© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/09 17. April 2009

Ethnische Säuberungen als Staatsräson
Die Vertreibung von weit über einer halben Million Ukrainer aus dem Nachkriegspolen ist bis heute in Warschau ein Tabu
Lubomir T. Winnik

Eine Welle der Empörung ging im Sommer 2008 durch die polnischen Medien wegen drei kleinen Holzkreuzen, die im Wald des Bieszczaden-Gebirges an der Grenze zur Ukraine entdeckt wurden. Unbekannte sollen diese Kreuze für gefallene Partisanen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) aufgestellt haben. Die UPA kämpfte gegen „alle Besetzer der ukrainischen Gebiete“ für einen unabhängigen Staat. Doch keines der Nachbarvölker, die das Land unter sich teilten – darunter auch Polen –, war damit einverstanden. Die unliebsame Bandera-Bewegung wurde vom Gegner propagandistisch kriminalisiert, der Kollaboration mit den Deutschen und diverser Kriegsverbrechen bezichtigt oder als gewöhnliche Killerbande kriminalisiert. In der heutigen Ukraine sind polnische Gräber, welche die Sowjetrussen zerstört hatten, neu errichtet worden, unter ihnen der Militärfriedhof der „Jungen Adler“ in Lemberg. Er entstand 1919 im Zuge des Krieges um Lemberg zwischen Polen und Ukrainer. Daß der Monumentalkomplex in der Ukraine nach 1991 wiederaufgebaut werden konnte, erachtet man in Polen für legitim.

Dabei war es diese UPA, die als Vorwand genommen wurde, ein Volk aus seiner Heimat zu vertreiben. Mit fünf Millionen Menschen war die ukrainische Minderheit die größte in Vorkriegspolen. Infolge der „Westverschiebung“ nach dem Zweiten Weltkrieg blieben in seinen östlichen und südöstlichen Gebieten – von der Größe 19.500 Quadratkilometer – weiterhin beinahe eine Million Ukrainer übrig, die hier seit Jahrhunderten ansässig waren. Am 9. September 1944 wurde in Lublin vom polnischen kommunistischen Komitee der Nationalen Wiedergeburt und der Sowjetischen Republik Ukraine – beide keine Subjekte des Völkerrechts – ein Abkommen unterzeichnet, welches einen „Austausch“, de facto die Aussiedlung der Polen aus den ehemaligen Ostgebieten ins „neue Polen“ und umgekehrt beinhaltete, nämlich die dort verbliebenen Ukrainer in die Sowjet-ukraine zu deportieren.

Da fast niemand den Propagandaversprechungen einer rosigen Zukunft im Osten geglaubt hatte, fehlte es an Ausreisewilligen. So wurden im Herbst 1945 in die ukrainisch-ethnischen Gebiete polnische „Hilfsmittel“ abkommandiert: drei Infanteriedivisionen der Polnischen Volksarmee (LWP), Polizeieinheiten der MO, Sicherheitsdiensteinheiten der UBP, Polizeireserveeinheiten der ORMO, Bauernbataillone (BCh) und andere paramilitärische Gruppierungen.

Begleitet von massiver antiukrainischer Haßkampagne schritt die gewaltige Streitmacht gegen die Zivilbevölkerung auf. Der Historiker A. Lipkan, Professor für Geschichte an der Technischen Hochschule von Kiew, beschreibt die Anfänge des polnischen „Überzeugungserfolgs“: „Im Dorf Piskorowyczi wurden 720 Menschen getötet, im Dorf Pawliwka 365, im Dorf Malkowyczi 140, im Dorf Wilszany 18. Vollständig wurden verbrannt die Dörfer Sawadka mit 32 Toten sowie Kalnycia mit 20 Toten.“ Am 22. August 1996 bezifferte der in Kiew tagende „Ukrainische Koordinierungsweltrat“ die Zahl der Zwangsdeportierten zwischen September 1945 und September 1946 auf 488.662 Personen.

Und doch wurde die Verdrängung der Ukrainer aus deren Stammregionen aus polnischer Sicht nur als Teilerfolg gewertet. Fast 200.000 lebten immer noch innerhalb des polnischen Staatsgebietes, während die Russen keine Ukrainer mehr „aufnehmen“ wollten. Im November 1946 legte der Generalstabschef Ostap Steca (selber ukrainischer Herrkunft) dem Parteichef und Minister für die Wiedergewonnenen Gebiete Władysław Gomułka einen Plan zur Lösung der ukrainischen Frage vor. Die Idee war, diese Volksgruppe, bei der „zukünftig nicht mit der Loyalität gegenüber dem Staat gerechnet werden“ könne, in die ehemaligen deutschen Ostgebiete zu verlegen. Um die Neuorganisierung der Ukrainer verhindern zu können, sollte man diese, so der Verteidigungsminister Michał Rola-Żymierski, „in einzelnen Familien zerstreut umsiedeln, wo sie sich schnell assimilieren werden“.

