© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/09 15. Mai 2009

Ein Nichtwähler haut auf den Putz
Der Journalist Gabor Steingart wirft einen kritischen Blick auf den Zustand der deutschen Demokratie
Robert Hepp

In seinem neuen Buch „Die Machtfrage“, das der Spiegel-Redakteur Gabor Steingart der Bundesrepublik zur Feier ihres sechzigsten Geburtstags auf den Gabentisch gelegt hat, meint er, die sozial-liberale Ära sei die Blütezeit der deutschen Demokratie gewesen. In jener Blütezeit erschien eine Festbroschüre der Bundesregierung zum dreißigsten Geburtstag der Republik mit dem Titel „Demokratie als Auftrag“, der zu entnehmen war, daß die deutsche Geschichte nach langen Irrungen und Wirrungen mit dem Grundgesetz endlich den Anschluß an die demokratische Heilsgeschichte gefunden hatte, die im Jahr 1776 mit der Virginia Bill of Rights angebrochen war, und daß es deshalb nichts Wichtigeres gab, als diese Errungenschaft treulich zu bewahren und weiterzugeben. Die Verwirklichung der Demokratie war damals offenbar das oberste Ziel der deutschen Politik.

Da zu erwarten ist, daß uns anläßlich des bevorstehenden sechzigsten Geburtstags der Republik jener „Auftrag“ erneut ans Herz gelegt wird, müssen wir Gabor Steingart dankbar sein, weil er uns dazu einlädt, einen kritischen Blick auf den Zustand der deutschen Demokratie zu werfen und zu prüfen, wie es um die Lebenserwartung der guten alten Dame bestellt ist.

Die Lektüre des Buches, das in der saloppen Spiegel-Schreibe verfaßt ist, ist wegen der bodenlosen Oberflächlichkeit und historischen Ahnungslosigkeit des Autors allerdings eine Strapaze. Wer „die 68er“ für  den „besseren Teil der Menschheit“, Gerhard Leibholz für einen Gegner des Parteienstaates, Léon Blum für einen großen Politiker, Churchill für einen Gründervater der BRD und Hitler für einen Psychopathen hält, der selbst in kleinster Gesellschaft immer nur brüllte, kann unter gebildeten Leuten keinen großen Kredit für sich in Anspruch nehmen.

Wegen seiner rhetorischen Radikalität hat die Lektüre des Essays bei aller peinlichen Effekthascherei trotzdem einen gewissen Reiz. So unverblümt hat unserer politischen Klasse noch kaum einer die Leviten gelesen. Und so rotzfrech ist schon lange keiner mehr mit ihren heiligsten Institutionen umgesprungen. Steingarts Gemälde der deutschen Demokratie mag manchem allzu düster erscheinen, die Krankheitssymptome, die er anführt, wird niemand bestreiten können.

Nach neueren Umfrageergebnissen sollen nicht einmal mehr fünfzig Prozent der Bürger davon überzeugt sein, daß „unsere Demokratie“ noch in der Lage ist, „die großen Probleme“ des Landes zu lösen. Mehr und mehr Leute ärgern sich über die absurden Vorschriften, die mit bundesrepublikanischer Zustimmung von Brüssel aus auf sie niedergehen. Die Klage über das Demokratiedefizit der EU ist längst ein Dauerbrenner.

Hinzu kommt die Kritik an der Rekrutierung der Mitglieder der politischen Klasse. Das Ansehen der Berufspolitiker ist auf einem Tiefstpunkt angelangt, und die großen Volksparteien leiden an personeller Auszehrung. An den Wahlen beteiligen sich, wenn es hochkommt, gerade mal zwei Drittel der Wahlberechtigten, und selbst die siegreichen Parteien können kaum noch ein Drittel von ihnen für sich gewinnen.

Wenn man danach fragt, welches Gegenbild zu dieser dekadenten Demokratie der forsche Kritiker anzubieten hat, wird man freilich arg enttäuscht. Eine Idee, wie die Republik wieder für die „Lösung der großen Probleme des Landes“ fit gemacht werden könnte, wird man in dem Buch vergebens suchen. Dem Autor geht es nicht um eine starke und leistungsfähige, sondern um „eine“ Demokratie.

Seine Lieblingsphrase ist die „demokratische Leidenschaft“. Diese Leidenschaft, meint er, sei in den siebziger Jahren, als Klein-Gabor an der Hand seines Vatis eine Wahlveranstaltung von Willy besuchen durfte, noch spürbar gewesen. Der verklärende O-Ton Steingart: „Willy Brandt (...) warb für ‘mehr Demokratie’ (...) Der öffentliche Raum war Anfang der siebziger Jahre dicht gefüllt. Was für eine Euphorie. Welch eine Leidenschaft. (...) Die Demokratie blühte, weil Millionen (...) auf Parteien und Politiker stießen, die im öffentlichen Raum freudig auf sie warteten. Erst in diesem Aufeinandertreffen entstand jene demokratische Leidenschaft, die das System nun auf Jahre mit Strom versorgte. Der öffentliche Raum, wo sich die Mächtigen und die Bürger als Gleiche unter Gleichen begegnen, ist der für die Demokratie zentrale Ort.“

