© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/09 17. April 2009

Renaissance des Konfuzianismus
Im Einklang mit dem Weltgesetz
von Peter Kuntze

Wer glaubt, Konservatismus sei eine geistige Haltung, die sich erst im Reflex auf die Ideen der Französischen Revolution herausgebildet hat, ist in einem Eurozentrismus befangen, der immer wieder zu fatalen außenpolitischen Fehleinschätzungen führt. Ohne Übertreibung läßt sich nämlich feststellen, daß die Chinesen – mithin ein Fünftel der Menschheit – nicht nur das älteste, sondern wohl auch das konservativste Kulturvolk der Welt sind.

Rund 2.100 Jahre, vom zweiten vorchristlichen Jahrhundert bis 1900, hat der Konfuzianismus Denken und Leben der Menschen im „Reich der Mitte“ bestimmt, und es ist unverkennbar, daß sich jene Weltanschauung heute mehr und mehr anschickt, das geistige Vakuum zu füllen, das der längst gescheiterte Marxismus hinterlassen hat – ja, die Herrschenden in Peking selbst stützen sich wieder auf die Überlieferung des ehrwürdigen „Meisters Kung“, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern.

Doch nicht nur in der Volksrepublik China, überall in Ostasien erlebt der Konfuzianismus – vielfältig modernisiert – schon seit Jahrzehnten eine erstaunliche Renaissance. Wie alles wahrhaft konservative Denken speist sich diese uralte Moral- und Staatslehre aus einem realistischen, weil skeptischen Menschenbild und beruht auf einer Weltsicht, die zum Maßstab allen Handelns das macht, was ewig ist und ewig gilt – zumindest in der Theorie.

K’ung-fu-tze („Meister Kung“, latinisiert: Konfuzius) wurde 551 v. Chr. in Qufu in der heutigen Provinz Schandong geboren. Er wuchs in einer Zeit des politischen und geistigen Umbruchs auf: Das chinesische Feudalreich zerfiel und damit auch das religiöse und moralische Wertesystem. Um die Ordnung wiederherzustellen, bedurfte es Konfuzius zufolge zunächst der „Richtigstellung“ der verworrenen Begriffe und der Rückbesinnung auf die klassischen Tugenden. Da es ihm trotz aller Gelehrtheit nicht gelang, eine einflußreiche Position zu erringen, sammelte Meister Kung einen Kreis Getreuer um sich, begab sich für den Rest seines Lebens auf die Wanderschaft und unterrichtete rund 3.000 Schüler, bis er 479 v. Chr. in seinem Geburtsort Qufu starb.

Die Lehren, die er hinterließ, wurden von seinen Schülern später schriftlich niedergelegt, von der Han-Dynastie zur Staatsdoktrin erklärt und bildeten bis ins 20. Jahrhundert hinein für Volk und Herrscher eine Art moralisches Gesetzbuch. Ausgangspunkt ist die seit Jahrhunderten überlieferte Himmelsreligion: Der Himmel ist für Konfuzius kein willkürlich waltender göttlicher Tyrann, sondern die Verkörperung einer Gesetzmäßigkeit; der Himmel handelt nicht eigenmächtig, sondern nach dem ewigen Weltgesetz, dem tao. Genauso, wie am Himmel Sonne, Mond und Sterne gesetzmäßig laufen, muß sich auf der Erde auch der Mensch im Rahmen des Weltgesetzes bewegen und darf nicht gegen das tao verstoßen.

Der Herrscher, so fordert Konfuzius, soll nicht aktiv in die Tagespolitik eingreifen, sondern im Idealfall wie der Himmel allein durch sein Vorbild wirken. Das gewöhnliche Volk aber muß laut Konfuzius dazu erzogen werden, zwischenmenschliche Konflikte zu vermeiden, um die Weltharmonie nicht zu verletzen. Zusammen mit der Oberschicht der Beamtengelehrten hat der Herrscher daher die Pflicht, diese Erziehung vorzunehmen. Der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen zählt somit zu den wichtigsten Wertvorstellungen des Konfuzianismus.

Wie alles wahrhaft konservative Denken speist sich die Moral- und Staatslehre des Konfuzius aus einem realistischen, weil skeptischen Menschenbild und beruht auf einer Weltsicht, die zum Maßstab allen Handelns das macht, was ewig ist und ewig gilt.

Ebenso grundlegend ist das Prinzip der Ungleichheit der Menschen hinsichtlich ihrer sozialen Stellung. Aus dieser Erkenntnis leiten die Konfuzianer drei Pflichten ab: die Loyalität, die Verehrung der Eltern und Ahnen sowie die Wahrung von Anstand und Sitte. Die Pflichten sind in den hierarchischen „fünf Beziehungen“ zu erfüllen. So muß der Sohn dem Vater gehorchen, die Frau dem Mann, der jüngere Bruder dem älteren und der Freund dem Freund. Das letzte Glied in dieser Kette sozialer Bindungen ist das Verhältnis von Herrscher zu Untertan, das der Beziehung zwischen Vater und Sohn entspricht. Der Herrscher seinerseits steht zum Himmel im Sohnverhältnis.

