© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/09 03. April 2009

Man bestellt nach Gaumen
Ost-West-Einsichten: Zum 65. Geburtstag des Schriftstellers Christoph Hein
Thorsten Hinz

Der Umstand, daß Christoph Hein am 8. April 1944 in Heinzendorf in Niederschlesien geboren wurde, macht ihn für die Verfasser biographischer Annotionen regelmäßig zum letzten Vertreter der (erst nachträglich imaginierten) Schlesischen Dichterschule. Viel wichtiger ist hingegen, daß der studierte Philosoph unter den Schriftstellern der DDR zu den intellektuell anspruchsvollsten zählte.

In seiner von Albert Camus inspirierten Novelle „Der fremde Freund“ von 1982 (die ein Jahr später unter dem Titel „Drachenblut“ auch im Westen erschien) wird der entfremdete Mensch zum Anwendungs- und Widerlegungsfalls des real existierenden Sozialismus. Ein Topos, der 1989 im Roman „Der Tangospieler“ wiederholt und verstärkt wird. Er erzählt von einen Leipziger Universitätsdozenten, der als Student inhaftiert wurde, weil er auf dem Klavier ein staatskritisches Couplet begleitet hatte. Die Rolle des politisch Verfolgten aber ist ebenfalls nur eine Fremdzuschreibung, denn der Student war – wie einst Meursault, Camus’ „Fremder“, in die Rolle des Mörders – nur durch Zufall in die des Regimekritikers geraten.

Damit verbietet sich die Frage, ob und inwieweit Christoph Hein im Westen angekommen sei. Immerhin gehört er zu den wenigen DDR-Autoren, die sich im bundesdeutschen Literaturbetrieb auch mit neuen Werken behauptet haben. Er sei in der gesamtdeutschen literarischen Landschaft eine eigene und wichtige Stimme geblieben, hieß es beispielsweise bei der Verleihung des renommierten Schiller-Gedächtnis-Preises des Landes Baden-Württemberg im Herbst 2004. Besonders würdigte die Jury Heins damals erschienenen Roman „Landnahme“, in dem er die Geschichte des aus Schlesien vertriebenen Bernhard Haber über fünf Jahrzehnte hinweg bis in die Zeit nach der Wiedervereinigung erzählt. Die Frankfurter Rundschau nannte den Roman ein „Psychogramm einer zunächst noch diffusen, dann sich verhärtenden, schließlich überwundenen DDR“.

Kenner des Gesamtwerks aber werden seine Vor-Wende-Büchern allemal als zeitgemäßer empfinden. Der kleine SED-Funktionär aus dem Roman „Horns Ende“ (1987), der sein privates Glück für seinen politischen Glauben geopfert hat und nun in einem muffigen Altersheim seinen Lebensabend fristet – wer weiß denn, wieviel sein bitterer Schlußmonolog auch über den politischen Funktionär von heute verrät? Oder das Theaterstück „Die Ritter der Tafelrunde“, eine Allegorie auf das SED-Politbüro und der größte Bühnenerfolg des Jahres 1989. Den Gral haben sie nicht gefunden, den Glauben an sich selber verloren, vom Volk werden sie verachtet: Ist das nicht wie ein Abbild unserer Eliten im Angesicht der Finanzkrise?

Im Roman „Willenbrock“ (2000), fünf Jahre später von Andreas Dresen mit Axel Prahl in der Hauptrolle verfilmt, schlägt sich ein DDR-Ingenieur nach der Wiedervereinigung als Gebrauchtwagenhändler durch. Seine Geschäfte wickelt er nach Osteuropa ab. Er wird in seinem Haus überfallen, die Behörden können ihm nicht helfen, denn neben dem repressiven ist auch der behütende Staat verschwunden. Also lernt er die Pistole lieben, die ein russischer Geschäftspartner ihm überläßt: „Meine Smith&Wesson schützt mich besser als die Verfassung.“ Wo der Staat sich ohnmächtig zurückzieht, treten mafiotische Strukturen an seine Stelle: eine Erfahrung, die Gesamtdeutschland erst noch bevorsteht.

Hein hat eine Reihe gescheiter Essays (er schreibt: Essais) verfaßt. 1983 konstatierte er in dem Aufsatz „Linker Kolonialismus oder Der Wille zum Feuilleton“ den klinischen Tod der Westlinken, für die das politische Engagement eine feinere Form des Hedonismus ist: „Man bestellt nach Gaumen, und wechseln die Zeiten, läßt man sich eine neue Speisekarte kommen, ein neues Objekt für ein obskures Engagement.“ Den Intellektuellen in West und Ost bescheinigte er, sie hätten aufgehört zu arbeiten, hätten alles anarchistische, voluntaristische oder utopische Potential eingebüßt und begnügten sich mit der Rolle des Verwalters, der lediglich Erwartungsstrukturen bedient.

Ist es unhöflich, ihm an seinem 65. Geburtstag zu wünschen, er möchte für seine neuen Ost-West-Einsichten eine künstlerische Sprache finden, die der seiner früheren Bücher gleichkommt?

Foto: Christoph Hein: Von 1992 bis 2006 Mitherausgeber der linken Berliner Wochenzeitung Freitag, war er von 1998 bis 2000 auch erster Präsident des gesamtdeutsch vereinigten PEN-Clubs

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