© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/09 29. Mai 2009

„... und so mußte ich original werden“
Von kunstvoller Popularität: Joseph Haydns Weltruhm sprach sich erst spät zu ihm herum
Jens Knorr

Aus diesem Komponistenleben lassen sich kaum Legenden stricken. Man kann ihn nicht zum kindlichen Genie verklären wie Mozart, dem göttliche Inspiration die Feder lenkte. Im Gegensatz zu Mozart hat Haydn lange leben und sein Werk kontinuierlich wachsen lassen können. Einigen Kompositionen sind die Spuren alltäglicher Arbeitsfron eingeschrieben, nicht alle sind genial, manche kaum inspiriert. Man kann ihn nicht zum Musiktitanen verklären, der unter heroischer Anstrengung ein Werk entband, das die Welt in die Schranken weist, die es überwand. Im Gegensatz zu Beethoven hat Haydn sich als Dienstleister, als Angestellter verstanden, der Auftragswerke für Auftraggeber schrieb. Seine Experimentierlust scheint sich immer im Rahmen des allgemein Akzeptierten zu bewegen und kaum verstörend zu wirken.

War Mozart kein Raffael, Beethoven kein Michelangelo, so war Haydn kein Da Vinci; die beliebte Triade der abendländischen Kunstgeschichte läßt sich hier sowenig wie anderswo personifizieren. Fast scheint es, als bräuchte es den guten alten Haydn für die erste Wiener Klassik lediglich aus dem Grunde, damit sie überhaupt erfüllt würde. Überdies kommt dem Hörer – in seltsamer Inversion der Zeit – vieles bei Haydn bereits von Mozart und Beethoven bekannt vor. Doch war das Wort vom „Papa“ Haydn, immer wieder nur als Diminutiv mißverstanden, von den Zeitgenossen als Respektsbekundung gemeint: Haydn als der Vater – Vater, nicht Papa, schreibt Anton Schindler in seiner Beethoven-Biographie! –, von dem alle anderen Entscheidendes mitbekamen, sein Schüler Beethoven zumal. Eine Radierung, die Diabelli geschickt hatte, soll der todkranke Beethoven dem Pianisten und Komponisten Hummel mit den Worten vorgehalten haben: „Sieh, lieber Hummel, das Geburtshaus von Haydn; heute habe ich es zum Geschenk erhalten, es macht mir große Freude; eine schlechte Bauernhütte, in der ein so großer Mann geboren wurde!“

Auftragswerke für Auftraggeber

Spät erst spricht sich die Nachricht vom Welt-, also europäischen, Ruhm bis zu ihrem Verursacher herum. Daß er es einst zum Ehrendoktor der Universität Oxford bringen würde, ist dem zweiten von zwölf Kindern eines Wagners und einer Köchin nicht an der Wiege gesungen worden. Die steht 1732 in dem niederösterreichischen Dorf Rohrau, nahe der ungarischen Grenze. Das musikalische Talent des kleinen Sepperl wird früh entdeckt und gefördert. Ein Vetter in Hainburg, wo er die Volksschule besucht, erteilt ihm Unterricht in Gesang und Instrumentenspiel. Professionellen Gesangs-, Klavier- und Violinstunden und erste Unterweisung in den Techniken der musikalischen Schriftkultur erhält er als Schüler im Kapellhaus von St. Stephan, Wien, jedoch keine Unterweisung in Komposition. Sein kompositorisches Wissen und Können muß er sich im wesentlichen autodidaktisch aneignen. Den Komponisten Haydn wird neben der Volksmusik seiner Heimat und Kindheit die katholische Musikkultur Wiens prägen.

Nach Stimmbruch entlassen, hält sich der junge Haydn zehn Galeerenjahre mit Musikunterricht, gelegentlichen Aufträgen und als Kapellmeistergehilfe über Wasser, erhält 1758 eine erste Kapellmeisterstelle beim Grafen Morzin in Lukawetz bei Pilsen und, als dieser knapp bei Kasse ist und seine Kapelle entlassen muß, 1761 die Stelle als Vizekapellmeister, 1766 dann als Kapellmeister der Familie Esterházy.

