© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/09 10. April 2009

Im Speicher der Erinnerung
Graben ohne Spaten: Klaus Garber war unterwegs in Königsbergs versunkener Bildungslandschaft
Claus Rathgeb

Wäre Königsberg Troja, hätte es in Klaus Garber seinen Heinrich Schliemann gefunden. Aber die Hauptstadt Ostpreußens kann im Gegensatz zu Homers Mythenort nicht mehr ausgegraben werden. Ihr historischer Kern, das „alte Königsberg“, das Garber in seinem neuesten Buch zu entdecken verspricht, ist Ende August 1944 im Bombenregen zweier britischer Terrorangriffe untergegangen. Die Reste von Ground Zero am Pregel entsorgten später die sowjetischen Besatzer.

Trotzdem ist der Vergleich mit Schliemann nicht unzulässig. Denn dort hinein, wo nach Sprengung und Abräumung (1968) alles planiert, die Vergangenheit der östlichsten deutschen Großstadt rückstandslos getilgt war, projiziert der emeritierte Osnabrücker Germanist seine imaginäre Topographie der Königsberger Bildungslandschaft. Hier ist eine Grabung auch ohne Spaten möglich. Garber geht es um die geistigen Schatzkammern der Stadt, Museen, Archive, Bibliotheken, Sammlungen. Ihre in alle Winde verstreuten Überbleibsel vornehmlich in polnischen, russischen und litauischen Institutionen aufzuspüren, hat sich der Spezialist für frühneuzeitliche Literaturgeschichte seit zwei Jahrzehnten zur Aufgabe gemacht. Mit reichlich „Drittmitteln“ versorgt, ist Garber auf der Spur Königsberger Bücher und Handschriften bis nach Sibirien gereist.

Fündig geworden ist er vor allem aber in nächster Nachbarschaft, in Thorn, einem – wie Garber dies völkerrechtlich durchaus falsch formuliert –„Sammelbecken herrenloser deutscher Bücher“, wo er 4.700 Bände aus der Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek entdeckte. Oder in Warschau, dem „Nachkriegszentrum“ für die, wie es vernebelnd heißt, „Entgegennahme“ von Bibliotheksbeständen des deutschen Ostens, wurde der Schatzsucher bereits 1979 fündig: 8.000 Bände der Königsberger Stadtbibliothek lagern dort, darunter viel kostbares Kleinschrifttum aus dem 17. Jahrhundert. Diesem Zeitalter des Barock, Simon Dachs und der Poeterey der „Kürbishütte“ widmet Garber neben seiner zentralen Studie zur Vermessung der Bildungswelt ein eigenes Kapitel, ebenso der „Frömmigkeit und Geistigkeit“ der Reformationszeit unter der Herrschaft des so kunstsinnigen wie bibliophilen Herzogs Albrecht sowie dem „großen Jahrhundert“ der Stadt, der Aufklärungsepoche, die am Pregel mit den Titanen Hamann, Kant und Herder gleich drei ihrer „Überwinder“ hervorbringt.

Doch in diesen kultur- und literarhistorischen Kapiteln kann sich Garber auf beachtliche Vorarbeiten stützen, hier bleibt darum vieles Referat und Resümee, oft „keinerlei forscherliches Neuland erschließend“, wie er mit einer Verbeugung vor Fritz Gauses monumentaler Stadtgeschichte (1965–1971) selbst einräumt. Ein Alleinstellungsmerkmal erringt er nur mit seinen Rekonstruktionen der „Speicher der Erinnerung“ wie Stadtarchiv oder Universitätsbibliothek, deren Geschichte bis 1945 keinen Chronisten mehr gefunden hat. Hinzu kommen die liebevollen Porträts jener dii minores, die als Sammler oder schreibende „Wahrer und Mehrer der Überlieferung“ kräftig dabei mithalfen, die Speicher zu füllen: Michael Lilienthal (1686–1750) etwa, der landeskundliche Pionier mit seinem „Erleuterten Preußen“ (1724–1742), Daniel Heinrich Arnoldt (1706–1775), der Universitätshistoriker, oder Georg Christoph Pisanski (1725–1790), Verfasser einer postum veröffentlichten „Preußischen Litterärgeschichte“ (1791), die vollständig erst 1886 in den Druck ging. Den Kurländer August Seraphim oder den Bremer Christian Krollmann, die im 20. Jahrhundert Stadtbibliothek und das Königsberger Archiv leiteten, streift Garber nur kurz, der Prähistoriker Wilhelm Gaerte, seit 1924 zuständig für die vorgeschichtliche Sammlungen der Prussia-Gesellschaft, erhält einen Tritt, da angeblich „überzeugter Nazi“ und verantwortlich für die „bodenständig-völkische Ausrichtung“ eines „universal“ konzipierten Bestandes.

Solche Ausfälle enthüllen zugleich das Gesetz, dem Garbers Schatzsuche folgt. Sein Ehrgeiz ist es, Königsbergs „kulturelle Matrix im Kräftefeld des Ostseeraums“ freizulegen und dafür die Resultate seiner osteuropäischen Exkursionen in einer virtuellen „Dokumentation Königsberger Schrift- und Druckkultur“ zu vereinen: Traditionssicherung durch Digitalisierung. Er erhofft sich davon eine Wiedergewinnung der „Mittlerrolle“ Königsbergs, der „Brückenlandschaft“ Ostpreußen, die Freisetzung ihrer „lebendigen Energien“ für die Zukunft, im Zeichen der „Verständigung mit den russischen Menschen auf dem einstmals deutschen Boden“. Da er im 19. und 20. Jahrhundert überall „nationalistische“ Verengung wittert, ausgerechnet aber die von verheerenden Kriegen und Krisen geschüttelte Frühe Neuzeit als traditionswürdigen, weil multiethnisch vorbildlichen Referenzraum stark idealisiert, dürften von einem solchen jämmerlich surrogativen Konstrukt die prognostizierten „Energien“ schwerlich ausgehen. Überhaupt ist eine kulturelle Wiederbelebung Königsbergs gewiß nicht davon zu erwarten, daß, wie Garber mahnt, es als „verlorene Stadt im Bewußtsein der Deutschen haften bleibt“. Nichts ist schneller verweht als der Inhalt von „Bewußtsein“, zumal des kollektiven.

Eigentlich macht sich Garber diesbezüglich auch keine Illusionen, konzediert er doch soeben (FAZ vom 25. März 2009), daß von geretteten Büchern ohne „Bodenhaftung“ keine Impulse ausgingen, für die ihrer beraubten Deutschen nicht und für die Beutemacher schon gar nicht: „Ausgehoben und verpflanzt“, wie außer den Königsberger Rudimenten etwa die 200.000 Bände aus dem Japanischen Palais der Dresdner Landesbibliothek in St. Petersburg oder die Schätze der Berliner Staatsbibliothek in Krakau, könnten sie „in fremder Umgebung nur selten neue Wurzeln schlagen“. Nein, eine „Vergegenwärtigung“ und somit Fortsetzung der siebenhundertfünfzigjährigen Geschichte und Kultur Königsbergs ergäbe sich allein, horribile dictu, aus der Aufhebung des singulären Unrechts von Vertreibung, ethnischer Säuberung und Annexion. Alles andere sind Blätter im Sturm.

Klaus Garber: Das alte Königsberg. Erinnerungsbuch einer untergegangen Stadt, Böhlau Verlag, Köln 2008, gebunden, 343 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Blick auf die Königsberger Dominsel mit der Alten Universität und dem Dom: Kulturelle Matrix im Kräftefeld des Ostseeraums freilegen

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