© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/09 15. Mai 2009

Pankraz offenbart sein Betriebsgeheimnis
Gnade geht über Gerechtigkeit: Günter Zehms philosophische Einsichten zum Menschenverstand
Harald Seubert

Das jüngst erschienene Buch von Günter Zehm nimmt in der inzwischen sehr ansehnlichen Reihe seiner Jenaer Vorlesungen eine herausragende Stellung ein: Es dokumentiert die erste Vorlesung, die Zehm 1992 in Jena gehalten hat: in jenen lange versandeten Zeiten von Wende und Aufbruch, vor einer desillusionierten Generation, die aus dem totalitären Strom entkommen war, neugierig, offen – auf welche Zukunft hin? Zugleich ist in dem neuen Band Zehms eigenstes philosophisches Temperament am deutlichsten dokumentiert. Er gibt Einblick in sein „Betriebsgeheimnis“, ohne daß dies dem Reiz Abbruch täte. Nicht ohne Grund steht keine von Zehms philosophischen Publikationen der klugen essyaistischen Moralistik von Pankraz so nahe wie diese. Es ist deshalb besonders zu begrüßen, daß dieses Buch gleichermaßen zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung wie kurz nach Günter Zehms 75. Geburtstag (JF 42/08) erscheint.

Zehm stieg 1992 ohne jede Bitterkeit und Rechthaberei auf das Katheder, das ihm in der DDR verweigert worden war. Die Tiefe und Humanität seiner Zwiesprache mit den Hörern sind wohltuend, wenn man sich der verschiedenen Freibeuter, Ideologen, Besserwisser und Karrieristen erinnert, die nach 1990 die untergegangene DDR beerbten und bis heute ihr Unwesen treiben.

Der „gesunde Menschenverstand“, englisch „common sense“, französisch „bon sens“ ist in der Version, die Zehm ihm gibt, keineswegs banal. Er reduziert die menschliche Existenz nicht auf Pragmatismus, er mißt auch ihre Tiefen und Untiefen aus: die Suche nach der eigenen Gesundheit ebenso wie den Umgang mit dem Bösen, dem Hinterhalt, in sich selbst und in jeder anderen Person. Ohne kulturkritisches Pathos wird die Spaßgesellschaft glossiert, die, obwohl in ihr forciert gelacht wird, keineswegs heiter ist, sondern verkrampft; so wie auch die Moralisierrung von Kulinarik nicht zum Genuß beiträgt und Schenken eine hohe, rätselhafte Kunst bleibt – zumal sie, wie Zehm mit Nietzsche weiß, auf schlechthin unverfügbarer Freude beruht.

Die alteuropäische bürgerliche Gesellschaft, bevor sie zum „System der Bedürfnisse“ verkam, und der im Sinne von Adam Smith auf Sympathie und ethischem Mitgefühl beruhende Markt haben Zehms Zustimmung. Im Anhang wird freilich zugleich gezeigt, daß die einpolige globale Welt eines glorifizierten „Geizes“, die Reserven und Sorge verkannte, damit nichts gemein hat.  Vor dem Hintergrund des Smithschen Marktbegriffs und des Fallibilismus von Karl R. Popper formuliert Zehm eine in dieser Prägnanz unerreichte Marx-Kritik, die man gerade heute sehr aufmerksam zur Kenntnis nehmen wird.  Neben Popper ist es insbesondere Hans Jonas, Philosoph der Verantwortung, dem Zehm nahesteht.

Mehr als in Zehms anderen Büchern scheint die persönliche Erfahrung hindurch. Nur der Ideologe schweigt von sich, der Philosoph wird – diskret – seine Erfahrung andeuten. Es gibt bewegende Passagen wie jene über die Frage, wie man als Nichtmärtyrer im sozialistischen System anständig blieb, oder die kurze Reminiszenz an das Zuchthaus in Bautzen und daran, was es hieß, dort schreiben zu wollen, um zu überleben. 

Es ist ein realistisches Buch, das –  gemäß Nietzsches Maxime – um dessen Natur wissend, doch nicht schändlich vom Menschen denkt. Zehms Überlegungen sind gleichsam ein Anti-Ratgeber. Sie suchen die wohltemperierte Mitte menschlichen Lebens, die Urteilskraft. Mit Goethe weiß Zehm, daß es nichts Dümmeres gibt als Ratschläge. Was zeigt das über eine Welt, die im Dauer-Consulting-Rausch begriffen ist?

Wie das kluge Weltkind in der Mitten prüft Zehms „Gesunder Menschenverstand“ Prophetien und Letztthesen, woher sie auch kommen – und doch ist er kein Transzendental-Belletrist und Skeptiker à la Marquard. Fröhliche Wissenschaft aus dem Geist des Ernstes ist Sache des gesunden Menschenverstandes. Dabei ergibt sich als durchgehender Leitfaden die Kritik an utopischen Planungsideologien, die den Menschen banalisieren und am Ende selbst abschaffen werden. 