Bei Steingart hat die demokratische Leidenschaft offenbar die Funktion, das Völkchen der Wähler in einen solchen Gefühlsrausch zu versetzen, daß sie, wie es Rousseau von den Bürgern seiner Republik verlangt, völlig außer sich geraten und sich restlos mit den „Mächtigen“ identifizieren. Damit wäre dann die „Machtfrage“, die im Buchtitel angesprochen wird, glücklich gelöst. Der perfekte Demokrat, heißt es bei Georges Sorel, gleicht dem Lakaien eines großen Hauses, der „Wir“ sagt, wenn er von den Taten seines Herrn und Meisters spricht. 

Daß sich der Wahlhelfer Steingart gleichzeitig als Nichtwähler outet und einen allgemeinen Wahlstreik propagiert, könnte paradox erscheinen, wenn er nicht selber eingestehen würde, daß das nur eine Drohgebärde ist, die die Parteien zur Räson bringen soll. Vielleicht ist es sogar nur ein Werbegag, der die Aufmerksamkeit auf sein Produkt lenken soll.

Von seinen anderen Ideen zur „Erneuerung der Demokratie“ – Abschied vom Listenabgeordneten, Einführung des Leistungsprinzips für Abgeordnete, Direktwahl des Präsidenten, Abschaffung der Parteienprivilegien und der Parteibuchwirtschaft, Einführung von Vorwahlen wie in den USA und von Volksabstimmungen zu Einzelfragen – wäre keine eine reine Mär, wenn das Wörtchen Wenn nicht wär.

Einige würden vielleicht tatsächlich nicht nur der „demokratischen Leidenschaft“, sondern auch der Leistungsfähigkeit des Staates zugute kommen. Andere wären selbst für die Demokratie eher schädlich als nützlich. Der Glaube, daß man alle Mängel und Schwächen von Demokratien durch eine verstärkte Demokratisierung überwinden könne, ist ein schlichter Aberglaube. Eine Demokratie kann auch an sich selber zugrunde gehen. Und wahrscheinlich sind schon mehr Demokratien an zuviel als an zuwenig Demokratie krepiert.

Nach Fareed Zakaria leidet die Welt heute nicht an zuwenig, sondern an zuviel Demokratie. In seinem Bestseller „The Future of Freedom“ (2003), der in zwanzig Sprachen übersetzt wurde und unter dem Titel „Das Ende der Freiheit?“ und dem schönen Untertitel „Wieviel Demokratie verträgt der Mensch?“ auch in deutscher Übersetzung erschien, rät der Chefredakteur von Newsweek International den amerikanischen Weltpolitikern dringend davon ab, die fixe Idee Woodrow Wilsons weiterzuverfolgen, alle Welt mit der amerikanischen Demokratie zu beglücken. Die Demokratie kann nach seiner Meinung nie der Zweck, sondern immer nur ein Mittel der Politik sein. Zakaria gilt als einer der prominentesten Vertreter einer Gruppe von Sozialwissenschaftlern und Philosophen, die in den letzten Jahren unabhängig voneinander damit begannen, den Schutt der „Demokratiewissenschaft“ abzuräumen und ohne ideologische Scheuklappen nach den Zukunftschancen der Demokratie zu fragen. Die Vertreter dieser Schule der politischen Wissenschaft sind sich bei allen Unterschieden im einzelnen darin einig, daß die politische Welt derzeit einen tiefgreifenden Wandel durchmacht, der am Ende eher auf undemokratische als auf demokratische Zustände hinauslaufen dürfte.

Da wird es jeder echte Freund der Demokratie begrüßen, daß Karlheinz Weißmann gerade noch rechtzeitig zum Geburtstag der Bundesrepublik im Antaios-Verlag ein handliches Bändchen mit dem Titel „Post-Demokratie“ herausgebracht hat, das einen vorzüglichen Überblick über die verschiedenen Prognosen bietet, die sich unter diesem Verlegenheitsausdruck verstecken. Da Weißmann schon das frühere Gerede von einem „demokratischen Zeitalter“ aus guten Gründen für Unsinn hält, ist es nicht überraschend, daß er auch kein post-demokratisches Zeitalter am Horizont heraufziehen sieht. Aber seine sorgfältige Bilanz, bei der er weit in die Geschichte der demokratischen Theorie zurückgreift, läßt keinen Zweifel daran, daß die Erledigung des „Auftrags“, den wir vor sechzig Jahren übernommen haben, künftig ziemlich lästig werden könnte.

Gabor Steingart: Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers. Piper Verlag, München 2009, broschiert, 224 Seiten, 14,95 Euro

Foto: Wahlzettel nach Gabor Steingart: Demokratische Leidenschaft kam bei ihm nur beim Willy-Wählen auf

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen