© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/09 27. März 2009

Viel Talent, ein wunderbares Herz
... nur schade um den schwachen Geist: Nikolai Gogol begründete den Ruhm der russischen Literatur im Ausland
Wolfgang Saur

Nikolai Gogol, vor zweihundert Jahren geboren, zählt zu den großen Vertretern des „goldenen Zeitalters“ russischer Dichtung – eine eminente Figur der Weltliteratur. Die russische Kunstprosa setzt ein mit seiner Feder. Gilt Alexander Puschkin den Russen als Zentralgestirn ihres Literaturkosmos, hat erst mit Gogol russische Literatur auch im Ausland breit gewirkt. So werden seine dramatische Satire des „Revisor“ (1836), sein tragikomischer Roman „Die toten Seelen“ (1842) oder die Groteske vom „Mantel“ (1843) bis heute in aller Welt nachgedruckt und gelesen. Seine Ausstrahlung bis in die surreale Moderne ist unabsehbar. Dostojewskij bekannte einst: „Wir alle kommen aus Gogols Mantel.“

Trotz dieser mächtigen Rezeption ist es nicht leicht, Gogols Person und Kunstwollen freizulegen. So provozierten Biographie und Werk diametral gegensätzliche Einschätzungen. Manches klärt ein Wort Tolstois, der nicht zu Unrecht sagt, Gogol sei „ein enormes Talent“, habe ein „wunderbares Herz“, aber einen „schwachen (…) schüchternen Geist“. Seiner Sensibilität fiel es schwer, die eigenen, disparaten Anlagen konstruktiv zu vereinen und sich die Kräfte der Zeit nutzbar zu machen. Er schrieb hochkarätige Texte, deren Kunst und Wirklichkeitsgehalt ins Auge springen. Seine intellektuelle Persönlichkeit freilich erscheint als Gestalt des Übergangs, schwer faßbar. Seltsam schillert sie zwischen romantischer und realistischer Ästhetik, Westlern und Slawophilen, Staatstreue und Sozialkritik, gesellschaftlichem Aufbruch und Stagnation, frommer Innerlichkeit und politischer Reform.

Geboren wird er 1809 als Sohn eines kleinen Gutsbesitzers in der Ukraine, zwischen Kiew und Charkow. Auf dem Internat erwirbt sich der kontaktarme Außenseiter die Zuneigung der Kameraden durch skurrile Pantomimen. 1828 geht er nach Petersburg und publiziert dort erste Texte. Gogol wird Kanzlist, seit 1831 Geschichtslehrer, erhält vorübergehend (1834/35) sogar eine Universitätsprofessur. Bei seinem Antritt spricht er über das Mittelalter, „das Herzstück der Geschichte“. Doch fehlt ihm – intellektuell wie pädagogisch – die Befähigung zum Gelehrten, das akademische Amt bleibt Episode. So verlegt er sich aufs literarische Schreiben, reist viel im Ausland, wo bedeutende Werke entstehen, so die „Toten Seelen“ in Paris.

In Moskau gewinnt er neue Freunde, darunter die Familie Aksakow, die eine zentrale Rolle spielt in der slawophilen Bewegung. Seit Tschaadaews pessimistischem „Philosophischem Brief“ (1836), der Rußland jegliche Kulturbildung absprach, war der Streit zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“ entbrannt: ob nach dem rationalen Fortschrittsmodell die sozialen und politischen Institutionen des westlichen Liberalismus zu übernehmen waren, oder Rußland auf sein ureigenes Wesen, einen schöpferischen „Sonderweg“ verwiesen sei, dessen nationale Wurzeln in vorpetrinischer Zeit und ostkirchlicher Spiritualität lagen. Führten nun Gogols ethnographisch-patriotische Bestrebung und seine Altersfrömmigkeit zu den Slawophilen, nahmen die Westler sein Aufgreifen alltäglicher Themen und den neuartigen Realismus der Kunstmittel modernistisch wahr. Ihr Exponent war der Kritiker Wissarion Belinski, der die „natürliche Schule“ propagierte und Gogol zu ihrem Verkünder ausrief. Der kontaktierte also unterschiedliche Gruppen, die ihn je schätzten, doch auch verkannten. Vollends deutlich wird dies, als er sich 1847 zu Kirche, Autokratie, Gutsherrschaft bekennt (die er zuvor bloßstellte) und Reform nun individuell propagiert, als rein persönliche Wandlung. Dieser „Briefwechsel mit Freunden“ schockiert die Intellektuellenszene; Belinski sagt sich feierlich von ihm los. Der schwierige Charakter verzehrt sich nun in frommen Grübeleien. Zuletzt verbrennt er den zweiten Teil seines Hauptwerkes komplett. Am 21. Februar 1852 verstirbt Gogol in Moskau.

Dem Autor war es kein leichtes, seine paradoxe Struktur in Denken und Werk zur widerspruchsvollen Einheit zu fügen. Er durchlief drei Perioden – eine romantisch-folkloristische, eine realistisch-satirische, schließlich die Spätzeit eines gläubigen Spiritualismus – und zeigt seine komplexe Natur in allen literarischen Facetten.

