© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/09 20. März 2009

Artikel 146 Grundgesetz
Die fehlende Beteiligung des Volkes
von Jochen Theurer

Bei all dem Lob und der Anerkennung, die sich das Grundgesetz in den letzten 60 Jahren als „beste Verfassung, die wir Deutschen je hatten“, redlich verdient hat, wird oft übersehen, daß seine Entstehung wenig demokratisch war. Weder die Teilnehmer des Herrenchiemseer Konvents, die 1948 wichtige Vorarbeiten leisteten, noch die Mitglieder des Parlamentarischen Rats, die den Textentwurf in seine endgültige Fassung brachten, waren demokratisch gewählt. Zwar mußten zum Inkrafttreten des Grundgesetzes mindestens zwei Drittel der Länderparlamente zustimmen, doch war bei keiner der 1946/47 stattfindenden Landtagswahlen absehbar gewesen, daß die Abgeordneten 1949 über eine gesamtstaatliche Verfassung entscheiden würden. Sie hatten daher keine entsprechende Vollmacht und waren nicht legitimiert, die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes auszuüben. Hinzu kommt, daß die Alliierten dem Parlamentarischen Rat inhaltliche Vorgaben machten und das Inkrafttreten des Grundgesetzes von ihrer Genehmigung abhängig war.

Der Parlamentarische Rat war sich dieser Defizite bewußt. Carlo Schmid, der Vorsitzende des Hauptausschusses, erklärte freimütig, daß eine Verfassung, die ein anderer zu genehmigen hat, „ein Stück Politik des Genehmigungsberechtigten, aber kein reiner Ausfluß der Volkssouveränität des Genehmigungspflichtigen“ und der Parlamentarische Rat daher nicht imstande sei, „eine deutsche Verfassung im vollen Sinne des Wortes zu schaffen“ (Parlamentarischer Rat, Stenographische Protokolle, 2. Sitzung am 8. September 1948; 9. Sitzung am 6. Mai 1949). Das Grundgesetz sollte daher nur als Provisorium dienen, bis das deutsche Volk sich selbst seine endgültige Verfassung geben würde. Diese Absicht zeigt sich deutlich sowohl am Anfang – in der Präambel hieß es ursprünglich „für eine Übergangszeit“ – als auch am Ende des Grundgesetzes. Artikel 146 enthält eine in der Verfassungsgeschichte bislang einmalige Regelung und bestimmt, unter welchen Bedingungen das Grundgesetz zugunsten einer neuen Verfassung außer Kraft tritt.

Nach dem ursprünglichen Wortlaut mußte die neue Verfassung vom „gesamten deutschen Volk“, das heißt auch von den in der sowjetischen Besatzungszone lebenden Deutschen, beschlossen werden. In Verbindung mit Artikel 79 Absatz 3, wonach bestimmte Grundsätze durch Verfassungsänderungen nicht berührt werden dürfen, und den Verfassungsschutznormen kam so klar zum Ausdruck, daß das Grundgesetz zwar bis zur Wiedervereinigung als die rechtliche Grundordnung Westdeutschlands gelten sollte. Danach sollte sich aber das geeinte deutsche Volk seine endgültige Verfassung selbst geben können.

Als 1990/91 vereinzelte Stimmen eine neue, gesamtdeutsche Verfassung forderten, waren die führenden Köpfe in Politik, Rechtswissenschaft und Medien jedoch bemüht, eine ernsthafte Verfassungsdiskussion erst gar nicht aufkommen zu lassen. Hierzu wurden der Öffentlichkeit in einer Flut von Aufsätzen, Interviews und Zeitungsartikeln immer wieder dieselben zwei Thesen präsentiert, warum eine neue Verfassung nun doch nicht möglich sei. Eine lesenswerte Zusammenstellung der wichtigsten Veröffentlichungen findet sich in Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, München 1991.

Vor allem der angesehene Verfassungsrechtler Josef Isensee behauptete unermüdlich, Artikel 146 habe nie die Funktion gehabt, ein – im übrigen auch gar nicht bestehendes – Legitimationsdefizit des Grundgesetzes zu beseitigen, sondern sei nur ein möglicher Weg zur Wiedervereinigung gewesen. Mit dem Beitritt der neuen Bundesländer nach Artikel 23 (ursprüngliche Fassung) habe Artikel 146 folglich jede Bedeutung verloren.

Ein solches Verständnis von Artikel 146 widerspricht jedoch allen anerkannten juristischen Auslegungsmethoden. Der Parlamentarische Rat hatte Artikel 146 primär zu dem Zweck geschaffen, das deutsche Volk gemäß dem Prinzip der Volkssouveränität selbst über seine Verfassung bestimmen zu lassen („inneres Selbstbestimmungsrecht“). Das Grundgesetz war nicht nur deshalb als Provisorium gedacht, weil es nur für einen Teil des deutschen Staatsgebiets Geltung erlangen konnte, sondern vor allem auch, weil es nicht in vollem Umfang dem freien Gestaltungswillen des deutschen Volkes entsprach. Carlo Schmid hatte während der Beratungen im Parlamentarischen Rat – ebenfalls nachzulesen in den Stenographischen Protokollen – ausdrücklich und unwidersprochen festgestellt, daß „selbst der Beitritt aller Länder“ Artikel 146 nicht überflüssig machen würde.

Die Legitimität einer Verfassung ergibt sich auch nicht allein aus ihrem Inhalt. In jedem anerkannten Verfahren legitimer Verfassunggebung kann das Volk mindestens einmal direkt seinen Willen äußern: entweder im Rahmen der Volksabstimmung über einen Verfassungsentwurf oder bei der Wahl der Abgeordneten einer verfassunggebenden Versammlung. Da die fehlende Beteiligung des deutschen Volkes durch die Wiedervereinigung nicht beseitigt wurde, ist die Möglichkeit einer späteren Verfassunggebung mit voller Legitimation durch das deutsche Volk nach wie vor sinnvoll.

Der Text von Artikel 146 enthält bezeichnenderweise auch keine Beschränkung auf den Fall der Wiedervereinigung. Daß Artikel 146 darüber hinaus Bedeutung hat, ergibt sich bereits aus dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990, der in Artikel 5 dem Gesetzgeber empfiehlt, sich binnen zwei Jahren „mit der Frage der Anwendung des Artikels 146“ zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht hat in bezug auf Artikel 146 ebenfalls unmißverständlich erklärt, daß nur eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung als endgültige Entscheidung über die staatliche Zukunft Deutschlands angesehen werde. Die Behauptung, Artikel 146 sei auf den Fall der Wiedervereinigung begrenzt, kann somit juristisch leicht widerlegt werden.

In der Folge kam dann die These auf, Artikel 146 habe zwar eine Ablösungsmöglichkeit enthalten, diese sei jedoch bereits „verbraucht“ – siehe zum Beispiel Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, Paragraph 166. Das westdeutsche „Teilvolk“ habe durch jahrzehntelanges Leben unter der Ordnung des Grundgesetzes dieses als seine Verfassung „tätig angenommen“, die Annahme des mitteldeutschen „Teilvolks“ sei in der Zustimmung seiner gewählten Vertreter zum Einigungsvertrag zu sehen.

Hierbei handelt es sich aber um eine bloße Fiktion. Artikel 146 verlangt demgegenüber einen „Beschluß“, das heißt eine bewußte Entscheidung. Keine der bisherigen Bundestagswahlen wurde im Vorfeld zu einer Abstimmung über das Grundgesetz stilisiert, und auch bei der Volkskammerwahl 1990 war nicht absehbar, daß das Grundgesetz zwingend die Verfassung des geeinten Deutschland sein würde. Zudem wäre es in Artikel 146 ausdrücklich erwähnt und im Parlamentarischen Rat ausführlich erörtert worden, wenn für einen Verbrauch der Ablösungsmöglichkeit die unbewußte Akzeptanz seitens der Menschen ausreichen sollte – entgegen dem auch 1949 allgemein anerkannten verfassungstheoretischen Grundsatz, wonach eine demokratische Verfassung nur legitim ist, wenn das Volk ausdrücklich an ihrer Entstehung beteiligt war.

