© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/09 05. Juni 2009

„Einer unter Tausenden“
„Fall Kurras“: Während der Bundestag eine generelle Überprüfung aller Abgeordneten auf eine Stasi-Tätigkeit ablehnt, weitet sich die Diskussion aus
Ekkehard Schultz

Die Akte Kurras des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sorgt weiter für Aufregung: Die Tatsache, daß der Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoß, im Dienste der SED-Diktatur stand, wirft nicht nur zahlreiche Fragen zu einem wesentlichen Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte auf. Zudem bietet der Vorgang auch regen Gesprächsstoff für aktuelle politische Debatten.

Vieles erinnert dabei an 1990: Damals wurden die engen Beziehungen  zwischen ehemaligen Terroristen der RAF und dem Ministerium für Staatssicherheit erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Diese Erkenntnisse bildeten die Grundlage für eine Reihe von historischen Untersuchungen, in denen der Einfluß der DDR auf Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik erforscht wurde. Nun erscheint erneut eine intensive Auseinandersetzung mit diesen Verstrickungen geboten.  

So rechnet etwa der Historiker Arnulf Baring damit, daß die Geheime Mitarbeit von Kurras beim MfS und dessen SED-Mitgliedschaft keineswegs eine Ausnahme darstellt. Vermutlich seien noch Tausende Spione aus Westdeutschland unentdeckt, sagte Baring dem Hamburger Abendblatt. Kurras sei mit Sicherheit nur „ein Fall unter Tausenden“ gewesen. Der Forderung nach einer umfangreichen Überprüfung von Polizisten im ehemaligen Westteil der Stadt auf eine Mitarbeit für das MfS wurde allerdings von Berlins Polizeipräsidenten Dieter Glietsch bereits abgelehnt. Mögliche Stasi-Verstrickungen einzelner Beamter seien für die derzeitige Arbeit der Polizei „ohne Bedeutung“.

Auch die politische Linke hat inzwischen zu den neuen Erkenntnissen Stellung bezogen. So sagte Gregor Gysi in der vergangenen Woche in der Fernsehsendung „Was erlauben Strunz“, es gebe keinerlei Anzeichen dafür, daß die DDR eine Schuld an den Schüssen von Kurras trage. Eine solche Ansicht sei bereits deshalb „abwegig“, da das MfS auf diese Weise einen Agenten verloren hätte, so Gysi. Ähnlicher Ansicht ist auch der Mitgründer der Grünen, Wolfgang Wieland, der im ersten großen Terroristenprozeß gegen die „Bewegung 2. Juni“ den Angeklagten Fritz Teufel verteidigte.

Nach Wielands Ansicht hat die Tötung von Ohnesorg durch Kurras zwar die Radikalisierung der Studentenproteste der sechziger und siebziger Jahre in der Bundesrepublik beschleunigt. Die eigentliche Ursache für die spätere Entwicklung seien jedoch die „prügelnden Jubelperser“ beim Schah-Besuch sowie der Vietnamkrieg gewesen, so Wieland. Zudem bestehe kein enger Zusammenhang zwischen RAF und der „Bewegung 2. Juni“, da sich die letztere in erster Linie als „antiautoritäre Spaßguerilla“ verstanden habe. Wieland forderte eine Nachprüfung, ob Kurras als Doppelagent für den westdeutschen Verfassungsschutz gearbeitet hätte. Denn „eine besondere Liebe zum Sozialismus“ habe Kurras nie geäußert.

Dagegen sehen mehrere Verbände der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft Anzeichen, die auf einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Tötung Ohnesorgs und Kurras’ Tätigkeit für das MfS hindeuten. So hat der stellvertretende Vorsitzende der Opfer des Stalinismus (VOS), Carl-Wolfgang Holzapfel, gegen Kurras eine Strafanzeige wegen Verdacht des Mordes gestellt. Zudem fordern die VOS und die Union der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft eine sofortige Aberkennung von dessen „aus dem Polizeidienst entstandenen Pensionsansprüchen“ sowie „eine nachträgliche Degradierung“, da Kurras „unwürdig“ gewesen sei, „im Polizeidienst eines Rechtsstaats gestanden zu haben“.

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefels­pütz, sowie der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Bosbach wiesen darauf hin, daß eine Streichung der Pensionsansprüche des heute 81jährigen, aus rechtlichen Gründen nicht möglich wäre, zumal Kurras Tätigkeit für das MfS verjährt sei.

Gleichzeitig lehnte der Bundestag jedoch am vergangenen Freitag den Antrag der FDP ab, alle Bundestagsabgeordneten und Mitarbeiter von Bundesbehörden auf eine Stasi-Tätigkeit überprüfen zu lassen (siehe auch Seite 2). Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) warnte vor einer „Unkultur der Verdächtigung“.

Unterdessen hat der Fall Kurras die Debatte über die Hintergründe von politischen Morden der sechziger und siebziger Jahre wieder angefacht. So hat der Sohn des Studenten-Wortführers Rudi Dutschke, Marek Dutschke, verlangt, daß die genauen Umstände des Attentats auf seinen Vater neu untersucht werden. Dies gelte auch mit Blick auf mögliche Geheimdienstverwicklungen oder Stasi-Verstrickungen.

Ebenso hat der Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback erneute Nachforschungen über mögliche Stasi-Verwicklungen in den Tod seines Vaters verlangt. „Ich habe schon als Junge gedacht, meinen Vater holt mal die Stasi“, sagte Michael Buback der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Er verwies darauf, daß sein Vater umfangreich zu Spionage-Aktionen im Westen ermittelt habe: „Wenn man ihm ans Leder wollte, dann deshalb“, sagte Michael Buback. Siegfried Buback, der 1977 von der RAF erschossen wurde, hatte auch in der Guillaume-Affäre ermittelt, die 1974 zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt führte.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen