© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/09 15. Mai 2009

Im Zangengriff von Egoismen
Geburtenraten: Ob Deutschland, Frankreich oder Schweden – in ganz Europa sind kaum positive Tendenzen erkennbar
Friedrich-Thorsten Müller

Wenn es um die Anzahl der Auftritte in deutschen  TV-Talkshows geht, ist Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) Spitze. So belegt sie nach Berechnungen des Nachrichtenmagazins Focus mit 22 Auftritten in der laufenden Legislaturperiode unangefochten Platz eins unter den Bundeskabinettsmitgliedern.

Familienpolitik ist also im Gespräch – zumindest seitdem Ursula von der Leyen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist. Und die Hoffnungen waren groß, als sie am 22. November 2005 ihr Amt übernahm. Als unkonventionelle CDU-Politikerin, Mutter von sieben Kindern und mit der Mehrheit einer Großen Koalition im Rücken weckte sie nicht wenige Erwartungen. Die Nähe, die ihr zwischenzeitlich zur Bundeskanzlerin nachgesagt wurde, ließ hoffen, daß sich diese Bundesregierung als erste des fast 40 Jahre währenden demographischen Niedergangs Deutschlands annehmen würde.

Tatsächlich sollte sich die Familienpolitik auch als eines der Politikfelder erweisen, auf denen sich die Große Koalition zu profilieren suchte. Auf den Nachbarn Frankreich schielend, kam man schnell zu dem Ergebnis, daß das Heil in der Ausweitung der Kinderbetreuung zu suchen sei. So wird der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 auf Einjährige ausgedehnt und das Projekt Ganztagsschule der Vorgängerregierung weiter forciert.

Als wirkliches Novum wurde aber zum 1. Januar 2007 das einkommensabhängige Elterngeld eingeführt. Somit war das Jahr 2008 nun das erste, in dem sämtliche werdende Eltern in Deutschland ihre Entscheidung für ein Kind im Wissen um eine monatlich bis zu 1.800 Euro hohe staatliche Ersatzleistung trafen. Diese Maßnahme schien gerade noch rechtzeitig zu kommen, um vielen kinderlosen, gut ausgebildeten Frauen der geburtenstarken Jahrgänge Ende der 1960er Jahre die Entscheidung für eine Mutterschaft zu versüßen. Darum war die Hoffnung auf den ersten Blick nicht unbegründet, daß man für 2008 mit einem deutlichen Anstieg der Geburtenzahlen rechnen könne. Zudem war bereits 2007 ein leichter Geburtenanstieg um 1,8 Prozent auf 685.000 zu verzeichnen, so daß die Wirkung der Maßnahme ihre Schatten vorauszuwerfen schien.

Groß war nun die Ernüchterung, als das Statistische Bundesamt im April Geburtenzahlen für 2008 vorlegte und plötzlich von einem Geburtenrückgang um 1,1 Prozent oder 8.000 Kinder gegenüber dem Vorjahr sprach. Natürlich hat von der Leyen recht, wenn sie entschuldigend darauf verweist, daß es von Jahr zu Jahr immer weniger potentielle Mütter gebe. Aber die international erhobene Kennzahl „Kinder je Frau“ ist von dieser Tatsache losgelöst – und sie verharrt in Deutschland wie Blei seit vielen Jahren auf einem Niveau von etwa 1,4 statt der für ein Bevölkerungsgleichgewicht dringend benötigten 2,1 Kinder. Aber was läuft nun alles schief?

Es rächt sich ganz einfach der leichtfertige Umgang der Bundesrepublik seit ihrer Gründung mit den Themen Bevölkerungspolitik, Familienlastenverteilung und Wertevermittlung. Zwei Jahrzehnte – bis zur allgemeinen Verfügbarkeit der Verhütungspille und zur 68er Revolte – schien mit der Adenauer-Parole, „Kinder bekommen die Leute von alleine“ alles gutzugehen.