Beides ist aber nicht der Fall. Das dem Grundgesetz zugrunde liegende Menschenbild, welches von der prinzipiellen Gleichheit und Freiheit aller Menschen ausgeht, spricht im Gegenteil gerade für eine unmittelbare und ausdrückliche Beteiligung des deutschen Volkes. Aus der Freiheit aller Menschen folgt, daß sich jeder grundsätzlich so verhalten kann, wie er möchte, aus der Gleichheit, daß grundsätzlich niemand die Freiheit eines anderen beschränken darf. Staatliche Herrschaft läßt sich deshalb nur dadurch legitimieren (= rechtfertigen), daß diejenigen, die unter der konstituierten Ordnung leben, diese so wollen, der Einschränkung also zustimmen. Artikel 20 Absatz 2 formuliert dieses Prinzip so: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Es genügt nicht, daß die Staatsgewalt im Interesse und zum Wohl des Volkes ausgeübt oder von den Bürgern „tätig angenommen“ wird. Das Volk muß bei Errichtung und Organisation der politischen Herrschaftsgewalt seinen zustimmenden Willen vielmehr ausdrücklich kundtun.

Eine „tätige Annahme“ würde zudem voraussetzen, daß sich die „tätig Annehmenden“ über die wesentlichen Inhalte der angenommenen Verfassung im klaren sind. Dies ist aber nicht der Fall. Der durchschnittliche Leser wird aus dem Wortlaut von Artikel 146 den Schluß ziehen, das deutsche Volk könne sich jederzeit eine neue Verfassung geben. Nach Ansicht derjenigen, die die Ablösungsmöglichkeit für verbraucht halten, hat Artikel 146 eine solche Bedeutung aber gerade nicht. Diese These ist daher irreführend und abzulehnen. Artikel 146 ermöglicht es nach wie vor, das Grundgesetz zu ersetzen.

Die neue Verfassung muß vom deutschen Volk beschlossen werden. Ebenso wie in Artikel 20 Absatz 2 ist hierunter das Staatsvolk zu verstehen, also die Summe aller deutschen Staatsangehörigen. Darüber, wie der Beschluß konkret erfolgen muß, sagt Artikel 146 nichts. Aus dem Zweck, den geordneten Übergang zu einer vom deutschen Volk legitimierten Verfassung zu schaffen, kann abgeleitet werden, daß nur solche Verfahren in Betracht kommen, die sicherstellen, daß erstens das deutsche Volk seinen Willen tatsächlich zum Ausdruck bringen kann, daß zweitens das Vorliegen eines Beschlusses unzweifelhaft nachgewiesen und drittens der Beschluß auf breiter Basis akzeptiert wird. Erforderlich ist somit ein Plebiszit oder die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung.

Um die Akzeptanz des Beschlusses sicherzustellen, sollten jedoch nur diejenigen Staatsbürger mitwirken, die eine entsprechende Einsichtsfähigkeit haben. Aus Praktikabilitäts- und Akzeptanzgründen sollte deshalb eine an die Strafmündigkeit angelehnte Altersgrenze von 14 Jahren gelten. Wer für sein Verhalten nicht strafrechtlich einzustehen hat, kann nicht in Anspruch nehmen, die Grundlagen der Rechtsordnung mitzubestimmen.

Artikel 146 gibt kein bestimmtes Quorum für den Beschluß vor, so daß die einfache Mehrheit genügt. Aus Artikel 29 Absatz 6, der bisherigen deutschen Verfassungspraxis und den Regelungen der einzelnen Landesverfassungen zu Volksentscheiden folgt aber, daß mindestens 50 Prozent der Abstimmungsberechtigten am Plebiszit bzw. der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung teilnehmen müssen. Nur so wird die spätere Akzeptanz der neuen Verfassung sichergestellt.

