© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/09 24. April 2009

Dokumente des Leidens
Dickhäuter: Wird Walter Kempowski nun endlich das verdiente Ansehen zuteil?
Thorsten Hinz

Walter Kempowski füllte 1981 für das FAZ-Magazin den sogenannten Proustschen Fragebogen aus. Auf die Frage „Wer oder was hätten Sie sein mögen?“, antwortete er: „Ein Elefant.“ An die Freundlichkeit, die der sanfte Riese gewöhnlich verströmt, dürfte er dabei weniger gedacht haben, um so mehr an dessen Fähigkeit, mit einem Zornesausbruch seine menschlichen Bedränger in Angst und Schrecken zu versetzen, vor allem aber an seine sprichwörtliche Dickhäutigkeit.

Denn was die Publizistikprofessorin Elisabeth Noelle-Neumann als die „soziale Haut“ eines Menschen bezeichnet: Empfänglichkeit für die Reaktionen der Umwelt, Furcht vor Isolation und Mißachtung, das Bedürfnis nach Zustimmung, das war bei diesem Erfolgs- und Volksschriftsteller noch viel feinnerviger ausgebildet, als man das seinen publizierten Tagebüchern entnehmen konnte.

Die langjährige, herzliche Abneigung des Literaturbetriebs, die dem im Oktober 2007 verstorbenen Kempowski so zu schaffen machte, ist heute fast vergessen. Drei Kempowski-Bücher sind jetzt im Vorfeld seines 80. Geburtstags am 29. April erschienen: der Gedichtband „Langmut“, in dem er seine achtjährige Haftzeit im Zuchthaus Bautzen thematisiert; ein sehr persönlich gefärbtes Porträt des Schriftstellers Gerhard Henschel, eines früheren Titanic- und taz-Autors, der sich vom Kempowski-Saulus zum -Paulus entwickelte; sowie ein Buch von Volker Hage, in dem der Literaturredakteur beim Spiegel seine Aufsätze, Rezensionen und Interviews in Sachen Kempowski versammelt hat. Hage gehört zu den frühen Verteidigern des Schriftstellers, der ihn freilich – wie bei Henschel nachzulesen ist – ein wenig „lahm“ fand.

Henschel zählt so gnadenlos wie bissig auf, was der deutsche Kulturjournalismus und die Germanistik an Inkompetenz, Stupidität und Opportunismus über Jahrzehnte an Kempowski verbrochen haben. Falsche Gemütlichkeit, Verharmlosung des Faschismus, gefährliches Lob abgründiger Bürgerlichkeit – so lautete sinngemäß das Standardrepertoire der linksliberalen Kritik. Kempowski ist seinerseits dem Zeitgeist keinen Fußbreit entgegengekommen, sondern scheint eine diebische Freude daran gehabt zu haben, ihn herauszufordern. Das zeigte sich auch an Kleinigkeiten, etwa, wenn der Landschullehrer lobend hervorhob, daß einige seiner Schülerinnen noch immer Pferdeschwanz trügen, wohlwissend, daß er feministische Lehreramtsanwärterinnen damit zum Schäumen brachte.

Der Konflikt zwischen Autor und Kritik war hauptsächlich ein politisch-ideologischer. Die Rezensenten und Wissenschaftler, im Banne des     Adorno-Satzes stehend, im falschen Leben könne es kein richtiges geben, stellten irritiert fest, daß Kempowski  ihre politischen Reflexe partout nicht bedienen wollte. Er bestand darauf, wie Hage richtig feststellt, daß die große Geschichte, wie sie in den Lehrbüchern nachzulesen ist, sich in Millionen von Privaterleben auffächere und das eine mit dem anderen nicht identisch sei.