Erfolg errang Gogol sogleich mit den Novellensammlungen „Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka“ (1831/32), „Mirgorod“ (1835) und „Arabesken“ (1835). In der Hauptstadt entsann er sich seiner ukrainischen Heimat und wandte sich – dem romantischen Zeitimpuls folgend – deren Geschichte und Folklore zu. Das ergab eine neue Erzählform, die verschiedene Stilebenen verschmolz. „Die Kombination einer (…) bisweilen derben Komödiantik mit lebendigen Dialogen, ukrainischem Lokalkolorit und märchenartiger Phantastik ergab eine ganz einmalige Mischung“, bei der  heitere Stimmung zunächst vorherrscht. Doch verdeckt sie nur „das gemeinsame Thema: den Einbruch dämonischer Mächte ins menschliche Leben“. (Rolf-Dietrich Keil)

Das Spektrum reichte von der subtilen Schilderung des banalen Idylls provinzialer Gutsherrlichkeit über die Fabelwelt der Gnome und Nixen bis zum historischen Großthema. Ein solches fand Gogol im nationalen Befreiungskampf der Saporoger Kosaken im 16. Jahrhundert. Beim episch aufwendigen Kurzroman „Taras Bulba“ (1835) verband er die packende Handlung mit einem heroischen Wertsystem, was die patriotische Funktion des Texts begründet und ihn zum eisernen Bestand russischer Schullektüre gemacht hat.

Vollendet erscheint die Satire in Gogols „Revisor“ (1836), mit dem er eine weltliterarisch brillante Komödie schuf. Ein abgebrannter Gauner kommt ahnungslos in eine Provinzstadt, die angstvoll des zaristischen Revisors harrt. Für diesen hält man irrtümlich Chlestakoff. Um Korruption und Mißwirtschaft zu vertuschen, biedern die Honoratioren sich ihm schamlos an. Der nutzt zynisch die Verwechslung und beutet den Opportunismus aus, sucht schließlich das Weite. Als der wirkliche Revisor eintrifft und das Satyrspiel sich blitzartig aufklärt, erstarren die Betroffenen auf der Szene. Die klaustrophobische Enge, das marionettenhafte Agieren der puppenhaften Figuren, der amoralische Blick – ohne Läuterung und versöhnliche Moral – waren unerhört und frappierten das Publikum.

Der satirische Blick wandelt sich zur Groteske in der berühmten Novelle „Der Mantel“ (1843), Teil der Petersburger Erzählungen mit urbanistischer Thematik. Mit hyperbolischen Stilmitteln werden hier modern anmutende Entfremdungserfahrungen pointiert. Die irrlichternde Dämonie weist auf E. T. A. Hoffmann zurück – und auf Kafka voraus. Kommt seine „Nase“ (1836) einem Beamten abhanden, was eine skurrile Verfolgungsjagd auslöst, so schildert „Der Mantel“ die demütige Weltsicht eines subalternen Kanzlisten: sozial ausgegrenzt, ums Existenzminimum ringend. Der Winter erzwingt den Kauf eines neuen Paletots. Das Kleidungsstück wird erzählerisch autonom: zum surrealen Exempel einer Personifizierung der Gegenstände und der Verdinglichung des Menschen in einer unzugänglichen Welt – Gogols poetischer Ausdruck fürs Leid der Namenlosen und seiner Kritik am monströsen Rangsystem.

Doch trog der „realistische“ Kurzschluß hier ebenso wie beim Hauptwerk „Die toten Seelen“ (1842). Der Abenteurer Tschitschikow durchreist die Provinz und sucht Gutsbesitzer auf zwecks Ankauf ihrer abgelebten „Seelen“. Im System der Leibeigenschaft (bis 1861), in dem Bauern als bewegliches Eigentum und also veräußerbar galten, mußte der Grundherr diese versteuern. Die Verstorbenen waren erst bei der nächsten staatlichen Revision, oft Jahre später „abschreibbar“. Dreist sackt der zwielichtige „Held“ nun für wenige Kopeken Tote ein, mit der Absicht, seinen fiktiven Erwerb für reelles Gold bei der Landschaftsbank zu beleihen. Höchst aktuell spekuliert er also mit faulen Wertpapieren.

Man mag ihn einen „Bourgeois“ der Zukunft nennen. Doch zeichnet der Autor Geiz, Sentimentalität, Verwahrlosung der Provinzler ebenso mitleidlos: Sie verkaufen tote Namen als vermeintlich Lebende. So kehrt sich die Relation um. Gogol enthüllt das Grauenhafte, daß die Toten lebendiger und wahrer als die gespenstisch Lebenden sind – seelenlose Marionetten, deren Welt alptraumhaft erstarrt ist.

Nach dem Vorbild von Dantes „Göttlicher Komödie“ war dieses Werk der „Hölle“ nur als erster Teil einer Trilogie konzipiert. „Läuterung“ und „Paradies“ sollten als idealer Part folgen. An ihm scheiterte der große Autor, dessen singuläres Talent die bizarre Sicht einer verkehrten Welt offenbart hatte.

Fotos:  Wladimir Jegorowitsch Makowskij, Bankenkrach (Öl auf Leinwand, 1880): Gogol weist auf E. T. A. Hoffmann zurück, auf Kafka voraus,  Nikolai Gogol (1809–1852)

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