Religion, Familiensystem und Staat verschmelzen im Konfuzianismus somit zu einer Einheit, die indes nur dann gewährleistet ist, wenn sich jeder an seine Pflichten hält. Eine derart herbeigeführte Ordnung bedeutet für den einzelnen vor allem Sicherheit. Daß diese soziale Sicherheit wichtiger ist als individuelle Freiheit, ist das dritte Grundprinzip des Konfuzianismus, das im Menschenrechtsdialog mit dem Westen immer wieder zu Reibereien führt.

Konfuzius zufolge garantieren die Kardinaltugenden „Gehorsam“ und „Menschlichkeit“ das Gedeihen der sozialen Beziehungen. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ – diese Goldene Regel, die im Westen seit dem 18. Jahrhundert als das Grundgesetz aufgeklärter Moral gilt, geht auf Meister Kung zurück, dessen Lehre auch einen revolutionären Aspekt beinhaltet: Herrschaft legitimiere sich nicht durch Abstammung, sondern durch die Befolgung moralischer Gebote. Werde gegen jene Grundregeln verstoßen und gerate dadurch nicht nur der politische Kosmos, sondern auch die Natur in Unordnung – dann, so Konfuzius, könne der „Himmel“ dem Herrscher sein Mandat entziehen.

Die letzten Kaiser der mandschurischen Ching-Dynastie hatten jenes Mandat Mitte des 19. Jahrhunderts ganz offensichtlich verloren: Politische Mißwirtschaft und Volksaufstände kennzeichneten den Niedergang des Reiches. Europäische Kolonialmächte drangen in das seit Jahrhunderten abgeschottete Land ein, das nun erstmals zur Kenntnis nehmen mußte, daß es den Anschluß an die Moderne längst verpaßt hatte. Obwohl die Chinesen einst Schießpulver und Kompaß, Porzellan, Papier und den Druck mit beweglichen Lettern erfunden hatten, war das Reich der Mitte geistig erstarrt und den „Barbaren“ aus Übersee in allen Belangen hoffnungslos unterlegen. Der Schock saß so tief, daß es mehr als hundert Jahre gedauert hat, bis der Minderwertigkeitskomplex einem neuen Nationalstolz gewichen ist, der 2008 in der Ausrichtung der Olympischen Spiele in Peking einen vorläufigen Höhepunkt fand.

Damals jedoch, 1898, hatte Kaiser Kuang-hsü gehofft, das Blatt noch einmal wenden zu können. Durch die „Reform der 100 Tage“ sollte China nach dem Vorbild Japans auf allen Gebieten modernisiert werden. Doch reaktionäre Kreise, allen voran die Kaiserin-Witwe Ci-xi, unterdrückten die Bewegung und entmachteten den Herrscher. Unterdessen wuchs im Land die fremdenfeindliche Stimmung, denn mittlerweile hatten Rußland, Japan, die USA und die europäischen Mächte China unter sich aufgeteilt und ihm einen halbkolonialen Status aufgezwungen.

Zu jener Zeit gründete in Tokio der Arzt Sun Yat-sen den Chinesischen Revolutionsbund. Diese Organisation war der Vorläufer der Nationalen Volkspartei (Kuomintang) und aus dem Zusammenschluß mehrerer Geheimgesellschaften hervorgegangen, die unter den damals in großer Zahl zum Studium moderner Wissenschaft und Technik nach Japan und Europa gehenden jungen Chinesen viele Anhänger fanden. Ziel war es, das monarchische Herrschaftssystem durch ein demokratisch-republikanisches zu ersetzen und umfassende Sozial- und Wirtschaftsreformen einzuleiten. Nach mehreren gescheiterten Putschversuchen war die Revolution 1912 erfolgreich: Die Mandschus dankten ab, Sun Yat-sen proklamierte die Republik China – der auf eine mehr als zweitausendjährige Geschichte zurückblickende konfuzianische Staat war zusammengebrochen.

Zwei Fragen waren es, die das Land fortan bewegten: Welche Ursachen hatte der Kollaps? Wie kann China die Katastrophe überwinden? Die meisten Intellektuellen gaben dem Konfuzianismus die Schuld; er sei reaktionär, habe das geistige Leben in Dogmen und Riten erstickt und müsse daher völlig ausgeschaltet werden. Fast alle sahen die Rettung in einer Verwestlichung, wobei die USA als großes Vorbild galten. Nur ein kleiner Kreis, zu dem auch Mao Zedong gehörte, setzte auf den Marxismus, der zu jener Zeit in China noch weitgehend unbekannt war. 1921 gehörte Mao zu den zwölf Gründungsmitgliedern der KP.

