© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/09 03. April 2009

„Den Kapitalismus moralisieren“
Frankreich: Weder die linke noch die rechte Opposition kann bislang von der Proteststimmung profitieren
Alain de Benoist

Obwohl nur noch etwa acht Prozent der Franzosen (bis in die achtziger Jahren waren es fast 40 Prozent) gewerkschaftlich organisiert sind, demonstrieren sie ständig. Daß Millionen Menschen auf die Straße gingen wie im Januar und jüngst im März geschehen, ist freilich lange nicht mehr vorgekommen. Indes finden die Franzosen in letzter Zeit immer wieder neue kleine und große Anlässe zum Protest: gegen die Reformen im Schulsystem, im Gesundheits- und Rentenwesen, gegen die steigende Arbeitslosigkeit und die sinkende Kaufkraft, gegen Standortverlagerungen und Fabrikschließungen. Im Moment jedoch demonstrieren sie vor allem – vielleicht zum allerersten Mal – gegen das Geldsystem als solches.

Vor einigen Monaten hieß es, die Forderungen der Bevölkerung ließen sich nicht erfüllen, weil „die Staatskassen leer sind“. Danach mußten die Menschen jedoch mit ansehen, wie der Staat plötzlich von irgendwoher Milliarden von Euro herbeizauberte, um die von den ersten Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise am stärksten gefährdeten Banken zu retten. Gleichzeitig bekamen sie zu hören, im Zuge der Krise hätten sich Hunderte Milliarden Euro oder Dollar in Schall und Rauch aufgelöst – Geldmengen, die jegliches Vorstellungsvermögen überschreiten.

Nun erleben immer mehr Bürger, wie ihre persönliche Lage sich verschlechtert, während die Gewinne der großen börsennotierten Unternehmen explodierten – und sich die Massenentlassungen häufen. Sie bekommen mit, wie die Großkonzerne und Banken einen Teil des Geldes, das sie vom Staat bekommen, sofort in Form von Boni, Aktienoptionen oder „goldenen Fallschirmen“ an ihre Führungskräfte weiterreichen.

Für George Orwell war der gewöhnliche Anstand (common decency) den unteren Volksschichten vorbehalten. Das Gegenteil von gewöhnlichem Anstand ist öffentliche Unanständigkeit. Die Zurschaustellung des Reichtums bei den einen, die zunehmend prekäre wirtschaftliche Lage der anderen sind Zeichen einer Unanständigkeit, die nicht länger hingenommen wird.

Unlängst diagnostizierte der Politologe Alain-Gérard Slama, aus der Trotzgesellschaft sei mittlerweile eine gleichgültige Gesellschaft geworden. Das stimmt so nicht. Der Trotz, der Widerstand ist immer noch da: Noch nie gab das Volk den Eliten seine Ablehnung so deutlich zu spüren wie heute. Die Gleichgültigkeit hingegen ist der Wut gewichen: Die Franzosen können sich nicht länger mit den Gegebenheiten abfinden. Nicht Neid ist es, der sie motiviert, sondern Abscheu.

Für ihre Unzufriedenheit gibt es handfeste, objektive Gründe. Innerhalb der vergangenen sieben Monate verzeichnete Frankreich einen Anstieg der Arbeitslosenzahl um 375.000 Menschen, allein im Januar kamen 90.200 hinzu, im Februar noch einmal 80.000. Insgesamt haben derzeit knapp 2,5 Millionen Franzosen keine Beschäftigung, eine weitere Million geht geringbezahlten und unsicheren Minijobs nach.

2008 sank zum ersten Mal seit dreißig Jahren die Summe des vererbten Vermögens. Speziell die untere Mittelschicht – dazu zählt etwa die Hälfte der Franzosen – ist vom sozialen Abstieg bedroht, was bedeutet, daß immer mehr Menschen schlechter gestellt sind als ihre eigenen Eltern. Früher verhielt es sich im Regelfall umgekehrt. Im Frankreich des 21. Jahrhunderts sind ein Viertel der Söhne und ein Drittel der Töchter höherer Führungskräfte in niederen Positionen angestellt oder beschäftigt. Um diese relative Verarmung auszugleichen, haben die Haushalte sich durch Kreditaufnahmen überschuldet. Heute bleibt ihnen nicht einmal diese Möglichkeit.

Die Last der „lebensnotwendigen“ (Miete, Strom, Telefon etc.) oder „unumgänglichen“ Ausgaben (Ernährung, Verkehrsmittel, Gesundheitsfürsorge, Bildung) hat sich seit 1979 im Vergleich zu den nicht-lebensnotwendigen Ausgaben für Hobbies, Kleidung, Haushaltsgeräte, Sparrücklagen quasi verdoppelt. Die ärmsten Haushalte verwenden darauf fast 90 Prozent ihres verfügbaren Einkommens, die Mittelschicht laut aktuellen Erhebungen noch 80 Prozent.

Vor allem die Mieten sind stärker gestiegen als die Inflation, während jeder zweite Franzose weniger als 1.600 Euro im Monat verdient. Die „soziale Frage“ stellt sich somit nicht mehr nur an der Peripherie, sondern mitten im Herzen der Gesellschaft. Die Finanzkrise hat unübersehbar die Realwirtschaft in Mitleidenschaft gezogen.

Bemerkenswerterweise profitiert die Opposition von diesem Verdruß nur in sehr geringfügigem Maß. Die im Parlament vertretenen und in Paris sowie einigen Regionen regierenden Sozialisten (PS) haben sich unter Martine Aubry durch ihre parteiinternen Streitereien und durch das Fehlen eines Alternativprogramms diskreditiert. Die traditionelle Kommunistische Partei (PCF) ist auf eine Splitterpartei reduziert und existiert praktisch nur noch als Phantom. Bei den Europawahlen muß die PCF gemeinsam mit der neuen Linkspartei (PG) der PS-Dissidenten Jean-Luc Mélenchon und Marc Dolez antreten, um überhaupt eine Chance zu haben. Ähnlich ergeht es den Grünen und anderen linken Abspaltungen.

Hingegen hat sich der frühere Sprecher und Präsidentschaftskandidat der trotzkistischen Kleinstpartei Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), Olivier Besancenot, eine Medienpräsenz verschafft, die den 34jährigen studierten Historiker bei den „Bobos“, den alternativ angehauchten Jungwählern der „bürgerlichen Boheme“, sehr beliebt macht. Ansonsten hat seine im Februar gegründete Neue Antikapitalistische Partei (NPA) bislang keines ihrer vollmundig verkündeten Ziele erreichen können.

Besancenot, der als Briefträger bei der französischen Post angestellt ist, schimpft zwar auf die „Arbeitgeber“, hütet sich aber davor, ihnen vorzuwerfen, daß sie die Einwanderung als Reservearmee benutzen, um die Löhne und Gehälter nach unten zu treiben. Sämtliche Umfragen zeigen, daß die unteren Bevölkerungsschichten, und erst recht die „sozial Abgestiegenen“, am ehesten zu den populistischen Rechtsparteien neigen. Freilich sind die Souveränisten gespalten, und der Front National (FN) des 80jährigen Jean-Marie Le Pen scheint nach mehreren Wahlniederlagen im Endstadium seiner Existenz als Partei.

Angesichts dieser Unruhen, die ihm Angst einjagen, weil er eine drohende Radikalisierung befürchtet, will Staatspräsident Nicolas Sarkozy nun „den Kapitalismus moralisieren“, ihm also Beschränkungen auferlegen. Wie aber kann man einem System Beschränkungen auferlegen, das ebendiese seiner Definition nach ausschließt, wie schon Karl Marx wußte? Der Kapitalismus entfaltet sich in der Grenzenlosigkeit, und das Gesetz des Profits kennt nur eine Regel: immer mehr! Der „moralische Kapitalismus“ ist ein Oxymoron.

Zum ganz großen Bruch ist es bislang nicht gekommen, aber er könnte durchaus noch bevorstehen. Der Umgang der globalen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger mit der Krise, als sei das weltweite Finanzsystem lediglich einer schnell behebbaren Panne zum Opfer gefallen, zeigt, daß sie ihren historischen und systemischen Charakter vollkommen verkennen.

Die Weltwirtschaft befindet sich inzwischen in Rezession (im vierten Trimester 2008 ist das Bruttoinlandsprodukt in den USA und Europa um sechs Prozent, in Deutschland um acht Prozent, in Japan um zwölf und in Südkorea um zwanzig Prozent zurückgegangen). Diese Rezession wird mit einiger Wahrscheinlichkeit in einer Depression münden. Das US-Bankwesen ist bereits zahlungsunfähig. Überall werden massenhaft Arbeitsplätze vernichtet, was zunehmend politische und soziale Unruhen zur Folge haben wird, zudem droht eine Hyperinflation.

Doch die Machthaber verhalten sich weiterhin wie brandstiftende Feuerwehrleute. Im Vorfeld des G20-Gipfels, der jetzt in London beginnt, hat man von ihnen Verurteilungen des „Protektionismus“ vernommen, während EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte, vor allem dürfe „nicht von der Globalisierung abgelassen werden“. Unter solchen Voraussetzungen kann wohl kaum eine „neue globale Finanzarchitektur“ entstehen, wie sie sich Sarkozy und Angela Merkel wünschen. Die USA wollen ein Belebungsprogramm auf den Weg bringen, das darin besteht, die enorme Schuldenlast, die sie angehäuft haben, auf den Rest der Welt zu verteilen. Sie werden sich allen Regulierungsversuchen widersetzen. Manche Beobachter prophezeien, daß es bereits 2010 zu einem Zusammenbruch des globalen Währungssystems und infolgedessen zu einer schweren geopolitischen Verwerfung kommen könnte.

Foto: Protestkundgebung in Paris: Viele vom sozialen Abstieg bedroht

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