Doch nun kam zum Tragen, daß man in der Nachkriegszeit den Deutschen fleißig zu einem homo oeconomicus erzogen hatte und in den 1970er Jahren Sex auch dank der Abtreibung von der Fortpflanzung völlig entkoppeln konnte. Wenn Menschen nicht Kinder bekommen, weil sie dies wie früher aus biologischen Gründen müssen; wenn außerdem dieser Wunsch nicht aus Familientradition, für soziale Anerkennung, zur Weitergabe des „Eigenen“ und zur persönlichen Alterssicherung verspürt wird, müssen ökonomische Anreize in weitaus größerem Umfang gegeben werden, als dies die Große Koalition bisher tut und kann.

Tatsächlich deckt nämlich das Elterngeld auch in Verbindung mit dem Kindergeld und sonstigen staatlichen Unterstützungen nur einen kleinen Teil der 124.000 Euro Kosten ab, die ein Kind seinen Eltern laut Statistischem Bundesamt im Lauf der Jahre verursacht. Auch die ganztätige Kinderbetreuung, die ökonomisch auf die Reduzierung des Einkommensverlustes von Müttern abzielt, ändert an dieser Grundtatsache nur begrenzt etwas.  Es bleibt dabei, daß sich das Individuum in Deutschland und allen westlichen Ländern zwischen mehr Konsum – zum Beispiel in Form von Urlauben und teuren Autos – oder mehr Kindern entscheiden kann und muß.

 Konsequenterweise erreichte in den letzten Jahren in keinem entwickelten Land Europas oder Nordamerikas die angestammte Bevölkerung ein bestands­erhaltendes Geburtenniveau. Und es ist bis auf weiteres – gerade auch vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise – nicht mit einer Trendwende zu rechnen. Selbst die gerne beispielhaft erwähnten Französinnen und US-Amerikanerinnen (ohne Migrationshintergrund) bekommen lediglich etwa 1,7 Kinder – insgesamt waren es  im Jahr 2008 2,0 bzw. 2,1 Kinder pro Frau in Frankreich und USA. 

Die Maxime müßte darum ganz konsequent lauten, daß der Lebensstandard nicht von der Anzahl der Kinder, sondern primär von der beruflichen Ausbildung oder dem inflationsbereinigten höchsten einmal erreichten Einkommen abhängen sollte. Dies bedeutet, daß die steuerliche Umverteilungsmaschinerie in wesentlich höherem Umfang in Gang gesetzt werden und auch das Tabu Ungleichbehandlung gebrochen werden müßte.

Schließlich bringt es wenig für die Reproduktion einer Wissensgesellschaft, wenn bildungsferne Schichten durch das „Gießkannenprinzip“ überdurchschnittlich dazu ermuntert werden, drei und mehr Kinder in die Welt zu setzen, wo sie häufig schon mit ihrem Bildungs- und Erziehungsbeitrag bei zwei Kindern überfordert sind und immer mehr die Vererbung von Hartz-IV-Biographien zu beobachten ist. Umgekehrt muß man einer gut verdienenden Akademikerin klare Anreize bieten, zumindest zeitweilig auf Erwerbstätigkeit zu verzichten.

Wie der französische Bevölkerungswissenschaftler  Yves-Marie Laulan in seinem eigenartigerweise von der deutschen Politik ignorierten Buch „Deutschland – Chronik eines angekündigten Todes“ schon 2004 zutreffend herausgearbeitet hat, ist die Politik unseres Landes – und so auch Ursula von der Leyen – jedoch immer mehr im Zangengriff von Egoismen anderer, stark wachsender Interessensgruppen wie der Rentenempfänger oder Kinderlosen.

Sicher hat Frankreich manches besser gemacht, was einen erhobenen Zeigefinger unseres westlichen Nachbarn rechtfertigt. Die Ganztagsschule und -betreuung ist seit vielen Jahren Standard, die Steuerpolitik sorgt dafür, daß selbst besserverdienende Familien oft gar keine Einkommensteuer mehr bezahlen. Auch eine halbe Million über den Staat sozialversicherte Tagesmütter erleichtern den Wiedereinstieg der Frauen ins Erwerbsleben.

