© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/09 03. April 2009

Wirtschaftspolitik
Klotzen, nicht kleckern
von Wolfgang Klauder

Die internationale Finanzmarktkrise hat die Welt in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt. Gegen den enormen Nachfrageausfall werden weltweit massive und schnell wirkende Konjunkturprogramme als das Gebot der Stunde angesehen. Auch Deutschland hat schon zwei Konjunkturprogramme (0,5 Prozent + 2 x 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts per anno) auf den Weg gebracht. Angesichts bereits hoher Staatsschulden stoßen solche Programme jedoch hierzulande verbreitet auf großes Unbehagen. „Wer soll diese Schulden bezahlen?“ fragte zum Beispiel die JUNGE FREIHEIT (6/09). Zudem war Nachfragepolitik im Verlauf der siebziger Jahre immer mehr in den Ruf einer schuldenmehrenden Strohfeuer-Maßnahme geraten und seit den achtziger Jahren fast vollständig von der einzelwirtschaftlich orientierten Angebotspolitik verdrängt worden.

Seitdem wurde die hohe Staatsverschuldung oft als größtes und die Generationengerechtigkeit gefährdendes Problem bezeichnet. Soeben wurde daher auch beschlossen, strikte „Schuldenbremsen“ in das Grundgesetz aufzunehmen. Folgendes wird jedoch übersehen:

1. Die absolute Schuldenhöhe ist kein Maß für die Schuldenlast. Wie bei einem privaten Haushalt oder einem einzelnen Unternehmen kommt es auf die Relation zur Leistungsfähigkeit an, beim Staat also auf die Schuldenstandsquote am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Sie sänke zum Beispiel selbst bei einer Neuverschuldung von einem Prozentpunkt um zwei Prozentpunkte, wenn das Wirtschaftswachstum drei Prozent erreicht. Somit sind zur Haushaltskonsolidierung die Wirkung einer Sparpolitik auf das Wirtschaftswachstum und die einer Wachstumspolitik auf den Schuldenstand gegeneinander abzuwägen.

Auch die Belastung der nachfolgenden Generation hängt absolut und relativ vom Umfang des Wirtschaftswachstums und der damit einhergehenden Änderung der Schuldenstandsquote und der Einkommen ab. Wird versucht, den Staatshaushalt – wie geschehen – durch einen Sparkurs bei Infrastruktur und Bildung auszugleichen, so kann das für die nachfolgende Generation qualitativ sogar eine weit größere Last darstellen als der Schuldendienst, können sie doch dadurch auch um zukünftige Wachstums- und Einkommenszuwächse gebracht werden. Denn das Qualifikationsniveau einer Bevölkerung ist von erheblicher Bedeutung für die Höhe des Wachstumspfades. Umgekehrt belastet ein dauerhaft ausgeglichener Haushalt die gegenwärtige Generation überproportional, die dann auch die Infrastruktur- und Bildungsausgaben alleine tragen muß, obgleich diese auch der nachfolgenden Generation zugute kommen.

2. Die in Deutschland verbreiteten Bedenken gegen eine Nachfragepolitik halten einer näheren Analyse nicht stand. Immerhin haben alle größeren Programme deutliche Wachstumsschübe ausgelöst. Die gegen die Rezession von 1967 eingesetzten zwei Investitionsprogramme (1,5 Prozent + 0,9 Prozent des BIP) leiteten sogar einen sechsjährigen kräftigen Wirtschaftsaufschwung ein und führten bereits 1969 wieder zu einem Budgetüberschuß. Und in der Rezession von 1974/75 gelang es, mit zwei Investitionsprogrammen (1,4 Prozent des BIP) und ähnlich hohen Steuersenkungen das Wachstum schon 1976 wieder auf über fünf Prozent zu steigern.

Schuldenmehrungen und „Strohfeuer“ entstanden erst durch die jeweils anschließenden Abweichungen vom Konzept der keynesianischen Nachfragepolitik. So wurde in den Boom-Jahren von 1970 bis 1973 auf die konzeptgerechte Konjunkturdämpfung mit Überschußbildung und Schuldenrückzahlung verzichtet und die Angebotsseite vernachlässigt. Statt dessen verteilte man angesichts voller Kassen Wohltaten, bis schließlich extreme Lohn- und Preissteigerungen die Notenbank zu einer harten Hochzinspolitik zwangen.

Umgekehrt wurden die expansiven Maßnahmen von 1974/1975 durch die sogenannte „Doppelstrategie“ einer zum Defizitabbau schon 1976 einsetzenden Sparpolitik unterlaufen. Der Aufschwung erschlaffte daraufhin, bevor er den Arbeitsmarkt erfaßt hatte, so daß 1977 und 1978 teuer nachgebessert werden mußte. Immerhin wurde aber dadurch bis 1980 der Beschäftigungseinbruch von 1974 bis 1976 fast ganz ausgeglichen. Wären nicht zwischen 1974 und 1980 in etwa gleichem Umfang geburtenstarke Jahrgänge und mehr Frauen ins Erwerbsleben geströmt, hätte 1980 wieder Vollbeschäftigung geherrscht. In der Rezession um 1982 schließlich übertrafen Ausgabenkürzungen und Steuer-erhöhungen das gleichzeitige Konjunkturprogramm sogar um ein Mehrfaches. „Redlich zwar, vergaßen sie nun aus lauter Angst die ganze Keynes’sche Lehre“, so Zeit-Verleger Gerd Bucerius 1982. Den gleichen Fehler einer allzu frühen Konsolidierungspolitik machte auch Japan gleich mehrmals seit den neunziger Jahren. Die Folge seiner Politik war ein seit 1992 im Schnitt kaum noch über ein Prozent per anno liegendes Wirtschaftswachstum und eine Schuldenexplosion.

