten Truxillo entgegen, daß die Mehrzahl der US-Amerikaner mexikanischer Herkunft zwar die eigene Sprache und Kultur bewahren, sich aber auch an die USA anpassen wolle. Sezession oder gar die Idee einer „República del Norte“ sei die Kopfgeburt hispano-amerikanischer „junger Wilder“ an US-Universitäten.

Seit den 1980er Jahren sind „Mexican Americans“ in den USA jedenfalls wirtschaftlich erfolgreich, ein Anschluß an Mexiko kommt für sie mit Sicherheit schon aus diesem Grund nicht in Frage. Das wahre Problem, meint daher auch die konservative Politikerin und Kolumnistin Linda Chavez, sei nicht die wirtschaftliche Tüchtigkeit, sondern die mangelhafte Bereitschaft der hispanischen Einwanderer, im sozialen, politischen und kulturellen Sinne Teil der USA zu werden.

Huntington, der kein Rassist war, wie ihm diejenigen unterstellen, die ihn zwar kritisieren, aber offenbar nicht lesen, sah in diesem Prozeß freilich eine Gefahr für die nationale Identität der USA. Er plädierte daher für einen voluntaristischen Begriff der Nation, der die amerikanische Identität unabhängig von Rassenzugehörigkeit und ethnischer Herkunft im Sinne der bislang einheitsstiftenden anglo-protestantischen Gründerkultur stabilisiert („Who Are We?“, 2004).

Angesichts der „demographischen Reconquista“ könnte es dafür zu spät sein. Die Entwicklungen auf dem nordamerikanischen Kontinent und der auch von der Studie „Global Trends 2025“ des National Intelligence Council (JF 52/08) vorausgesagte Bedeutungsschwund der USA im internationalen Machtgefüge stellen in jedem Falle eine Herausforderung für Deutschland und Europa dar.

Ein zunehmend mit sich selbst beschäftigtes und immer stärker katholisch-lateinamerikanisch geprägtes Land, in dem der aus puritanischem Geist gespeiste interventionistische Missionseifer nicht mehr „Leitkultur“ ist, dürfte als Garant militärischen Schutzes langfristig ausfallen. Die „Transformation“ der Streitkräfte in Europa nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, die im Grunde zu einem dramatischen Verlust der Fähigkeit zur territorialen Selbstverteidigung geführt hat, könnte sich dann als fatale Fehlentwicklung erweisen. Noch ist es aber für ein Umsteuern nicht zu spät, denn die „demographische Reconqista“ der USA bietet Europas Vaterländern die Chance, sich in Zukunft verstärkt auf die eigenen Interessen zu besinnen.

 

Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth.

Foto: Mexikanische Immigranten beim Protestmarsch, Los Angeles 2006: Demographische Reconquista

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