Gleichwohl stellt man – wenn man die sogenannten sozialistischen Gesellschaften des früheren Ostblocks wie die DDR oder die UdSSR näher betrachtet – fest, daß eine faire Verteilung der Familienlasten nur die notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für ein demographisches Gleichgewicht darstellt.

In diesen Staaten wurden ebenfalls massive Anreize für Familien geschaffen, und es bestand darüber hinaus kaum die Möglichkeit, seinen Konsum durch Verzicht auf Kinder nennenswert auszuweiten. Trotzdem sorgten die rein auf Lebensstandardwahrung setzenden Maßnahmen im damaligen Ostblock schon seit den achtziger Jahren nicht mehr für nennenswert höhere Geburtenraten, als dies im Westen der Fall war. Und auch der Kinderwunsch deutscher Frauen und Männer, der zuletzt im Durchschnitt bei 1,7 beziehungsweise 1,5 Kindern lag, deutet darauf hin, daß optimale äußere Rahmenbedingungen allein nicht ausreichen.

Es spricht alles dafür, daß das entscheidende Moment für eine erfolgreiche Familien- und Bevölkerungspolitik im moralischen Unterbau der Gesellschaft zu suchen ist. Und dort herrscht in der westlichen Zivilisation heute überwiegend gähnende Leere. Es wird nicht genügen, für finanzielle Gerechtigkeit gegenüber Familien zu sorgen und sich dann als Staat ängstlich zurückzuhalten, weil man Angst vor Vergleichen mit der pronatalistischen Bevölkerungspolitik des Dritten Reichs hat.

Kinder sind eben nicht, wie es heute manchmal den Anschein hat, ein nettes – möglichst einzeln auftretendes – Accessoire im Selbstverwirklichungsfahrplan westlicher Genußmenschen, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Zur Umsetzung dieser Erkenntnis wird man aber an die Wurzel der Spaßgesellschaft gehen müssen, wozu von der Leyen weder in einer Regierung Merkel/Steinmeier noch unter Merkel/Westerwelle ein Mandat bekommen wird. Hierfür wird man in Schulen und Elternhäusern Jugendlichen gegenüber zukünftig viel mehr von Pflichten und Erwartungen an sie erzählen müssen. Zum Vergleich: In Frankreich erwartet man von zukünftigen Führungskräften, daß sie auch privat durch Familiengründung Verantwortung übernehmen.

Davon ist Deutschland weit entfernt. Die Frage ist nur, ob die Deutschen  auch gewillt sind, neuen Familienstolz und -zusammenhalt zu entwickeln oder gar sozialen Druck auf gewollt Kinderlose aufzubauen. Doch sollte berufstätigen Müttern oder Frauen, die mehrere Kinder großziehen, ohne berufstätig zu sein, wie in Frankreich eine ganz andere Wertschätzung entgegengebracht werden. Darüber hinaus muß sich die Erkenntnis durchsetzen, daß Migration, insbesondere aus bildungsfernen Kulturräumen, keinen adäquaten Ersatz für eigene Kinder darstellt.

Und dabei ist echte Nachhaltigkeit gefragt. Denn es wird allgemein verkannt, daß der als „demographischer Wandel“ beschönigte Prozeß kein Einschwenken auf ein neues Gleichgewicht bedeutet, sondern eine permanente Spirale nach unten darstellt. Er eskaliert von Generation zu Generation, da es immer schwieriger werden wird, mit ständig sinkenden Zahlen von im Lande verwurzelten Menschen die Infrastruktur und den inneren Frieden aufrechtzuerhalten.

Die Frage ist nur, ob diese Problemstellungen in Talkshows Erwähnung finden. 

Foto: Familienministerin von der Leyen inmitten einer Kinderschar: Nicht nur Deutschland, die ganze westliche Welt wartet auf eine Trendwende

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