Mehr als vierzig Jahre, bis zu seinem Tode, dient er der Familie, zuerst in Eisenstadt, ab 1768 im neuen Schloß Eszterháza in Fertöd und nach seinen London-Reisen ab 1795 in Wien und Eisenstadt. Er hat das Orchester, die Kammermusik und die Oper zu leiten, für Anlässe verschiedener Art Kompositionen zu schreiben, einzustudieren und aufzuführen. Er schreibt Trios, Quartette, Lieder, Konzerte, Sinfonien, Opern, darunter einige für das Esterházysche Marionettentheater – Werk auf Werk in solcher Fülle, daß sich der alte Mann gegenüber seinen Biographen an einige „beiläufig“ gar nicht mehr erinnern kann.

Mit jedem Werk mehrt sich der Ruhm des Komponisten, und mit ihm der seines Dienstherrn, der zweifellos von anderem intellektuellen Kaliber gewesen sein dürfte als etwa Mozarts Dienstherr in Salzburg, der Erzbischof Colloredo. Zwischen den Fürsten Paul II. Anton und nach dessen Tode Nikolaus I. und ihrem Hausoffizier Haydn scheint ein harmonisches Verhältnis geherrscht zu haben, die bekannte Anekdote um die Entstehung der „Abschiedssymphonie“ widerspricht dem nicht. Nach dem Tode Nikolaus’ I. entläßt dessen Nachfolger Hofkapelle samt Hofkapellmeister in die Freiheit des Marktes, nicht ohne Haydn eine bescheidene Pension ausgesetzt zu haben.

Griesinger hat die Bemerkung Haydns überliefert: „... ich war von der Welt abgesondert, niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irremachen und quälen, und so mußte ich original werden.“ In der Abgeschiedenheit von Eisenstadt und auf Eszterháza, nur von winterlichen Aufenthalten in Wien unterbrochen, arbeitet Haydn an nicht weniger als an einer Revolutionierung der musikalischen Formen, meist mit äußerem Auftrag, der jedoch dem inneren wohl entsprochen hat. Mit den Symphonien der sechziger und siebziger Jahre beginnt sich Haydn von den barocken Schemen radikal zu lösen, führt die Antithetik zweier Themen in den Mittelteil der Sonate ein und schafft die klassische Sonatenhauptsatzform; später, in den zwölf Londoner Symphonien, dehnt er die Durchführungsarbeit auf alle Teile des Symphoniesatzes aus, probiert in den Finalsätzen die Synthese von Rondo- und Sonatenform, experimentiert mit den Mittelstimmen und mit dem kontrastierenden Einsatz von Instrumenten und bindet außermusikalische Ideen in das musikalische Experiment ein.

Wer sich einmal die Mühe macht, alle 104 bzw. 108 Symphonien in chronologischer Reihenfolge zu hören – zwei Gesamteinspielungen unter Antal Dorati (1969–1972) und unter Adam Fischer (1987–2001) stehen zur Wahl –, der kann diese Entwicklung hörend gut nachvollziehen und durchaus auch seinen Spaß an den Späßen haben, die Haydn sich, seinem Dienstherrn und seinen Musikern bereitet. Mögen auch einige der Beinamen für die Symphonien von den Verlegern um der Unterscheidbarkeit willen erfunden worden sein – ganz unzutreffend sind sie nicht.

Haydn, der Autodidakt aus der Provinz, hat die ganze Welt in seine Musik eingelassen. Als er dann in die Welt aufbricht, darf er feststellen, daß sie ihr Echo aus der Provinz wohl vernommen hatte. Seinen wachsenden europäischen Ruf hatte er an den Aufträgen ermessen können, die ihm aus dem Ausland zugingen, die beiden England-Reisen in den neunziger Jahren geraten zu einem künstlerischen Triumph – von der „Hauptepoche in seinem Leben“ schreibt Griesinger – und finanziellen Erfolg.