Der Beschluß könnte auch von privater Seite herbeigeführt werden. Anders als für Verfassungsänderungen bestimmt Artikel 146 nicht, daß Bundestag und Bundesrat bei der Ablösung des Grundgesetzes mitwirken müssen oder dürfen. Als verfaßte Gewalten haben sie per se nur die Kompetenzen, die ihnen das Grundgesetz ausdrücklich zuspricht. Dazu gehört die Mitwirkung am Beschluß im Sinne von Artikel 146 jedoch nicht.

Der Beschluß muß in freier Entscheidung erfolgen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts setzt dies voraus, daß sie frei von äußerem und innerem Zwang zustande kommt und ein „gewisser Mindeststandard freiheitlich-demokratischer Garantien“ gewahrt wird. Es muß sichergestellt sein, daß weder von privater noch von öffentlicher Seite auf die Willensbildung oder -äußerung unzulässiger Druck ausgeübt wird.

Die unzulässige Beeinflussung durch Privatpersonen kann mit Hilfe der bestehenden Rechtsordnung effektiv verhindert werden. Erheblich wahrscheinlicher ist aber, daß die verfaßten Staatsgewalten versuchen werden, einen von privater Seite organisierten Beschluß mittels der Verfassungsschutznormen (zum Beispiel Parteiverbot, Verwirkung von Grundrechten) oder des Straf- und Polizeirechts zu verhindern. Aus der Entstehungsgeschichte, der Systematik des Grundgesetzes und dem Zweck von Artikel 146 folgt jedoch, daß die Verfassungsschutznormen das Grundgesetz nur als Provisorium schützen und verhindern sollen, daß es auf eine von ihm selbst nicht vorgesehene, undemokratische Art und Weise abgelöst wird. Dabei geht es vor allem um die Sicherung von Struktur und Form des politischen Prozesses.

Voraussetzung für Sanktionen ist deshalb immer eine bestimmte Art und Weise des Vorgehens. Die Verfassungsschutznormen verlangen hierfür zumeist ein „aktiv-kämpferisches, aggressives Handeln“, die Staatsschutznormen des Strafgesetzbuches (zum Beispiel Hochverrat) setzen als qualifizierte Angriffsmittel Gewalt oder Drohung mit Gewalt voraus. Wer sich an der Durchführung des Beschlusses beteiligt und dabei keine Handlungen vornimmt, die aus dem Rahmen des bislang „politisch Üblichen“ fallen, hat nach der geltenden Rechtslage somit eigentlich keine staatlichen Sanktionen zu befürchten. Eine freie Entscheidung im Sinne von Artikel 146 ist daher – zumindest theoretisch – gewährleistet.

Ob die neue Verfassung inhaltlichen Bindungen – insbesondere Artikel 79 Absatz 3 („Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“) – unterliegt, ist zwar unter Juristen höchst umstritten, praktisch aber von geringer Relevanz. Die Plebiszite über die Europäische Verfassung und den Vertrag von Lissabon haben gezeigt, daß die Völker einem tendenziell undemokratischen System die Gefolgschaft verweigern. Eine Verfassung, die den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung widerspricht, wird im Rahmen von Artikel 146 folglich keine Chance haben. Unter den skizzierten Voraussetzungen ist die Inkraftsetzung einer neuen Verfassung somit nach wie vor möglich.

 

Jochen Theurer arbeitet als Rechtsanwalt in Stuttgart. Er hat in Tübingen und Dresden studiert und promoviert derzeit zu einem Thema über Artikel 146 Grundgesetz.

 

Wortlaut von Artikel 146: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ – Das Grundgesetz war nicht nur deshalb als Provisorium gedacht, weil es nur für einen Teil des deutschen Staatsgebiets Geltung erlangen konnte, sondern vor allem auch, weil es nicht in vollem Umfang dem freien Willen des deutschen Volkes entsprach.

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