© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/09 20. März 2009

Das gekränkte Ich
Amoklauf: Auch der asozialste Akt ist Teil der Gesellschaft, gegen die er sich richtet
Jost Bauch

Fassungslos steht man vor den Ereignissen in Winnenden. Man fragt sich, wie so etwas möglich ist, und findet doch keine Antwort. Das Ereignis „Amok“ ist zu singulär, um aus der Analyse der Serie Rückschlüsse auf den Einzelfall zu ermöglichen.

So spektakulär der Amoklauf im einzelnen ist und damit große öffentliche Aufmerksamkeit bindet, er bleibt ein äußerst selten auftretendes Ereignis: Die sogenannte Ein-Jahres-Prävalenz für Deutschland beträgt 0,03 bei Männern und 0,002 bei Frauen auf 100.000 Bundesbürger. Gleichwohl ist eine Häufung besonders beim „school-shooting“ in letzter Zeit gerade in den USA und der Bundesrepublik zu verzeichnen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rubriziert den Amoklauf unter die psychischen Störungen und definiert ihn „als eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd)zerstörerischen Verhaltens. Danach erfolgt eine Amnesie und/oder Erschöpfung. Häufig auch der Umschlag in selbst-zerstörerisches Verhalten, das heißt Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid.“

Erklärungsansätze für die Disposition zum Amoklauf gibt es viele: Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, narzißtische Kompensationen, Neurosen. Auch gibt es biologische Ansätze, die die Disposition zum Amoklauf auf ein Mangelsyndrom des Neurotransmitters Serotonin, eines wichtigen Botenstoffs für das Gefühlsleben, zurückführen.

Das Problem nun ist, daß alle diese Ansätze zu unspezifisch sind, um den Status eines Risikomarkers zu erreichen. Mögen beispielsweise depressive Episoden eine gewisse Rolle beim Amoklauf spielen, so kann man umgekehrt eben nicht vom Vorliegen von Depressionen auf eine Disposition zum Amoklauf schließen.

Fakt ist also, wir tappen weiterhin im dunklen, es gibt keine spezifische Prävention. Wie Thomas Schmid in der Welt am Sonntag schreibt, demütigt jeder Amoklauf den menschlichen Geist, weil dieser – rationalistisch eingeebnet – „weiße Flecken auf der Karte des irdischen Geschehens nur schwer ertragen kann“. Gerade weil das so ist, sucht man nach schnellen Erklärungsmustern und Lösungen, die sich allesamt als Verlegenheitsaktivitäten erweisen: Verschärfung des Waffengesetzes, Wachpersonal vor den Schulen, Metalldetektoren, mehr Personal. Der Deutsche Lehrerverband hat völlig zu Recht vor monokausalen Analysen und Patentrezepten gewarnt und fordert eine „Kultur des Hinschauens und Hinhörens“.

Aber reicht eine solche eingeforderte Empathie-Bereitschaft und der Ausbau der präventiven und reaktiven Gefahrenabwehr? Die Gefahr ist groß, daß dabei mögliche gesellschaftliche Zusammenhänge ausgeblendet werden und sich der öffentliche Diskurs auf Gefahrendetektierung und Gefahrenabwehr reduziert. Der singuläre Amoklauf sollte uns vielmehr Anlaß für die Frage sein, ob es nicht „gesellschaftliche Nährböden“ gibt, die auf subtile und indirekte Weise mit dem zunehmenden Hang zur Gewaltanwendung insbesondere männlicher Jugendlicher in Zusammenhang stehen.

Ein solcher Diskurs hätte zunächst die richtigen Fragen zu stellen, ohne gleich die richtigen Antworten parat zu haben. Vier Fragekomplexe drängen sich in diesem Zusammenhang auf:

1. Wir konstatieren ein zunehmendes „Sozialistationsdefizit“ der Familie. Im Verlaufe der gesellschaftlichen Entwicklung wurde die Familie „entfunktionalisiert“. Ihre Rolle beschränkt sich weitgehend auf die Erfüllung von Intimbedürfnissen und auf elementare Sozialistationsleistungen. Offenbar können auch diese von vielen Familien nicht mehr geleistet werden. Instanzen sekundärer Vergesellschaftung (Kindergärten, Schulen, Experten) springen in die Bresche und sind chronisch überfordert. In aller Deutlichkeit stellt sich die Frage, wie die Familie als elementare Sozialisationsinstanz revitalisiert werden kann.