In der Wiener Vorstadt kauft sich Haydn ein Haus, das heutige „Haydn­haus“, das er von 1797 bis zu seinem Tod bewohnt. Hier komponiert er die Oratorien „Die Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“, sechs Messen für die Familie Esterházy, die letzten Streichquartette – eine Gattung, die er, zeitgleich mit Boccherini, begründet hatte. Und hier stirbt er am 31. Mai 1809 nach langer Krankheit während der napoleonischen Besatzung Wiens an Entkräftung. Napoleon hatte Haydns Wohnhaus durch eine Ehrenwache schützen lassen. Bei der Trauerfeier in der Schottenkirche wird das „Requiem“ seines Freundes, Musizierpartners und Logenbruders Mozart gespielt.

Darf dieses erfüllte Leben, Haydns Leben zum Beweis für ein richtiges im falschen herangezogen werden? Es überrascht, wie wenig das Werk vom Leben seines Schöpfers preisgeben will. Mit Gewalt nur ließen sich die Buffa-Konstellationen seiner Opern als Reflexe auf die 1760 geschlossene, glück- und kinderlose Ehe lesen. Und unentschieden muß wohl bleiben, ob einige seiner langsamen Sätze auf eine depressive Disposition ihres Schöpfers verweisen. Der Mann Haydn und sein Werk bergen viele Rätsel, und vielleicht trifft ja Artur Rubinsteins auf Mozarts Musik gemünztes Wort auch auf die Musik Haydns zu, daß sie zu leicht für Kinder und zu schwer für Erwachsene sei.

Zu leicht für Kinder und zu schwer für Erwachsene

Eines der schwierigsten Rätsel, da an menschlich Tiefstes rührend, geben gewiß die sieben Sonatenhauptsätze über „Die sieben Worte unseres Erlösers am Kreuz“ auf, die Haydn im Auftrag des Domkapitels zu Cádiz in Spanien schrieb und die für die Passions-Exerzitien 1787 in der Kapelle Santa Cueva, der krypta-ähnlichen Unterkirche der Stadtkirche Santa Rosário, bestimmt waren. Drei Fassungen sind überliefert, eine Orchesterfassung (1786), ein Arrangement für Streichquartett (1787) und, in Zusammenarbeit mit Baron von Swieten, ein Oratorium mit deutschem Text (1795/96). „Jedwede Sonate oder jedweder Text“, schreibt Haydn in einem Verkaufsangebot an seinen englischen Verleger, „ist bloss durch die Instrumentale Music dergestalten ausgedruckt, dass es den Unerfahrensten den tiefsten Eindruck in Seiner Seel Erwecket.“

Und dann ist da ja noch Haydns Kaiserlied nach einer kroatischen Volksmelodie, das mit dem Text Hoffmanns von Fallersleben als „Das Lied der Deutschen“ die Runde macht, mal mit der einen, mal mit der anderen Strophe, aber jedesmal in plumper Orchestrierung. Es gibt dieses Lied aber auch als Cantus firmus des langsamen zweiten Satzes von Haydns Streichquartett op.76, Nr. 3, des „Kaiserquartetts“, das alltäglich den Fernsehabend der Westdeutschen und der fremdsehenden Mitteldeutschen beschloß, als es die späte Gnade des Sendeschlusses noch gab, ein unsagbar anmutiges Gebilde, als wolle es den Herrscher über seine Herrschaft trösten und ein spinnwebfeines Netz um einen ohnmächtigen Mächtigen legen, in dem sich verfangen muß, wer immer ihm in böser Absicht naht.

Die Klugheit mag aus den Städten kommen, die Weisheit aber kommt aus der Provinz. Aber vielleicht ist das auch wieder nur so eine Legende.

Foto: Haydn auf der Überfahrt nach England: Künstlerischer Triumph

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen