© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/09 29. Mai 2009

Die Revision von 1968
Der Fall Kurras: Die Linke kämpft um das Überleben ihrer Geschichtsdeutung
Karlheinz Weissmann

Das ändert nichts“. Mit diesen Worten nahm Karl-Heinz Kurras zur Enthüllung seiner Vergangenheit als Agent des Ministeriums für Staatssicherheit und SED-Mitglied Stellung. Wahrscheinlich stimmt der Satz sogar, wenn man ihn so versteht, daß es nach wie vor keine plausible Erklärung gibt, warum er am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoß. Handelte da ein überforderter Polizist in vermeintlicher Notwehr, oder mordete ein Waffennarr im Ordnungswahn? Hinzu gekommen ist nur die Erwägung, daß der „autoritäre Charakter“ andere als die bis dato vermuteten ideologischen Sympathien hatte, und die Möglichkeit, daß Kurras geglaubt haben könnte, in Ohnesorg einen „Verräter“ zu „liquidieren“. Ein Auftrag der Staatssicherheit an Kurras als agent provocateur (Stefan Aust) erscheint dagegen unwahrscheinlich.

Die DDR-Führung konnte keinen unmittelbaren Nutzen aus der unerwartet entstandenen Lage ziehen, beutete sie aber propagandistisch aus. Ihre Hemmungslosigkeit unterschied sich nur graduell von jener der Apo, der es darum ging, Ohnesorg zum Märtyrer zu stilisieren und den immer noch relativ isolierten studentischen Gruppen eine Massenbasis zu verschaffen. „Und wie bitter nötig hatten wir die Opfer in unseren Reihen!“ urteilte später Frank Böckelmann, Gründungsmitglied der Kommune 1, und der Soziologe Detlev Claussen, ehemaliges SDS-Mitglied, beschrieb die plötzliche Veränderung der Atmosphäre mit den Worten: „Du bist am Morgen nach Ohnesorgs Erschießung aufgewacht, und es sind plötzlich ganz viele Menschen …, die du noch nie gesehen hast, da … das hat auch irgendwo diesen euphorischen Funken gesetzt.“ Der „euphorische Funken“, so Claussen weiter, erzeugte eigentlich erst die „Bewegung“. Eine Bewegung, die auf Eskalation drängte, und nachdem Kurras vor Gericht gestellt, aber freigesprochen worden war, fragte Rudi Dutschke rhetorisch, was denn noch passieren müsse, bevor man „zur radikalen Tat“ schreite.

Es ist angesichts dessen verständlich, daß heute ein paar nachdenkliche Veteranen meinen, die Gesamtentwicklung hätte einen anderen Verlauf genommen, falls das Doppelleben von Kurras damals schon bekanntgeworden wäre: keine Identifizierung von Bundesrepublik und „Faschismus“, von Studenten und verfolgten Juden, kein Terrorismus als nachträglicher Widerstand. Aber für diese Annahme spricht wenig. Die Phasen der Radikalisierung vollzogen sich im „Wohlstandsgürtel“ Ende der sechziger Jahre überall nach ganz ähnlichen Mustern. Es bedurfte keiner tatsächlichen „Nazis“, um sich welche zurechtzumachen, und keines vergossenen Blutes, um von der revolutionären Theorie zur revolutionären Praxis überzugehen. Der Boden war bereitet, und die Nachricht vom Tod Ohnesorgs hatte eine katalytische Wirkung, mehr nicht.

Das reduziert die geschichtliche Bedeutung des Aktenfundes in der Birthler-Behörde, aber kaum die geschichtspolitische. Daher auch die Heftigkeit der linken Reaktionen nach den Enthüllungen vom vergangenen Wochenende. Besonders gereizt war die taz, wo man gleich einen Angriff der „Konservativen“ und „ewigen Kalten Krieger“ auf das „Geschichtsbild“ mutmaßte. Abgesehen von der schönen Offenheit, mit der hier zugestanden wird, daß das herrschende das linke Geschichtsbild ist, erscheint vor allem bemerkenswert, wie sehr man zwei Deutungen der Vergangenheit fürchtet: daß die DDR tatsächlich eine Bedrohung der Bundesrepublik darstellte, weshalb jede Haltung entschlossener Abwehr ungleich legitimer wirken muß als die Entspannungseuphorie der Linken, und daß die Bundesrepublik in außerordentlichem Maß Opfer östlicher Unterwanderung war und die Linke, die diesen Sachverhalt stets leugnete, nichts anderes als jener Haufen „nützlicher Idioten“, von dem Gerhard Löwenthal immer gesprochen hat.

Stefan Reinicke, der den Hauptbeitrag für die taz schrieb, macht gar keinen Hehl daraus, daß es ihm weder um Ohnesorg noch um Kurras geht und schon gar nicht um irgendwelche Details in der Entwicklung der Studentenbewegung, sondern darum, die kulturelle Hegemonie zu verteidigen, gegen jene Dunkelmänner, die „‘68’ doch noch auslöschen“ wollen, indem sie die Revolte als große Inszenierung der DDR erscheinen lassen, denn: „Es waren die 68er und deren Nachfolger, die Alternativen, Feministinnen, Ökos und Spontis, die den wildgewordenen Kleinbürgern à la Kurras diese Republik nicht länger überließen.“

Reinickes Vorstellung vom Lauf der Zeit ist abenteuerlich, aber seine Sorge vor einer geschichtspolitischen Kehre unbegründet. Vielleicht wird der Fall Kurras dazu führen, daß die Öffentlichkeit etwas aufmerksamer reagiert, wenn es um die Schandtaten des östlichen Regimes geht, vielleicht wird man der Birthler-Behörde endlich den Auftrag erteilen, die östliche Subversion – wenigstens im Fall des Bundestages – genauer zu untersuchen, und vielleicht bekommt Hubertus Knabe Waffenhilfe für seinen Ein-Mann-Feldzug.

Aber es besteht doch nur wenig Hoffnung, daß die Zeit reif ist für die eigentlich notwendige Auseinandersetzung. Denn da ginge es um die allgemein akzeptierten Legenden zur deutschen Geschichte, der Bundesrepublik und der DDR, Verlauf und Bedeutung des Zweiten Weltkriegs, die Einflußnahmen der Alliierten und die Bedingungen, unter denen man deutsche Politik in der Obhut der Sieger machen mußte, weiter um den alltäglichen Antifaschismus und den Einfluß, den die „Partei der DDR“ (Volker Zastrow) auf die Deutung historischer wie aktueller Fragen nimmt – ausgerechnet seit der Wiedervereinigung im Bündnis nicht nur mit den Erben von ’68, sondern auch mit dem juste milieu, das längst dem Gedanken nähergetreten ist, daß 1949 und 1968 und 1989 nur Phasen einer dialektischen Gesamtentwicklung markieren, die uns in die beste aller denkbaren Republiken führte.

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