„Gefallen durch die Hand ukrainischer Faschisten“, verkündet das Epitaphium auf dem Grabmahl des Generals Karol Świerczewski, Mitglied der provisorischen Regierung, der am 28. März 1947 in einem UPA-Hinterhalt getötet wurde. Der Tod des ehemaligen Sowjetgenerals, der im Spanischen Bürgerkrieg die internationalen Brigaden kommandiert hatte und wegen seiner brutalen Repressalien gegen spanische Zivilisten als „Schlächter von Albacete“ berühmt wurde, nutzte Warschau zur Begründung einer kollektiven „Bestrafung“ aller in Polen ansässigen Ukrainer.

Schon einen Monat später, am 28. April 1947, begann die Aktion Weichsel. Sechs Divisionen der Polnischen Volksarmee, eine Panzerdivision und Polizeieinheiten umzingelten die ukrainischen Dörfer in den Kreisen Sanok, Lubaczów, Przemysl, Jarosław, Tomaszów, Lesko und Lublin. Die Opfer durften nur das mitnehmen, was sie tragen konnten. In bewachten Zügen waren sie  unter katastrophalen sanitären Bedingungen wochenlang unterwegs, ohne zu wissen, wohin die Fahrt ging. Diejenigen, die der Zusammenarbeit mit der UPA verdächtig waren oder aus den „Wiedergewonnenen Gebieten“ in die Heimat zurückflüchteten, wurden im ehemaligen Außenlager des KZ Auschwitz-Birkenau in Jaworzno eingesperrt.

Schätzungsweise 4.000 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, blieben dort bis 1949. Es war wie zu NS-Zeiten, erzählten die ehemaligen Gefangenen, nur die Krematorien waren außer Betrieb. Parallel zur Vertreibungsaktion der Bevölkerung lief eine militärische Operation zwecks Vernichtung der etwa 1.400 Mann zählenden UPA-Verbände. Allerdings standen deren Chancen schlecht auf einen Sieg gegen die 120.000 Mann starke polnische Armee, welche noch eine tschechische Gebirgsjägerbrigade und einige Infanteriedivisionen unterstützten. Die Operation endete am 12. August 1947 mit vollem Erfolg: Die östlichen und südöstlichen Gebieten Polens wurden von 150.000 Ukrainern vollständig gesäubert. Ein Anrecht auf die Rückkehr in ihre Heimat oder auf Entschädigung für konfisziertes Eigentum haben die Vertriebenen nie erhalten.

Die „Akcja Wisla“ wird in der polnischen Öffentlichkeit bis heute noch mehrheitlich als gerechter Abwehrkampf gegen die fremden, brutalen Bandera-Banditen verstanden. In Polen war das Wort „Ukrainer“ jahrzehntelang pauschal dem „Schlächter“ oder „Halsabschneider“ gleichgesetzt. Die Beschreibung der wahren oder vermeintlichen ukrainischen Greueltaten wird dagegen nach wie vor in unzähligen Büchern und Filmen hervorgehoben.

Als Eugeniusz Misiło, wissenschaftlicher Mitarbeiter des historischen Instituts an der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), 1993 seine profunde Dokumentation „Operation Weichsel“ veröffentlicht hatte, wurde er aus der PAN gefeuert. Zwar bedauerte der polnische Senat am 3. August 1990 die „Aktion Weichsel“. Die Mißbilligung des Sejm blieb aber bis heute aus. Noch circa 37.000 polnische Bürger bezeichnen sich selbst als Ukrainer. Der Rest wurde assimiliert. Ein Zentrum gegen Vertreibung für die aus ihrer Heimat vertriebenen Ukrainer gibt es in Polen selbstverständlich ebenfalls nicht. Zu sehr würde die ukrainische Leidensgeschichte – wie auch die der deutschen Vertriebenen – den polnischen Opfermythos beschädigen.

Fotos:  Polnischer Milizionär überwacht 1945 „Lösung der ukrainischen Frage“: Jahrhundertealte Kultur, Polnische Miliz vor Vertreibungstreck: „Überzeugungserfolg“

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