3. Seltsamerweise wird in Deutschland kaum gesehen, daß andere Länder erhebliche wirtschafts-, beschäftigungs- und haushaltspolitische Erfolge einer pragmatischen Mischung aus Angebots- und Nachfragepolitik verdanken. Hierbei werden sowohl die längerfristigen angebotspolitischen Erfordernisse beachtet als auch die globale Nachfrage antizyklisch gestützt, letzteres zum einen passiv, indem mit der Konjunktur schwankende Staatseinnahmen und -ausgaben einschließlich der Sozialausgaben zugelassen werden, zum anderen aktiv mit zusätzlichen antizyklischen Maßnahmen.

So hatte in den Vereinigten Staaten Präsident Ronald Reagan bei seinem Amtsantritt zwar den Übergang zur deregulierenden Angebotspolitik verkündet. Als sich jedoch Rezessionen abzeichneten, kombinierten die Nordamerikaner jeweils sofort pragmatisch die Angebotspolitik mit einer massiven antizyklischen Nachfragepolitik. Die derzeitige Rezes-sion versuchen sie sogar mit dem größten Konjunktur-Programm seit den dreißiger Jahren zu überwinden (2 x 3 Prozent des BIP per anno). Allerdings sind seit der Bankenkrise die vorherige Billiggeldpolitik wie auch die Kreditfinanzierung des Irak-Kriegs, vor allem aber die mangelnde Regulierung des Finanzsektors als zu extrem umstritten.

Durch die antizyklische Politik ließen die USA, Großbritannien und Finnland die Defizitquoten 1992 und 1993 sogar auf sechs bis acht Prozent ansteigen. Diese Länder erlebten daraufhin – im Gegensatz zur Bundesrepublik – längere kräftige Aufschwungperioden von acht bis zehn Jahren und konnten ihre hohen Staatsdefizite schon in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in Überschüsse verwandeln und Schulden zurückzahlen. Im Jahre 2000 erreichten die Überschüsse in Finnland fast sieben Prozent des BIP, in Großbritannien immerhin noch beinahe vier Prozent und in den USA knapp zwei Prozent. Alle drei Länder konnten spätestens seit den neunziger Jahren im Schnitt ein deutlich höheres und länger anhaltendes Wirtschaftswachstum erzielen als Deutschland. Dank des hohen Wirtschaftswachstums konnten die USA die entscheidende Schuldenstandsquote von 1993 bis 2000 sogar um fast 20 Prozentpunkte senken.

4. Seit den achtziger Jahren wurde hierzulande jedoch immer häufiger das für einen Betrieb oder privaten Haushalt als richtig angesehene einzelwirtschaftliche, betriebswirtschaftliche Verhalten auch auf das gesamtstaatliche übertragen. Selbstverständlich sollten öffentliche Institutionen betriebswirtschaftlich effizient und sparsam wirtschaften. Dabei darf allerdings der „Mengen- und Kreislaufeffekt“ nicht übersehen werden: Wenn die meisten „öffentlichen Hände“ bei Ausgaben, Personalbestand und Einnahmen in gleicher Richtung handeln, so kann das bei der heutigen Staatsquote von fast 50 Prozent am Bruttoinlandsprodukt nicht ohne Auswirkungen auf Nachfrage und Wachstum in der Gesamtwirtschaft bleiben.

Reagiert der Staat folglich bei schwächelnder Wirtschaft auf die dann flauen Einnahmen zum Defizitausgleich überwiegend mit Einsparungen und somit sinkender Staatsnachfrage oder mit Steuererhöhungen und damit sinkender privater Nachfrage, so muß das eine Flaute wegen der zusätzlich verringerten Nachfrage in der Regel verstärken und verlängern, außerdem wegen der dann weiter sinkenden Staatseinnahmen auch die beabsichtigte Haushaltskonsolidierung zumindest verzögern, wenn nicht sogar umkehren. Wenn umgekehrt die in einem Aufschwung sprudelnden Steuereinnahmen zu Mehrausgaben und Steuersenkungen verleiten, so kann dies schließlich zur rascheren Überhitzung der Konjunktur und frühzeitigen Bremsmaßnahmen führen.

Ein überwiegend musterhaftes hausväterliches Verhalten der öffentlichen Hände läuft somit ungewollt letztlich auf eine prozyklische Parallelpolitik des Staates hinaus – mit der Gefahr längerer und stärkerer Flauten sowie kürzerer und schwächerer Aufschwünge und damit einhergehenden Wachstums- und Beschäftigungsverlusten sowie Verzögerungen beim Abbau eines Staatsdefizits. Den gleichen Effekt werden die geplanten engen jährlichen Schuldenbremsen haben und üben tendenziell auch bereits die strikten Maastricht-Kriterien aus. Außerdem verzichtet der Staat damit weitgehend auf das einzige konjunkturpolitische Instrument, das ihm in einer Währungsunion noch verblieben ist.

Besonders krasse Beispiele für eine solche Parallelpolitik bieten hierzulande nicht nur die Weltwirtschaftskrise um 1930, sondern auch der Wiedervereinigungsboom um 1990, die Rezession um 1993 sowie die anschließende Sanierungs- und Reformpolitik. So hätten nachfragepolitisch zum einen die mitten in der westdeutschen Hochkonjunktur von 1990 begonnenen Transferzahlungen für die neuen Bundesländer trotz der vollen Staatskassen keinesfalls 1990 und 1991 zunächst kreditfinanziert werden dürfen. Dieses förderte die Konjunkturüberhitzung in Westdeutschland mit übermäßigem Preis- und Lohnanstieg, was wiederum die Bundesbank ab 1992 zu einem drastischen Bremskurs zwang. Zum anderen hätte nicht ausgerechnet erst in der Abschwungphase ab 1992 mit merkbaren Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen begonnen werden dürfen, die wiederum die Rezession verstärkten und schließlich Mitte der neunziger Jahre auch erheblich zum Erlahmen des Aufschwungs Ost beigetragen haben.

Ebenso dürften das ausgerechnet wiederum vor allem in Flautejahren, nämlich 2001 und 2002 wirksam werdende Haushaltssanierungsgesetz von 1999 sowie die zusätzlich bis 2005 im Zuge von Sozialreformen per Saldo eingeleiteten Ausgabenkürzungen mitverantwortlich sein für die fünfjährige Stagnationsphase von 2001 bis 2005. Es kann demzufolge nicht verwundern, daß sich in Deutschland seit den achtziger Jahren das Wirtschaftswachstum tendenziell immer mehr verlangsamt hat und das Land im internationalen Vergleich immer mehr zurückfiel.

Eine ernste Rezession kann – nach allen Erfahrungen – gesamtwirtschaftlich nur mit einer raschen und massiven offensiven Strategie für mehr Wirtschaftswachstum abgewehrt und überwunden werden, die „nicht kleckert, sondern klotzt“ (Franz Josef Strauß) und gegenwärtig auch möglichst international abgestimmt ist. Schwerpunkt müssen zukunftsträchtige Ausgaben und Investitionen sein, die schnell die Auftragsbücher füllen und zur Ausführung gelangen. Je unsicherer die Erwartungen, um so weniger können allein noch so sinnvolle Zins- und Steuersenkungen Bürger und Unternehmen bewegen, das Geld auch für Käufe auszugeben. Zu warnen ist vor einer Sparpolitik, bevor sich der Aufschwung gefestigt hat und Überschüsse entstehen. Denn der Schuldenanstieg während der sozial-liberalen Nachfragepolitik der Jahre 1970 bis 1982 ist nicht dem Konzept zuzuschreiben, sondern einer konzeptwidrigen antizyklischen Sparpolitik – die in der Aufschwungphase anfangs völlig fehlte –, außerdem der Vernachlässigung der Angebotsbedingungen, einer inadäquaten Lohnpolitik und dem damals starken Anstieg des Erwerbspersonenpotentials.

Die aus „hausväterlichem“ Denken und mangelndem Verständnis für gesamtwirtschaftliche Kreislaufzusammenhänge resultierende geringe Flexibilität der Maastricht-Kriterien, die seitdem zunehmende einseitige Fixierung auf jährlich ausgeglichene Haushalte und die dementsprechend bis vor kurzem vorherrschende konjunkturelle Parallelpolitik des Staates mit defensivem Sparen in der Flaute und mit Mehrausgaben und Steuersenkungen im Aufschwung hat dagegen die Konjunkturausschläge verstärkt und dadurch bereits viel Wachstum und Beschäftigung gekostet sowie die Haushaltskonsolidierung verzögert. Auch hierzulande muß es endlich zu einer pragmatischen offensiven Mischung aus differenzierter längerfristiger Angebotspolitik und mutiger globaler antizyklischer Nachfragepolitik für mehr Wirtschaftswachstum kommen. Denn mehr Wachstum ist der entscheidende Schlüssel auch für im mittelfristigen Durchschnitt solide Staatshaushalte mit akzeptabler, niedrigerer Schuldenstandsquote sowie für mehr Generationengerechtigkeit.

 

Dr. Wolfgang Klauder war Leitender Wissenschaftlicher Direktor und Bereichsleiter im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg und arbeitet heute als Freier Publizist. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er bereits „Auf dem Weg in die Einheitsmedizin“ (JF 21/07).

Foto: Staatliche Gelder für die Wirtschaftsförderung: Gegen den enormen Nachfrageausfall sind massive und schnell wirkende Konjunkturprogramme das Gebot der Stunde.

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