© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/09 05. Juni 2009

Gründungsmythos in Gefahr
Falsche Fragen, falsche Ziele, falsche Verbündete: Die deutsche Linke und das Desaster von ’68
Karlheinz Weissmann

Wenn ein Thema die deutschen – und nur die deutschen – Medien für mehr als eine Woche beschäftigt, will das etwas heißen. Im Fall der Entdeckung der Agententätigkeit des (West-)Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras für die DDR-Staatssicherheit erklärt sich das anhaltende Interesse weniger aus dem Tatbestand als aus der Schlüsselbedeutung, den der Tod Benno Ohnesorgs für die Generation von ’68 hat. Deren Angst, daß man nun die eigene Geschichte „umschreiben“ müsse, daß der „Gründungsmythos“ (Stefan Aust) in Gefahr sei, durchzieht die ganze Diskussion über den Stasi-Mann Kurras und die Frage, welche Motive er bei den Schüssen vom 2. Juni 1967 gehabt haben könnte. Im Streit darum zeichnen sich drei Meinungslager ab:

1. Diejenigen, die behaupten, daß die Enthüllung an den Tatbeständen kaum etwas ändert, weil die Entstehung der Achtundsechziger-Revolte nicht auf den Tod Ohnesorgs zurückzuführen sei.

2. Diejenigen, die der Aufdeckung des Stasi-Hintergrunds jedes Gewicht bestreiten, weil es unerheblich sein soll, ob Ohnesorg nun ein Opfer des autoritären Charakters West oder des autoritären Charakters Ost war.

3. Diejenigen, die glauben, daß man Kurras’ Entlarvung zum Anlaß für eine Selbstbesinnung nehmen sollte und die Linke sich fragen müsse, ob sie nicht über zu lange Zeit die falschen Fragen gestellt, die falschen Ziele gesetzt, das falsche Selbstverständnis und die falschen Verbündeten gepflegt habe.

Was die erste Position betrifft, kann man ihre Berechtigung schwer bestreiten. Ohne Zweifel waren Außerparlamentarische Opposition und Studentenrevolte politische Erscheinungen, die geistige und andere Wegbereiter hatten und so oder ähnlich in allen westlichen Ländern auftraten.

Das ist aber nur ein Aspekt, und wer ihn betont, muß sich die Frage gefallen lassen, ob er von einem entscheidenden und erst allmählich ganz klar werdenden Sachverhalt ablenken will: der massiven Einflußnahme der Staatssicherheit nicht nur auf die Moskautreuen und die RAF, sondern auf die Entwicklung der Achtundsechzigerbewegung überhaupt. Wenn also Arno Klönne in die Debatte eingreift und die Irrelevanz des aufgedeckten Zusammenhangs behauptet, kann man nicht übersehen, daß er zum Schülerkreis Wolfgang Abend­roths und dessen Organisation „Sozialistisches Büro“ gehörte und daß Abendroth nicht nur einer der maßgeblichen Köpfe der Apo war, sondern auch engen Kontakt zu DDR-Stellen hielt.

Wolfgang Kraushaar hat auf solche Verbindungen schon vor zehn Jahren hingewiesen, genauso wie auf andere Steuerungsversuche der DDR. Dabei spielte nicht nur die illegale KPD für die Formierungsphase der Neuen Linken eine Rolle und in dem Zusammenhang die Finanzierung der neu-linken Pressearbeit, sondern auch die Positionierung von Einflußagenten in der kommunistischen Fraktion des SDS und die Bereitschaft der Anti-Autoritären, logistische Unterstützung der DDR für die Springer-Kampagnen anzunehmen. Auch wenn man ausschließt, daß Kurras einen Auftragsmord begangen hat, erscheint sein Handeln als Teil einer großen Inszenierung, bei der das Ministerium für Staatssicherheit Regie führte und die Achtundsechziger Marionetten eines perfiden Spiels waren.