Der gesunde Menschenverstand bejaht die Demokratie, doch verklärt er sie nicht. Für sie spricht aus seiner Sicht vor allem das Instrument der Abwahl – Äquivalent zum Fallibilismus der Erkenntnistheorie Karl Poppers. Zehm spricht frische, deutliche Warnungen aus: vor Optimierern, Panikmachern, Gesinnungsethikern, in ihrer Scheininszenierung erstarrten Politikern. Sein „Gesunder Menschenverstand“ gibt zu bedenken, daß ein ausnahmsloser Egalitarismus, eine krakenartig alles erfassende Demokratisierung und in ihrem Gefolge Ökonomisierung am Ende Tyrannei hervorbringt. Ebenso sieht er in empfindungsloser Coolness die Sklavensprache und -mentalität Gestalt gewinnen.

Der Rechtsstaat ist, so zeigt Zehm, gleichermaßen Garant und Eingrenzung der Demokratie. Rechtsstaatliche Freiheit begann, worauf er zu Recht hinweist, nicht erst mit der Französischen und Amerikanischen Revolution, sondern im Mittelalter, mit der Magna Charta Libertatum. Daß das nationale Moment unverzichtbares Moment aller Politik ist, daß gerade das Aufklärungszeitalter über ethnische Differenzen zwischen den Völkern nachdachte und Nation sehr wohl vereinbar ist mit einem universalen Menschenrechtsbegriff, lehrt der gesunde Menschenverstand unprätentiös und kenntnisreich. Er ist also nicht nur ein privates Vermögen. Er reicht in den öffentlichen Raum hinein, der noch immer menschlich-anthropologisch bestimmt ist, nicht Determinante von Systemen und Institutionen.

Der apokalyptische Ton ist Zehms Sache nicht. Indes schließt er gemäß der Rilkschen Maxime „Wer spricht von Siegen/ Überstehn ist alles“ in stoischer Illusionslosigkeit. „Weil die Feigen nicht handeln wollen, dürfen die Mutigen nicht handeln, dafür ist gesorgt. So bleibt zur Zeit wirklich nur noch das Standhalten.“ Die Apokalypse hinauszuschieben, mehr sollte man von einem „guten“ Staat nicht erwarten. Denn alles kann unter der endlichen Conditio humana gut nur sein im Sinne des „Zweitbesten“. Höher kann der gesunde Menschenverstand nicht zielen, weiß er doch, daß alles Leben Niederlage ist, die einmal früher, einmal später kommt. Leben ist, so zeigt Zehms „Gesunder Menschenverstand“ auch, ein Balancieren und Sich-Zurechtfinden in den Fließgleichgewichten des In-der-Welt-Seins.

Dieses Buch ist nicht nur eine große Katharsis der Schlacken aus dem totalitären Kerker und der Selbstkorrumpierung. Es ist zugleich Sensibilisierung gegen die Eitelkeit versteckter Ideologien – und legt ganze kulturwissenschaftliche „Paradigmen“ mit einer einzigen aphoristischen Wendung beiseite. Auch dem „Simplify your life“ mißtraut Zehm zu Recht – und er hält Cusanus und Meister Eckhart dagegen. „Wer ‘einfältig’ werden will, muß etwas zum Einfalten haben, eine Weltfülle. Anders geht es nicht.“ Dieser „bon sens“ ist also zugleich docta ignorantia im besten Sinne.

Wie sehr Zehm ein (west-)europäischer Denker ist, wird hier deutlich. Er vermeidet den hohen, pathetischen Ton ebenso wie ein akademisch-zwanghaftes Understatement, das heutiger analytischer Philosophie eigen ist. Am Ende  wendet sich Zehm jenen beiden Sphären zu, die auch in früheren seiner Bücher berührt werden und die einmal „absoluter Geist“ hießen: Kunst (Ästhetik) und das Heilige. Gnade gehe letztlich über Gerechtigkeit, das muß ein Menschenverstand zugeben, der die Achtung vor den Toten als Grundbestand aller Kultur auch gegen Jesusworte wendet. Das sehr tiefreichende, ausgezeichnete Religionskapitel zeigt große Sympathien für die „Theologia negativa“ und das Kierkegaardsche Paradox. Doch es hält sich selbst entgegen, daß Religion auch der Konkretion bedarf, in Raum und Zeit, im ausgesprochenen Trost.

Nietzsche suchte nach einer  Emanzipation, die sich auch vom Emanzipieren emanzipiert habe: Zehms Buch gibt in seiner lockeren Textur eine Ahnung davon, was dies bedeutet. Viel Tiefe verbirgt sich hinter der Leichtigkeit dieses faszinierendesn Buches eines freien Geistes, voller Doppelbödigkeiten, Überraschungen, Entdeckungen. Wenn man die bisher erschienenen Bände der „Jenaer Vorlesungen“ mit hohem Respekt zur Kenntnis nahm, wird man diesen Band lieben!

Günter Zehm: Gesunder Menschenverstand. Über Glücklichsein, Spaßhaben und Standhalten. Edition Antaios, Schnellroda 2009, gebunden, 362 Seiten, 25 Euro

Foto: Gesunder Menschenverstand dient als Rettungsring: Kritisch gegenüber Prophetien und Letztthesen

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