© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/09 29. Mai 2009

Einmalige Pionierarbeit im Grenzgebiet
„Fall Kurras“: Die Arbeit der Birthler-Behörde wird seit ihrer Gründung kritisch beobachtet / Mehr als 2,5 Millionen Anträge auf Auskunft
Ekkehard Schultz

Wieviel brisantes Material zur Geschichte der beiden deutschen Staaten bergen die umfangreichen Aktenbestände des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) noch? Seit den jüngsten Funden über den West-Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 einen tödlichen Schuß auf den Studenten Benno Ohnesorg abgab, gewinnt diese Frage erneut an Gewicht. Denn allein die Tatsache, daß Kurras langjähriges SED-Mitglied war sowie als Geheimer Mitarbeiter (GM) des MfS geführt wurde, ist bereits so spektakulär, daß sie nicht ohne Einfluß auf die Geschichtsschreibung dieser Zeit bleiben dürfte.

Doch nicht nur der Fund als solcher bietet derzeit Anlaß für rege Diskussionen. Kaum weniger interessant ist die Frage, weshalb Mitarbeiter der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) erst 18 Jahre nach der Gründung der Einrichtung und zudem eher zufällig auf die entsprechenden Belege stießen. Historiker, die seit vielen Jahren über die kommunistische Diktatur forschen, fühlen sich durch die „späte Entdeckung“ zu Kurras in ihrer grundlegend kritischen Auffassung gegenüber der Arbeit der Behörde bestätigt. BStU-Chefin Marianne Birthler wies derartige Vorwürfe am Dienstag bei der Vorstellung ihres Jahresberichtes zurück. Die Kurras-Akten seien „verfügbar“ gewesen, allerdings von niemandem angefordert worden. Und auch die Aufarbeitung der Stasi-Tätigkeiten im Westen habe für die Behörde immer einen „hohen Stellenwert“ gehabt.

Klagen gegenüber der seit 1991 zunächst von Joachim Gauck und seit 2000 von Birthler geleiteten Behörde sind keineswegs neu. Denn das aus der DDR stammende Aktenerbe, welches Bürgerrechtler bei den Besetzungen der MfS-Zentralen gesichert hatten, barg von Anfang an ein großes Konfliktpotential. Dies lag schon an seinem außergewöhnlichen Umfang – allein 180 Kilometer Papier. Hinzu kam, daß noch nie in der deutschen Geschichte eine solche Menge Geheimdienstmaterial, welches die vielfältigen Methoden der Unterdrückung in einer Diktatur dokumentiert, auch nur ansatzweise archiviert – geschweige denn einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurde.

Das zentrale Anliegen der Bürgerrechtler bei der Sicherung des Materials bestand zunächst darin, jedem einzelnen Bürger ein Recht darauf einzuräumen, Einblick in die Akten zu nehmen, welche auf seine eigene Person Bezug nehmen. Die erste gesetzliche Grundlage, mit deren Hilfe der Zugang der Bürger ermöglicht werden sollte, wurde bereits von der letzten DDR-Volkskammer beschlossen. Diese Entscheidung fand Eingang in den Einigungsvertrag und wurde schließlich in der Bundesrepublik mit Hilfe des sogenannten Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) zum größten Teil realisiert: Auf diesem Wege konnten zwischen 1991 und Ende 2008 2.559.311 Anträge von Bürgern auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe von Akten gestellt und bearbeitet werden. Das Interesse daran ist ungebrochen. 2008 – immerhin fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende des kommunistischen Herrschaft – wurden immer noch 87.366 Anträge gestellt.

Eine weitere wichtige Aufgabe der BStU bestand in der Bearbeitung von Ersuchen zur Überprüfung von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes im Hinblick auf eine frühere Tätigkeit für das MfS. Zu den Betroffenen zählten neben Abgeordneten des Bundestages, der Landtage, Richtern und Staatsanwälten insbesondere Bewerber für höhere Dienst- sowie Beamtenstellen. Bis Ende 2008 wurden 1.753.869 Überprüfungen vorgenommen. Das siebte Gesetz zur Änderung des StUG vom 21.12.2006 engte den Kreis der überprüfbaren Personen allerdings gravierend ein.

Bei dieser Arbeit wurden schnell die Grenzen deutlich: Letztlich vermag die Behörde eine Tätigkeit für das MfS lediglich mit Hilfe der in den Akten enthaltenen Hinweise nachzuweisen. Einige prominente Politiker wie etwa Manfred Stolpe (SPD) oder Gregor Gysi (Linkspartei) stellten indes die grundsätzliche Richtigkeit der Belege in Frage, nach denen sie als MfS-Mitarbeiter geführt wurden. Gegen Medien und Einzelpersonen, die eine Mitarbeit Stolpes oder Gysis als Tatsache darstellten, konnten Unterlassungsklagen angedroht und durchgesetzt werden.

Ebenso geriet die sonstige publizistische und wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR mit Hilfe der Akteneinsicht schnell in das Spannungsfeld zwischen Aufklärungsinteressen und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte ehemaliger Begünstigter des SED-Regimes. Damit die Behörde ihre Aufgaben überhaupt erfüllen konnte, waren daher immer wieder Novellierungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes durch den Bundestag notwendig. Die komplizierte juristische Situation trug dazu bei, daß die BStU vielfach bei Anträgen von Journalisten und Wissenschaftlern sehr vorsichtig agierte, was wiederum zu wiederholter Kritik Anlaß gab.

Seit einigen Jahren wird die Überführung der Bestände der Behörde unter das Dach des Bundesarchivs diskutiert. Für eine solche Verlegung spricht, daß die MfS-Akten bei einer Lagerung am gleichen Ort erheblich leichter mit den Akten der Parteien und Massenorganisationen der DDR verglichen und ausgewertet werden könnten. Die BStU weist hingegen darauf hin, daß aufgrund der mangelnden personellen wie logistischen Kapazitäten des Bundesarchivs eine individuelle Akteneinsicht im heutigen Umfang kaum möglich sei.

Foto: Behördenchefin Marianne Birthler vor Säcken mit den Überresten „vorvernichteter“ Stasi-Akten: 180 Kilometer Papier

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