Davon möchten die Gralshüter der Bewegung selbstverständlich nichts wissen und mutmaßen „rechte Propaganda“ (Christian Semler). Sie pflegen das Bild der Äquidistanz, die man zum (Post-) Faschismus wie zum real existierenden Sozialismus gehalten habe. Zugegeben, daß die Apo das DDR-System nicht kopieren wollte, aber es gab die Solidarität der „Gesamtlinken“ (Jan Philipp Reemtsma), die das Ost-Berliner Regime in einem vergleichsweise milden Licht erscheinen ließ.

Jedenfalls waren es nicht Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl, Menschenrechtsverletzungen, Bautzen oder die deutsche Teilung, die den Widerwillen nährten, sondern das Spießige des Systems, der Mangel an Pop, Farbe und Konsum, der störte, nicht die Ideologie, die man in ihren Grundlagen (bei Marx selbst, mindestens dem jungen), in der heroischen Phase ihrer Verwirklichung (Lenin: ja; Stalin: nein) oder bei Umsetzung in exotischen Weltgegenden (Albanien, China oder Kuba zum Beispiel) ganz akzeptabel fand.

Die Unfähigkeit zur sachgerechten Beurteilung des Kommunismus war in der Neuen Linken durchgängig, was mit ihrem Charakter als „Spätfolge und Spätausläufer des Totalitarismus“ (Götz Aly) zusammenhing und was auch die Nachwirkungen erklärt, vom Wohlwollen für die „Nischengesellschaft“, das die Entspannungspolitik flankierte, über die absurden Debatten des „Historikerstreits“ bis zur notorischen Verharmlosung des Sowjetsystems in deutschen Schulbüchern. Wer das Gegenteil behauptet, setzt auf das kurze Gedächtnis seiner Zeitgenossen, und wer immer noch mit der Austauschbarkeit oder Gleichwertigkeit der Ordnungen diesseits wie jenseits des Eisernen Vorhangs argumentiert, zeigt vor allem eins: daß er unbelehrbar geblieben ist.

Thomas Schmid, den man nicht nur zu den „Ehemaligen“, sondern auch zu den Schlüsselfiguren der „Neuen Sozialen Bewegungen“ rechnen darf, hat auf den Kern dieser Intransigenz hingewiesen, nämlich die heimliche Korrektur des linken Selbstverständnisses: weg von der Systemkritik, hin zur Systemstabilisierung.

Als man in diesem Milieu begann, die Erinnerung an die eigene Kampfzeit peinlich zu finden, schönte man sie zuerst und fälschte sie dann um in einen Akt der „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas), der die deutsche Demokratie überhaupt erst zu sich selbst brachte, vom Muff der „Restauration“ und der ständigen faschistischen Versuchung befreite; indes: „Wäre es nicht so und hätten Adenauer, Erhard und die Gründungsgeneration der Republik samt ihrer teils konservativen, teils liberalen Intellektuellen auch zur Demokratiewerdung beigetragen, dann wäre das Gründungscopyright der Revolutionäre von damals dahin. Und dann müßte man sich ernsthaft die eine große Frage stellen: Brauchte es wirklich den größenwahnsinnigen, früh in Teilen zur Militanz neigenden Überschwang der 68er, um das Haus der Demokratie bewohnbar zu machen? Nein, den hätte es wohl nicht gebraucht, es wäre auch ohne den ganzen Budenzauber gegangen.“

Das ist salopp formuliert und verdeckt, daß die Einschätzung immer noch zu wohlwollend bleibt. „Es gibt kein wahres Leben im falschen.“ (Theodor W. Adorno) ’68 war vielleicht unvermeidlich und trotzdem ein Desaster, ein Akt beispielloser Substanzvernichtung und Schwächung all dessen, was noch vor der Dekadenz bewahrte: Stärke der Institutionen und Strenge der Justiz, Verteidigung der Hochkultur und Sorgfalt der Erziehung, Leistungsgedanke und Mißtrauen gegenüber der Utopie.

Foto: Rudi Dutschke am Mikrofon auf einer Protestveranstaltung am 3. Juni 1967 anläßlich der Erschießung von Benno Ohnesorg
 

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