Die Republik stand damals auf äußerst schwachen Füßen: In nahezu pausenlosen Bürgerkriegen verwüsteten Militärgouverneure („warlords“) die Provinzen; die von der Kuomintang geführte Regierung war durch den Kampf gegen die imperialistischen Mächte zu geschwächt, um das Land zu einen. Anfangs hatten Nationalisten und Kommunisten zusammengearbeitet, doch 1927 kam es zum Bruch: Generalissimus Tschiang Kai-schek unterdrückte die Arbeiterbewegung und ließ Jagd auf ihre Funktionäre machen. Die unter der Kontrolle Moskaus stehende KP-Führung, gebunden an das Dogma vom Primat der Arbeiterklasse bei der Revolution, verlor zusehends an Einfluß.

Mao hingegen war zu der Überzeugung gelangt, die Revolution könne nur Erfolg haben, wenn sie sich auf die von Warlords, Beamten und Großgrundbesitzern unterdrückten und ausgebeuteten Bauern stützte, die fast 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten. In der südlichen Provinz Kiangsi gründete er gegen den Willen Stalins und der Komintern einen kleinen Sowjetstaat und baute eine Bauernarmee auf, die mehreren „Ausrottungs- und Vernichtungsfeldzügen“ der Kuomintang standhielt. Schließlich jedoch mußte sie nach Nordchina fliehen. Von dort setzte sie als „Volksbefreiungsarmee“ den Kampf fort, bis es ihr nach mehr als einem Jahrzehnt gelang, ganz China zu erobern.

Das Grab Meister Kungs wurde aufwendig restauriert, längst blüht auch überall in China wieder der Ahnenkult. Bildungsbeflissenheit, Leistungsethos, Disziplin, Fleiß und kindlicher Gehorsam gelten erneut als selbstverständliche Tugenden.

Von 1949 bis zu seinem Tod im Jahr 1976 prägte vornehmlich Mao Zedong die Entwicklung der von ihm proklamierten Volksrepublik. Sein Vorbild war Chin Shi Huang-di, der „Gelbe Kaiser“, der um 220 v. Chr. das Reich geeint und mit dem Bau der Großen Mauer begonnen hatte. Noch bedeutsamer für Mao war, daß jener Herrscher die Schriften des Konfuzius hatte verbrennen und konfuzianische Gelehrte lebendig hatte begraben lassen. Schließlich sahen auch Mao und seine Genossen im Konfuzianismus das grundlegende Übel. Eine ihrer ersten Maßnahmen war daher neben der Bodenreform die Verabschiedung eines neuen Ehegesetzes, das die Frauen aus der Vormundschaft der Männer befreite und ihnen die Gleichberechtigung sicherte.

Doch Maos Politik war zu sprunghaft, zu brutal und zu rigoros – sie führte zu Mißernten und Hungerkatastrophen, die Millionen von Opfern forderten. Um seine innerparteilichen Gegner auszuschalten, entfesselte er 1966 die Kulturrevolution. Da sich auch nach dem Umsturz der Gesellschaft immer wieder neue Eliten und Hierarchien bilden, glaubte Mao, mit einer „permanenten Revolution in Etappen“ dieses Gesetz der Natur außer Kraft setzen zu können. Er rief die Roten Garden zum Kampf gegen „die vier Alten“ auf: gegen die alten Ideen, die alte Kultur, die alten Sitten und Gebräuche. Diesem monströsen Wüten fielen Zehntausende Menschen zum Opfer, geistig und materiell wurde das Land um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Erst unter Deng Xiaoping, zwei Jahre nach Maos Tod und dem Sturz der ultralinken „Viererbande“ um dessen Witwe, kam China wieder zur Ruhe. Deng leitete 1978 die Öffnungspolitik ein und legte den Grundstein für den „Sozialismus chinesischer Prägung“, der im Grunde ein autoritärer, aber überaus erfolgreicher Staatskapitalismus ist. Da der Marxismus jegliche Glaubwürdigkeit verloren hat, rehabilitierten Dengs Nachfolger den Konfuzianismus. Schon bald nach der Kulturrevolution wurde in Qufu das Grab des Meisters Kung aufwendig restauriert. Es ist heute ein beliebter Pilgerort. Längst blüht auch überall im Land wieder der Ahnenkult. Bildungsbeflissenheit, Leistungsethos, Disziplin, Fleiß und kindlicher Gehorsam gelten erneut als selbstverständliche Tugenden. Und die Regierenden werden nicht müde, angesichts des grassierenden Materialismus, der wachsenden sozialen Ungleichheit und der ökologischen Schäden das Volk im Geist des Konfuzius aufzurufen, nach „Harmonie“ sowohl in der Gesellschaft als auch zwischen Mensch und Natur zu streben.

 

Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über „Soziale Gerechtigkeit“: „Unterwegs nach Utopia“ (JF 44/08)

Foto:  Chinesen beim morgendlichen Tai Chi, Schanghai: Angesichts des grassierenden Materialismus, der sozialen Ungleichheit und der ökologischen Schäden rufen die Regierenden das Volk im Geist des Konfuzius auf, nach Harmonie sowohl in der Gesellschaft als auch zwischen Mensch und Natur zu streben

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