© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/09 05. Juni 2009

Rette sich, wer kann
Europawahl I: Die Parteien der Großen Koalition kämpfen seit Wochen verbissen um eine möglichst gute Ausgangsposition
Paul Rosen

In Deutschland ist das „Rettungsfieber“ ausgebrochen. Unternehmer, die etwas blaß aussehen oder eine Rechnung versehentlich 14 Tage lang nicht bezahlt haben, können sich vor den Nachstellungen der Politik mit Bürgschaftsangeboten in Milliarden-Höhe nicht mehr retten. Kanzlerin Angela Merkel will jeden retten und SPD-Chef Müntefering auch. „Jeden Tag brennt es an einer anderen Ecke“, faßt Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), ehemals knauseriger Haushälter und jetzt großzügiger Mitretter, die Lage zusammen. Gerettet wird, was das Zeug hält und ohne jeden Plan: „Es gibt kein Drehbuch“, verriet Steinbrück der Süddeutschen Zeitung. Jedenfalls ist Opel fürs erste gerettet, und die Rettung von Arcandor (Karstadt, Thomas Cook) wird auch noch klappen, womit sich dann auch die Politik wieder vor möglichem Zorn des Wählers gerettet hätte.

Man merkt, es ist Wahlkampf, und eine im Kalkül der Berliner Politiker nicht ganz so wichtige Wahl hat das Fieber stark steigen lassen: Am Sonntag dürfen die Bundesbürger entscheiden, welche Partei wie viele von den insgesamt 99 deutschen Abgeordneten ins Europaparlament schicken darf. Vergleichbar mit Bundestagswahlen ist die Europawahl nur in höchst begrenztem Umfang. Die Bürger wollen wissen, daß es bei der Wahl um nichts geht. Europaabgeordnete stehen im Ruf, Frühstückdirektoren zu sein und auf die von Ministerräten gestaltete Gesetzgebung nur sehr begrenzten Einfluß zu haben. Dies führte in der Vergangenheit schon zu – aus Sicht dieser Wähler – folgenlosem Protestverhalten. Sogar die Republikaner kamen einmal in das Straßburger Parlament.

2004 hatte sich der deutsche Steuerzahler so sehr über die rot-grüne Koalition in Berlin geärgert, daß er die SPD bei der Europawahl mit 21,5 Prozent in den Keller schickte. Die Union kam (von der Mehrwertsteuererhöhung ein Jahr später wußte man noch nichts) mit 44,5 Prozent sehr gut weg (acht Prozentpunkte holte davon die CSU). Auch die Grünen schnitten gut ab (11,9); PDS (6,1) und FDP (6,1) sind auch im Straßburger Parlament vertreten.

Für Müntefering steht schon so gut wie fest, wer gewinnt: „Erfolg ist, wenn der rote Balken hochgeht und der schwarze Balken runter. Ich empfehle, rechtzeitig die Vasen vor dem Fernseher in Sicherheit zu bringen, weil am Wahlabend die schwarzen Balken unten rauskommen werden“, so der SPD-Chef zum Berliner Tagesspiegel.

Die Rechnung könnte leicht aufgehen. Denn die mageren 21,5 Prozent für die SPD waren ein absoluter Tiefpunkt, von dem sich die Sozialdemokraten wieder entfernt haben. Und Müntefering wäre nicht Müntefering, wenn er selbst für eine Volkspartei schreckliche 25 Prozent am Wahlabend nicht als großen Erfolg für die SPD deuten würde – und als Beleg für die Trendwende, die der SPD bei der Bundestagswahl weit über 30 Prozent bringen werde.

Die Position für Angela Merkel ist weniger komfortabel. Die Kanzlerin muß fest von einem Verlust ausgehen, möglicherweise im zweistelligen Prozentbereich. Der Wunsch-Koalitionspartner FDP wird diese Verluste selbst bei einer Verdopplung seines Ergebnisses nicht ausgleichen können.

Sorgen bereitet weiter die CSU, die nach Stoibers Untergang nicht zur alten Stärke zurückfindet. 2004 hatte die nur in Bayern antretende Partei deutschlandweit acht Prozent geholt (auf Bayern allein bezogen waren es 57,4 Prozent). Da es keine Direktwahlkreise gibt, sondern nur Landes- oder Bundeslisten, muß die CSU die Fünf-Prozent-Hürde alleine schaffen. Umfragen sehen sie bei sechs Prozent. Da aber der Wähler den Demoskopen nicht mehr traut und sie gerne hinters Licht führt, kann ein Fiasko für die CSU nicht ausgeschlossen werden.

Diese Konstellationen prägen die Regierungsarbeit in Berlin. Konkret heißt das: Was immer in der Krise passiert, es wird eine milliardenschwere Lösung gefunden. Ob Rentengarantie oder Verlängerung des Kurzarbeitergeldes: Die Koalition verpaßt jedem Topf einen Deckel, damit die Probleme nicht überkochen. Wer sich wie beim sündhaft teuren Opel-Rettungsprogramm querstellt wie der CSU-Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, wird als der „Baron aus Bayern“ (Altkanzler Gerhard Schröder) abgekanzelt. Die Neuverschuldung des Bundes 2009 liegt schon bei 47 Milliarden Euro. Hinzu kommen noch Schattenhaushalte. Die Rechnung für die Schuldenpolitik kommt später.

Ein Wert geriet nach der letzten Wahl in Vergessenheit: 9,8 Prozent hatten für die „Sonstigen“ gestimmt. Da die Unzufriedenheit seit 2005 gewachsen ist, liegt hier die Chance für was Neues –und seien es die erstmals antretenden Freien Wähler.

Foto: Ministerpräsident Roland Koch (CDU), Guttenberg (CSU), Steinbrück (SPD): Das Fieber steigt

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