2. Die Lebenswelten von Jugendlichen und Erwachsenen haben so gut wie keine Schnittmengen mehr. Jugendliche und Erwachsene leben weitgehend in unverbundenen „generationellen Parallelwelten“, Verständigung über diese Grenzen hinaus wird immer schwieriger. Die Eltern verstehen schlicht die Jugendlichen nicht mehr – und umgekehrt. Eine solche lebensweltliche Distanz zwischen den Generationen hat es bislang nicht gegeben. Die Frage nach den Ursachen einer solchen Entzerrung der Lebensräume muß gestellt werden. Und: Wie lassen sich wieder gemeinsame Schnittmengen und Brücken zwischen den Generationen aufbauen?

3. Das Konzept der durchgängig „feminisierten“ Pädagogik muß auf den Prüfstand. Viele Studien zeigen, daß Jungen anders erzogen werden müssen als Mädchen. Die Mädchen-Sozialisation wurde in der Pädagogik mehr oder weniger zur Norm für alle erklärt. Die Mädchen werden dabei stark gemacht, die Jungen „gedämpft“, sensibilisiert, vorwiegend auf kommunikative Fähigkeiten getrimmt. Doch gerade in der aufkeimenden Adoleszenz suchen Jungen körperliche Aktivität, Wettbewerb, Kräftemessen, Idole der Tapferkeit und Gerechtigkeit. Diese geschlechtsspezifische Konstante kann eben nicht weg-pädagogisiert werden. Da die Jungen für diese Bedürfnisse in der vorherrschenden Pädagogik keinen Anschluß finden (und damit die Chance vertan wird, diese Bedürfnisse durch Bearbeitung zu „zivilisieren“), greifen sie auf medial primitivisierte Ersatzangebote zurück, die dann in fataler Weise Vorbild für reales Verhalten werden können.

4. Auch die Rolle der Medien und der extensive Medienkonsum muß kritisch auf den Prüfstand gehoben werden. Zum einen bieten die Medien gerade den Amokläufern eine Plattform, der narzißtische Wunsch nach Berühmtheit durch die Tat wird vorweg-phantasiert und beflügelt die Handlung auch, wenn die öffentliche Wirkung post mortem für den Amokläufer naturgemäß unerfahrbar bleibt. Ohne Massenmedien entzöge man den Amokläufern ihr Publikum. Die Entrüstung und eilfertige Betroffenheit der Massenmedien ist eben nicht nur Reaktion auf die Tat, sie ist kalkulierter Bestandteil der Tat selbst.

Darüber hinaus verdichten sich die Hinweise, daß extensiver Medienkonsum (Fernsehen, Video- und Computerspiele, Internetnutzung) gerade bei Jugendlichen psychische Auswirkungen haben können. Der Psychologe und Kindertherapeut Wolfgang Bergmann betont in seinem Buch „Abschied vom Gewissen. Die Seele im digitalen Zeitalter“, daß intensive Internetnutzung bei Kindern das Über-Ich destruiert, weil Kommunikation auf kein personales Gegenüber trifft, das den Kommunikator in die Verantwortung zieht. Gleichzeitig wird das Ich durch eine „kalkulierte Repräsentanz meiner Selbst“ ersetzt.

Diese Selbstrepräsentanz in der virtuellen Welt des Cyberspace produziert eine andauernde narzißtische Kränkung, wenn sie auf die wirkliche Wirklichkeit trifft. Die Phantasie von der Rache an der Wirklichkeit, die die narzißtischen Wünsche nicht erfüllt, nimmt Gestalt an. Wenn Bergmanns Analysen zutreffen, dann finden wir hier ein Grundmuster, das sich auch in die psychische Befindlichkeit eines Amokläufers eingraviert haben mag. Allerdings gilt auch hier: Wir wissen es nicht, wir müssen spekulieren.

Alle vier angesprochenen Fragebereiche bilden eine Art Nährboden, ohne daraus solche Extremtaten erklären zu können, dazu müssen noch viele handlungsrelevante, situations- und persönlichkeitsspezifische Komponenten hinzukommen. Allerdings sind auch diese schrecklichen Einzeltaten Teil der Gesellschaft, in der und mit der wir leben. Auch der asozialste Akt ist sozial, er ist Teil der Gesellschaft, gegen die er sich richtet. So bleibt die Frage nach den möglichen gesellschaftlichen Verursachungszusammenhängen notwendig und berechtigt.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz.

Foto: Bild eines Opfers des Amokläufers inmitten von Kerzen und Blumen vor der Albertville-Realschule in Winnenden: Fassungslos

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen