© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/09 03. April 2009

„Moralischer Tsunami“
Israel: Zahlreiche Berichte über rigoroses Vorgehen im Gaza-Krieg haben eine Diskussion über den Zustand der Streitkräfte ausgelöst
Günther Deschner

Es war reiner Mord!“ Mit diesen Worten charakterisierte ein israelischer Infanterist seinen Einsatz während der dreiwöchigen Offensive der israelischen Armee im Gaza-Streifen vom Januar dieses Jahres. Soldaten hätten dabei wahllos auf wehrlose Zivilisten geschossen, leichtfertig Menschen getötet, in palästinensischen Wohnungen Akte des „Vandalismus“ begangen und vorsätzlich Eigentum zerstört. In einzelnen Fällen seien auch Kinder als „menschliche Schutzschilde“ mißbraucht worden.

Die Vorfälle wurden bekannt, nachdem Soldaten in einem Seminar der Jitzak-Rabin-Militärakademie in Tivon ihre Erfahrungen während des Gaza-Einsatzes geschildert hatten. Es habe „lockere Regeln“ gegeben, berichtete etwa ein Infanterieunteroffizier, die es erlaubt hätten, Häuser unter Einsatz von Feuer zu räumen, ohne zuvor die Bewohner zu warnen. „Wenn wir ein Haus stürmten, mußten wir die Tür eintreten und sofort auf alle Personen schießen, die wir vorfanden.“

Ein anderer Seminarteilnehmer berichtete von einem Befehl, eine ältere Palästinenserin zu erschießen, die in etwa hundert Meter Entfernung von einer israelischen Stellung auf der Straße ging. Er sprach in diesem Zusammenhang von „kaltblütigem Mord“. Ein weiterer Zeuge erzählte, wie ein Scharfschütze eine Mutter und ihre zwei Kinder erschoß, weil sie wegen eines Mißverständnisses versehentlich eine falsche Straßenabbiegung nahmen. „Ich glaube nicht, daß er sich besonders schlecht fühlte, weil er aus seiner Sicht nur nach seinen Vorschriften handelte.“

Insgesamt habe der Eindruck vorgeherrscht, „daß das Leben von Palästinensern sehr, sehr viel weniger wichtig ist als das Leben unserer Soldaten“, sagte er. Beim Stürmen von Häusern, in denen sich Zivilisten aufhielten, hätten Soldaten häufig wahllos und ohne Vorwarnung um sich geschossen.

„Die Vorgesetzten sagten uns, dies sei in Ordnung, weil jeder, der dageblieben ist, ein Terrorist ist“, erzählte einer der Soldaten. „Ich habe das nicht verstanden – wohin hätten sie denn fliehen sollen?“ Andere Soldaten hätten sogar gesagt, man müsse alle töten, „weil jeder, der sich noch in Gaza aufhält, ein Terrorist ist“, wurde aus dem Tivon-Seminar zitiert. „Wir können noch so oft sagen, daß die israelische Armee moralisch überlegen ist, aber im Feld ist das einfach nicht so.“

Die Protokolle des Seminars, das bereits im Februar stattfand, wurden von der Seminarleitung in der zweiten Märzhälfte in einem Informationsblatt für Absolventen der Akademie veröffentlicht. Kurz danach zitierte die liberale israelische Zeitung Haaretz erste Ausschnitte daraus. Der Leiter der Akademie, Danny Samir, sagte über die Aussagen während der Veranstaltung: „Für uns war das ein totaler Schock.“

Die von der Militärakademie veröffentlichten Aussagen wurden in der Sache von einem UN-Bericht über Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Krieg ergänzt und bestätigt. Der 43seitige Untersuchungsbericht dokumentiert unter anderem einen Vorfall, in dem israelische Soldaten einen 11jährigen palästinensischen Jungen gezwungen haben sollen, vor ihnen zu laufen, während sie in das Viertel Tell al-Halwa von Gaza vorrückten, von wo aus auf sie geschossen wurde. Zudem hätten sie das Kind gezwungen, vor ihnen in ein Haus zu gehen, aus dem sie feindlichen Beschuß erwarteten. Die UN-Gesandte zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten, Radhika Coomaraswamy, stellte den Bericht, in dem auch Menschenrechtsverletzungen seitens der radikalen Hamas erwähnt werden, Ende März in Genf vor. Die diplomatische Vertretung Israels in Genf erklärte dazu, die Vorwürfe würden geprüft.

Parallel zu diesen Vorgängen wurden weitere Vorfälle bekannt, die die vom sozialdemokratischen Verteidigungsminister Ehud Barak unbeirrt wiederholte Aussage, die israelischen Streitkräfte seien „die moralisch vorbildlichste Armee der Welt“, nicht bestätigen. Haaretz und andere Blätter berichteten von einem weiteren Skandal und veröffentlichten Fotos von T-Shirts „für Scharfschützen“ mit menschenverachtenden Aufdrucken, die sich Soldaten zum Abschluß ihrer Grundausbildung bestellten. Zu sehen ist darauf beispielsweise eine schwangere arabische Frau, auf dem Bauch eine Zielscheibe und der englische Schriftzug: „Ein Schuß – zwei Treffer!“

Im Zuge der Diskussion darüber, daß israelische Soldaten strukturell übermäßige Gewalt gegen palästinensische Zivilisten angewandt haben, machte die New York Times in einem prominent aufgemachten Artikel auch auf den wachsenden Einfluß religiöser Eiferer aus der extremistischen Siedlerbewegung aufmerksam. Soldaten hätten über radikale Botschaften des Militär-Rabbinats berichtet. Die Zeitung zitiert daraus: „Wir sind das jüdische Volk, Gott hat uns zurückgebracht, und jetzt müssen wir die Nichtjuden bekämpfen, die uns bei der Eroberung unseres heiligen Landes stören.“ Die israelische Organisation „Rabbiner für Menschenrechte“ hingegen nannte die Vorfälle einen „moralischen Tsunami“ und rief zur nationalen Trauer und Buße auf.

Foto: Israelische Soldaten, makabres T-Shirt: Aufruf zu Trauer und Buße

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