© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/09 29. Mai 2009

Ost-Berlin lachte sich ins Fäustchen
Der Fall Benno Ohnesorg und die Stasi: Plötzlich stellt sich die Frage nach dem Einfluß der DDR auf die politische Geschichte Westdeutschlands neu
Ronald Berthold

Die Geschichte kennt im Moment ihres Geschehens keine Gerechtigkeit. Es gilt kein Wenn und kein Aber. Es gilt nur der Moment. Daher haben Fragen nach vermeintlich anderem historischen Verlauf bei Veränderung einer Prämisse zwar ihren Reiz, jedoch letztlich keine Relevanz. Denn wichtig ist zunächst, was unmittelbar aus einem Ereignis folgt. Rückgängig gemacht werden kann nichts mehr – auch dann nicht, wenn sich später herausstellt, daß das Wissen um ein entscheidendes Detail mit umgekehrten Vorzeichen dem folgenreichen Augenblick eine andere Wendung gegeben hätte.

Die Destabilisierung des West-Staates als Ziel

So war es mit dem konstruktiven Mißtrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt im April 1972. Nach der Wiedervereinigung wurde publik, daß die DDR-Staatssicherheit dem westdeutschen Regierungschef die Mehrheit zusammengekauft hatte; mindestens zwei Unionsabgeordnete waren bestochen worden. Doch weder bescherte das Rainer Barzel die Kanzlerschaft noch gab es den Heimatvertriebenen die Hoffnung auf eine Veränderung der Ostpolitik. Eine wichtige Prämisse konnte den Lauf der Dinge rückwirkend nicht aufhalten – weil das Bekanntwerden darüber einfach zu spät kam.

Diese Tragik zeigt sich auch jetzt, da eine spektakuläre Wende im Falle des nach einer Demonstration gegen den Schahbesuch am 2. Juni 1967 in Berlin-Charlottenburg erschossenen Studenten Benno Ohnesorg öffentlich wird. Der Polizist, ein Kriminalobermeister, der den 26jährigen in einem Hof der Krummen Straße durch einen Schuß in den Hinterkopf tötete, war nicht nur „aus ehrlicher Überzeugung“ seit 1964 Mitglied der SED, sondern sogar bereits seit April 1955 als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) unter dem Decknamen „Otto Bohl“ eine gutbezahlte Spitzenquelle der DDR-Staatssicherheit. Recherchiert haben dieses erhebliche Detail der Historiker Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Jabs. Sie fragen daher: „Welches Signal wäre das gewesen, wenn der beginnenden studentischen und außerparlamentarischen Bewegung das im Juni 1967 bekannt gewesen wäre?“

Die Frage ist zwar hypothetisch, aber völlig berechtigt – denn nun gibt es zu diesem die damalige Bundesrepublik erschütternden Fall ein Wenn und auch ein Aber. Den Todesschuß des Westberliner Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras instrumentalisierten die Studentenbewegung und auch die DDR-Führung seinerzeit für ihre These, die alten Eliten aus dem Dritten Reich gäben in West-Deutschland weiter den Ton an. Unisono sprachen beide vom „Opfer des Militarismus“.

Für den kommunistischen Staat war der Tod des Demonstranten ein höchst willkommenes Ereignis, konnte er sich doch als Burg des Friedens von der mörderischen BRD abgrenzen. Wer wollte noch den Schießbefehl an der Mauer anprangern, wenn West-Berliner Polizisten harmlose Studenten über den Haufen knallten?

Die SED-Rhetorik stieß auf offene Ohren. Die Rebellen radikalisierten sich, es entstanden die Bewegung 2. Juni und die RAF. Bis in die 1990er Jahre hinein überzogen sie Staat und Bürger mit ihrem Terror, der letztlich auf einer Tat gründete, die ein SED-Mitglied und Agent der DDR begangen hatte – freigesprochen von einer westlichen Justiz, die Kurras’ Notwehr-Aussage nicht hatte widerlegen können, während dieser die Stasi bat, seine Anwaltskosten zu übernehmen.

Durch die sensationelle Neuigkeit im Ohnesorg-Fall stellt sich die Frage nach dem Einfluß der DDR auf die politische Geschichte der BRD wieder neu. Neben der manipulierten Wahl Willy Brandts nun also das Fanal von der Krummen Straße. Bei zwei Schlüsselereignissen der Historie Westdeutschlands hatten Gehilfen des SED-Staates ihre Finger im Spiel. Die Wissenschaftler fanden zwar keinen Hinweis, daß Kurras im Auftrag der DDR handelte. Dennoch steht fest: Ein Kollaborateur hat den Fortgang der Ereignisse entscheidend geprägt. In Westdeutschland brach eine Art Bürgerkrieg aus – und Ost-Berlin lachte sich ins Fäustchen.

Hinzu kommt: Das Sprachrohr der rebellischen Bewegung, die Zeitschrift Konkret, finanzierte die DDR bis 1964 mit 40.000 D-Mark pro Monat. Das Blatt erreichte bis zu 500.000 Leser und hatte ungeheuren Einfluß auf die damalige Jugend; ebenso wie Intrigen gegen die Reputation führender Politiker der alten Bundesrepublik.

Die Stasi fälschte Papiere, denen zufolge Präsident Heinrich Lübke im Dritten Reich an der KZ-Planung beteiligt gewesen sei. 1968 druckte der Stern die vermeintlichen Belege für die unheilvolle Tradition von NS-Staat und Bundesrepublik ab. Lübke blieb zwar im Amt, aber auch der Verdacht gegen ihn bestehen.

Daß die DDR die Geschichte schlicht erfunden hatte, wurde erst nach der Wende belegt. All das verfehlte nicht sein Ziel, nämlich die Destabilisierung des West-Staates. Zu viele dortige Meinungsmacher hatten die Vorlagen der DDR aufgenommen, um absichtlich Eigentore zu fabrizieren.

So ist das mit der sich ereignenden Geschichte: Sie überrollt ohne Rücksichten auf Wahrheit ihre Protagonisten. Uwe Barschel starb sogar auf dem Höhepunkt eines solchen Skandals – wahrscheinlich durch die Hand eines Mörders. Auch der damalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins ist möglicherweise Opfer einer Intrige geworden, bei der die Stasi nicht unbeteiligt war.

Wenn schon die Ereignisse nicht mehr korrigiert werden können, so müssen fundamental neue Erkenntnisse doch zum Umdenken bei den Eliten, ja auch zum Umschreiben von Geschichte, führen. Und zwar ohne Wenn und Aber. Da sich jedoch selbst eine Politik-Professorin – die soeben noch das höchste Staatsamt übernehmen wollte – weigert, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen, besteht hier wenig Anlaß zur Hoffnung.

Foto: Ausriß aus der „Bild“ (25. Mai 2009) und Studenten-Protestzug in West-Berlin (18. Februar 1968): Vorlagen der DDR übernommen

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