Kempowski hatte das selber schmerzhaft erfahren: Als er 1948 mit dem Zug ins Zuchthaus transportiert wurde, sah er durch die geöffnete Waggontür, wie draußen das Leben ganz normal weiterging, ohne daß er das den Menschen übelnehmen konnte und durfte. Während die Kritiker sich die Literatur als Erziehungsmittel für ein verstocktes Publikum vorstellten, war er der Überzeugung, ein Schriftsteller habe weder Anweisungen noch Lehren zu vermitteln, sondern „Sachverhalte jeder Art zu präsentieren und den Leser für mündig genug zu halten, daß er das versteht und seine Schlüsse daraus zieht“.

Damit ist ein grundsätzliches literaturtheoretisches und -geschichtliches Problem berührt. Was eine ideologisierte Literaturkritik bei Kempowski vermißte, war jene Metasprache, die im Namen der 1945 siegreichen Weltordnung die deutsche Geschichte in – wie man heute sagen würde – politisch korrekter Weise kategorisierte und bewertete: was wiederum bedeutete, in fremdem Vokabular über das eigene Erleben zu schreiben und seine Selbstenteignung und -kolonisierung zu betreiben. Das konnte und wollte Kempowski nicht, wie er auch das platte Gegenteil – die Verabsolutierung eigenen Leids und der deutschen Opferrolle – entschieden ablehnte. Für ihn kam es darauf an, die Sachverhalte ohne moralisierende Lehrhaftigkeit miteinander zu verknüpfen, so daß sich aus dem Zusammenspiel ihre unterschiedlichen Bedeutungsschichten für den Leser von selbst enthüllten. An diesem Punkt ist fast die gesamte deutsche Nachkriegsliteratur gescheitert, weil sie mehrheitlich die Metasprache der Sieger verwandte.

Bekanntlich hat Kempowski ein gewaltiges Tagebuch- und Fotoarchiv zur deutschen Alltagsgeschichte zusammengetragen, in das er eine sechsstellige Summe investierte. Er war überzeugt, daß es keinen „zeitgenössischen Roman gibt, der es mit der Substanz dieses Archivs aufnehmen könnte“. Dazu würde sogar die versammelte Kraft von Balzac und Stendhal, von Tolstoi und Dostojewski wahrscheinlich nicht ausreichen. Kempowski hat, gemäß den ihm gegebenen Möglichkeiten, das Montageverfahren gewählt und perfektioniert. Konkret hieß das beim Thema Bombenkrieg: „Ich habe in London nach Tagebüchern von Menschen gesucht, die dort die deutschen Bombenangriffe erlebt haben. Und die habe ich direkt neben Erlebnisse von deutschen Frauen gesetzt. Plötzlich bekommt das Thema eine ganz andere Dimension.“

Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird sein mehrbändiges „Echolot“ sich als die wichtigste und beständigste Prosaleistung der deutschen Nachkriegsliteratur erweisen, und sie begründet Henschels Feststellung, daß Kempowskis Bücher heute lieber gelesen werden als die von Böll, Hochhuth oder Gerhard Zwerenz.

In seinen verknappten, reimlosen, formal strengen Gedichten spiegelt sich die existentielle Erschütterung seiner Haftzeit wider. Manche Verse erinnern an Günter Eichs „Inventur“, andere an Ingeborg Bachmanns „Gestundete Zeit“. Als Dokumente des Leidens sind sie allemal berührend.

Wie es heißt, genießt Kempowski unter jungen Autoren großes Ansehen, viel mehr als die Nobelpreisträger Böll und Grass. Wenigstens das läßt für die Zukunft hoffen.       

Walter Kempowski: Langmut. Gedichte. Albrecht Knaus Verlag, München 2009, gebunden, 84 Seiten, 16 Euro

Volker Hage: Walter Kempowski. Bücher und Begegnungen, Albrecht Knaus Verlag, München 2009, kartoniert, 176 Seiten, 14,95 Euro

Gerhard Henschel: Da mal nachhaken. Näheres über Walter Kempowski. dtv, München 2009, kartoniert, 238 Seiten, 14,90 Euro

Foto:  Walter Kempowski (2006): Die Abneigung des Literaturbetriebs, die dem 2007 Verstorbenen so zu schaffen machte, ist heute fast vergessen

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